Читать книгу Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann - Ece Temelkuran - Страница 10

5. Kapitel

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Dass wir uns ausziehen sollten, kam für Maryam und mich ziemlich unvorbereitet. Eigentlich hatten wir Amira nur vom Hamam abholen wollen. Doch sie behandelte uns wie europäische Touristinnen – »Ach, jetzt, wo ihr schon mal da seid … Das muss man einfach gesehen haben …« –, und so kämpften wir uns schließlich halb nackt, nur ein Tuch um die Hüften gewickelt, mit Waschschüsseln und Badesandalen bewaffnet, hustend und niesend durch den Wasserdampf zu einem der Marmorbecken durch und ließen uns nieder.

Maryam, angewidert von sämtlichen sichtbaren und unsichtbaren Partikelchen des Hamam-Universums, versuchte durch allerlei Verrenkungen den körperlichen Kontakt zu ihrer Umgebung auf ein Mindestmaß zu beschränken. Ich hatte während der drückenden Mittagsstunden Zeit zum Nachdenken gehabt und war dementsprechend schlechter Laune. Amira aber – irgendetwas war mit ihr – wuselte herum, als wolle sie sich so ihren Kummer von der Seele schütteln. Halblaut vor sich hin singend, tanzte sie theatralisch durch die Gegend. Maryam und mir war ihre gekünstelte Showeinlage so peinlich, dass wir unsere Blicke abwandten. Erst als sie einen Knicks machte und sagte: »Es sang für sie Amira – die Rose der Bühnen dieser Welt!«, mussten wir lachen.

Am Marmorbecken gegenüber saßen zwei etwa sechzigjährige Frauen und schütteten sich aus ihren Messingschüsseln Wasser über die Köpfe. Während sie darauf warteten, dass der Schmutz auf ihrer Haut aufquoll, unterhielten sie sich knarrend wie zwei alte Holzkähne. Von Zeit zu Zeit wischten sie sich gegenseitig über Arme und Beine, um die tote Haut zu entfernen. Das, worüber sie sprachen, schien sie zu bekümmern.

Auf der anderen Seite drei englische Touristinnen. Obwohl ihre Haut bereits die Farbe von Roter Bete angenommen hatte, hielten sie standhaft durch, um sich später, wenn sie die Qualen im Hamam als großes Ferienabenteuer weitererzählen würden, den Neid der Daheimgebliebenen auch verdient zu haben. Weil sie die Technik des richtigen Liegens aus genetischen Gründen nicht beherrschten, litten sie gemeinsam mit Maryam hier am meisten.

Am Marmorbecken schräg gegenüber posierten drei junge Frauen, die alles dafür taten, gesehen zu werden. Drei Tunesierinnen Anfang dreißig in Bikinis. So wie sie die Waschschüsseln hielten und sich ironisch distanziert das Wasser übergossen, unterstrichen sie dick und fett ihre Botschaft: »Wir sind nur zum Spaß hier.«

»Frauen ist ihre Herkunft selbst dann noch anzusehen, wenn sie nackt sind«, sagte ich zu Maryam. »Makellos reine Haut, perfekt enthaart, alles wohl proportioniert …« Maryam hatte inzwischen die Lippen fest zusammengepresst – vielleicht aus Angst, dass ihr die Bakterien in den Mund hüpfen könnten. Sie nickte zustimmend.

Ich fuhr fort, meine Aversion gegen die jungen Frauen zu theoretisieren. »Aber ein perfektes Äußeres macht noch lange kein Ganzes aus dir. Verstehst du?«

Amira begann rhythmisch auf ihre Waschschüssel zu trommeln. Der Countdown für eine neue Streiterei. »Was für arrogante Tussis da drüben! Tun so, als kämen sie aus der Schweiz. Was soll das Theater?«

Während sich die Frauen über die Badegepflogenheiten ihres Heimatlandes lustig machten und dabei mindestens zweimal pro Satz ins Französische fielen, erhob sich Amira, bereit zur Attacke. Ich hielt mich zurück, aber Maryam, deren Lähmung mit einem Mal wie weggeblasen war, sprang ebenfalls auf.

