Читать книгу Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann - Ece Temelkuran - Страница 11

6. Kapitel

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Königin Dido (Elissa)

»Dido? Also, ich bin auf der Seite von Al-Kahina!«, lachte Amira und verabschiedete sich mit den Worten: »Wir sehen uns heute Abend bei Madame Lilla!« Maryam und ich blieben im Café L’Univers auf der Avenue Habib Bourguiba sitzen, einem mit Männern überfüllten Verschnitt der Champs-Élysées im Zentrum von Tunis.

»Wer ist diese Al-Kahina?«, fragte ich Maryam. »Eine von Didos Töchtern«, antwortete sie. »Allerdings nicht ihre richtige Tochter. Auch wenn ich das immer geglaubt habe. Aber wie gut kennst du Didos Geschichte überhaupt?«

»Na ja, auf Touristenniveau, würde ich sagen.«

»Das reicht. Dido ist die junge Königin des phönizischen Königreichs Tyron im Südlibanon. Aber ihr Bruder tötet ihren Ehemann und plant, auch Dido umzubringen. Da hat sie einen Traum, der sie warnt. Also hisst sie die Segel und nimmt so viel Gold mit, wie in die Haut eines Stiers passt. Zwar dürfte sie meiner Meinung nach auch noch ein paar andere Dinge eingepackt haben, aber was soll’s … Sie sticht also in See und landet an der tunesischen Küste. In Karthago. Anschließend …«

So angenehm anstrengend es mit Amira war, so beruhigend wirkte Maryam auf mich, dachte ich, während ich ihr eher zusah als zuhörte. Während Amira einem die beschützende Mutterrolle aufzwang, wie ein Kind, das man mit der Schere in der Hand davonrennen sieht, fühlte man sich Maryam dermaßen unterlegen, dass man neben ihr selbst zum Kind werden konnte.

»… und sie sagen zu ihr: ›Das könnt Ihr nicht kaufen, Herrin‹.«

»Was kann sie nicht kaufen?«

»Das Land. Die Eingeborenen sind Dido feindlich gesinnt, wollen ihr kein Land verkaufen. Aber Dido sagt: ›Ich brauche nicht viel. Mir reicht ein Stück Erde, das sich mit der Haut eines Stiers abmessen lässt.‹ In jener Nacht schneidet sie die Stierhaut in dünne Streifen und heftet sie aneinander. Am nächsten Tag umspannt sie damit den gesamten Hügel von Karthago. Die Eingeborenen schauen ganz schön dumm aus der Wäsche, aber das Land müssen sie ihr trotzdem verkaufen. Und dort entsteht eben …«

»Aber das ist doch Unsinn. Wo gibt es denn so was? Ich habe noch nie erlebt, dass eine Gesellschaft vor dem Intellekt einer Frau in die Knie geht. Du etwa?«

»Schätzchen, diese Geschichte ist mindestens zur Hälfte