»Ach! Amira?«

Ihr Bikinioberteil zurechtzupfend, kam eine der jungen Frauen in ihren Flipflops heranstolziert. Dabei ließ sie es so aussehen, als hätte Amira sie zuerst begrüßt. Eines dieser heimtückischen Spielchen, die Frauen aus der Oberschicht so gut beherrschen. Sie gab Amira einen Kuss. »Chérie, gestern habe ich noch an dich gedacht! Du bist also zurück? Määädels! Amira ist wieder da.«

Maryam zögerte, ob sie sich zurückziehen sollte oder nicht. Die jungen Frauen hatten Amira umringt. Vielleicht lebte Amira das Leben an ihrer statt, während sie ihr dabei zusahen. Als wäre Amira eine Art Fernsehserie.

»Du warst also in den USA!?« »Ah, wie spannend!« »Wir haben deinen Blog gelesen! Du hast dich echt was getraut!« »Du musst viel durchgemacht haben, die Flucht und all das, furchtbar!« »Wir waren an dem Tag alle auf dem Kasbah-Platz. Schade, dass du nicht dabei warst, als die Revolution kam …« »Und, was hast du jetzt vor?« »Sie geht natürlich in die Politik, Schätzchen!« »Ich arbeite inzwischen für die Ettakatol-Partei. Komm doch zu uns.« »Ach, meine Süße, ihr seid doch viel zu gemäßigt für Amira!«

Maryam bäumte sich innerlich auf, sie war kurz davor loszuschlagen. Doch da wurde es verdächtig still. Amira sagte irgendetwas zu ihnen. Im Flüsterton, mit vielen Zischlauten. Aus dem breiten Grinsen in den Gesichtern der jungen Frauen wurde augenblicklich Origami. Was auch immer sie gesagt hatte – sie zog sich das Badetuch übers Dekolleté wie ein siegreicher Kommandant, die Nase hoch erhoben, und setzte sich wieder zu uns ans Marmorbecken. Dann goss sie – unter lautem »Oh!« und »Ah!« – einen Schwall eiskaltes Wasser nach dem anderen über ihre Brust. Die jungen Frauen staksten wie Dressurpferde zurück zu ihrem Becken, packten ihre Sachen und gingen.

»Ich weiß nicht, was du gemacht hast, aber du hast es gut gemacht!«, sagte ich.

»Ja, manchmal kann ich das«, sagte Amira. »Manchmal kann ich den Menschen in Erinnerung rufen, wer sie sind. Wenn ich das doch immer könnte …«

Als die Frauen gegangen waren, hörte sie auf mit ihren »Oh«s und »Ah«s. Während sie sich die tote Haut von den Beinen wusch, redete sie vor sich hin: »Das sind doch alles nur Touristen im eigenen Land. Die sind erst auf die Straße gegangen, als Ben Ali längst abgetreten war. Tun aber so, als hätten sie die Revolution selbst in die Wege geleitet. Plötzlich sind sie alle ganz heiß darauf, ihrer ›demokratischen Pflicht‹ nachzukommen. Weil sie ja so stolz darauf sind, Tunesierinnen zu sein, treten sie in Parteien ein und wollen etwas für das Land tun. Dabei können sie nicht mal arabisch schreiben. Die kennen ihre eigene Sprache nicht. Nur aus Angst vor der Scharia begeistern sie sich plötzlich für Politik.«

»Verrat uns lieber, was du ihnen zugeflüstert hast«, sagte Maryam.

»Ich habe ihnen gesagt, dass ich mit jedem ihrer Männer schon im Bett war.«

Wir starrten sie an, während sie sich, ohne aufzublicken, weiter mit Wasser übergoss.

»Das stimmt natürlich nicht, aber gesagt habe ich’s halt …«

Maryam wurde wütend. Wenn Amira respektiert werden und nicht nur als Frau wahrgenommen werden wollte, warum löste sie dann Probleme mit solch klischeehaft weiblichen Tricks? Das ging Maryam durch den Kopf, ich sah es ihr an.

»Wann reist du wieder ab?«, wandte sie sich an mich.

»Weiß ich noch nicht genau. In drei, vier Tagen.«

»Gut, dann lass uns gemeinsam zu Dido gehen, solange du noch hier bist. Nach Karthago. Du weißt doch: die Schrifttafeln, von denen ich dir erzählt habe.«

»Gern. Es könnte sogar sein …«

»Was könnte sein?«

»Dass ich sowieso wieder hierherkomme. Weil ich vielleicht einen Roman schreiben will. Ich glaube, es wäre ganz gut, wenn ich das täte. Etwas über Frauen …«

»Soso!«, sagte Amira und ließ sich wieder vom Leben verleiten. »Kommen wir auch darin vor?«

»Falls ja«, fiel Maryam ihr ins Wort, »dann ändere bitte meinen Namen.«

»Ihr glaubt also, dass ihr es verdient hättet, Romanheldinnen zu werden?«, frotzelte ich. »Dann will ich aber erst mal sehen, wie ihr euch so benehmt!«

Sie lachten. Was für ein unvergleichliches Gespann. Mal zwei Frauen, mal zwei Männer, dann wieder zwei Cowboys, Mann und Frau, Mutter und Tochter … Dabei war alles ganz anders, als es von außen betrachtet den Anschein hatte. Die, die Zuflucht suchte, erhielt die, die sie ihr gewährte, am Leben. Die, die aussah, als müsse sie beschützt werden, war im Grunde genommen viel stärker als ihre Beschützerin. Sie waren vielleicht nicht Thelma und Louise, aber solange ihn keiner schaute, hätten sie trotzdem einen guten Film abgegeben.

»Nennen würde ich den Roman zum Beispiel: Das Land der Ausgewanderten. Und ja, natürlich … Madame Lilla wäre die Hauptfigur. Etwas komplett Phantastisches.«

Dann ging es unter Gelächter, Wassergüssen und Hautabschälen weiter, die beiden legten jetzt richtig los.

»Madame Lillas Mutter wäre eine ganz außergewöhnliche Frau. Eine sehr fröhliche, sehr starke Frau«, sagte Amira.

»Sie würde auf einer Insel leben, wo es keine Männer gäbe.«

»Nein, besser auf einer Insel, auf der die Männer Frauennamen tragen.«

»Weil sie nämlich die Männer nicht in den Krieg schicken wollen.«

Ich fragte dazwischen: »In was für einen Krieg?«

»Auf dem Festland herrscht Krieg. Deshalb sind sie ja ausgewandert. Alle Feiglinge und Drückeberger haben sich auf der Insel versammelt. Deshalb lässt dort auch jeder den anderen in Ruhe«, antwortete Amira.

Maryam ergänzte: »Und Madame Lillas Filmfaible käme daher, dass ihr Großvater Regisseur wäre.«

»Jeder auf der Insel würde andauernd nur Videos gucken. Sie sind ja im Exil, also müssen sie sich ablenken.«

»Und deshalb – hört zu, jetzt kommt’s – deshalb wäre alles auf der Insel nach alten Filmen benannt. Zum Beispiel … Schönheitssalon Pretty Woman!«

Gelächter, prall wie knackige, melonengroße blaue Trauben, erfüllte das Hamam.

»Wartet! Ich hab’s! Der Kleine Horrorbioladen!«

»Metzgerei Kill Bill!«

Und schließlich fiel ich ein: »Herrenfriseur Short Cuts!«

So erschufen die beiden innerhalb einer halben Stunde vor meinen Augen eine Insel, die ganz mit Gelächter bewachsen war. Zwei Entdeckerinnen, die eine topographische Karte zeichneten und sich dabei die seltsamsten Dinge ausdachten.

»Ja, genau! Madame Lilla wäre eine Superheldin! Mit Strampelanzug und allem Pipapo!«

»Supermadame!«

Es wurde reichlich auf- und abgelacht. Besonders als Amira auf den Massagestein stieg, sich ein zweites Badetuch zum Umhang machte und die Bewegungen einer Superheldin nachahmte, die sich mit Hüftkraft fortbewegt.

»Ich glaube, die Jasminrevolution ist euch ein bisschen zu Kopf gestiegen. Superhelden!«, lachte ich.

Amira wurde augenblicklich ernst. »Sag bloß nicht Jasminrevolution, wie die Touristen es tun. Wir nennen sie al-Thawra al-Kibira – die große Revolution. Oder auch die Revolution der Menschenwürde. Das mit dem Jasmin haben sich die Franzosen ausgedacht.«

»Apropos Menschenwürde … Habt ihr mal die Verfilmung von Pygmalion gesehen? Aber ich meine die alte Version, nicht die mit Audrey Hepburn«, sagte ich.

Amira antwortete: »Also, ich bin auf der Seite von Gilda!«

»Herrgott, jetzt hör doch mal auf, ich meine doch etwas ganz anderes. Habt ihr sie gesehen oder nicht? Das Drehbuch ist von Bernard Shaw. In der Version mit Audrey Hepburn haben sie eine Szene ausgelassen. Da gibt es diesen englischen Professor, der dem Blumenmädchen das Sprechen beibringt. Der Vater des Mädchens kommt zu dem Professor nach Hause und verlangt Geld für seine Tochter. Fünf Pfund. ›Was bist du für ein Vater!‹, schimpft der Professor. ›Verkaufst mir deine eigene Tochter!‹ Da hält der Vater eine seltsame Rede. Über die Menschenwürde. Er sagt etwas wie: ›Ich bin ein armer Mann. Daher bin ich gegen alle moralischen Werte der Mittelschicht! Jederzeit!‹«

Maryam fragte: »Und was willst du uns jetzt damit sagen?«

»Dass das mit der Menschenwürde in euren Ländern ziemlich mittelschichtmäßig rüberkommen könnte. Ich meine, wenn die Menschen Hunger haben …«

»So ein Quatsch!« sagte Maryam bestimmt.

Damit war das Thema erledigt. Amira sagte mit einer ganz anderen Stimme: »Wie hieß Gilda gleich wieder in Wirklichkeit? Es gibt doch dieses Zitat von ihr, ungefähr so: ›Die Männer verlassen mich, weil sie nachts mit Gilda einschlafen und morgens mit … – und da sagt sie eben ihren richtigen Namen – aufwachen.‹ Wie hieß die Schauspielerin denn bloß?«

Auch Maryam kam nicht darauf. »Wartet!«, sagte Amira, der schon wieder der Schalk im Nacken saß. »Die da drüben gehören zur Sommerkinogeneration der Kolonialzeit, die wissen so was.«

»Verzeihung!«, rief sie den beiden Frauen zu, die uns gegenüber saßen. »Wie heißt diese Frau?« Sie erklomm den Massagestein, nahm Haltung an und begann zu singen: »Put the blame on Mame, boys! Put the blame on Mame!«

Sie riss sich das Badetuch vom Leib – eine gänzlich arabische Gilda!

Die Frauen freuten sich wie Dorfkinder, die einen Käufer für ihre Blumen gefunden haben und sich von ihm fotografieren lassen. Sie klatschten in die Hände und sangen mit. Lachten zahnlos. Am Ende rief eine der beiden: »Rita Hayworth! Gott hab sie selig!«

»Ach ja, natürlich!«, sagte Amira und kehrte zu uns zurück. »Auf ihrer Seite bin ich!«

Amiras Wangen waren knallrot vor Hitze und Anstrengung. Ich sah, wie Maryam sie anschaute. Sie schaute, als wollte sie alle Männer töten, die nachts mit Gilda einschliefen und sich morgens schnell verdrückten, wenn sie neben Rita erwachten.

Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann

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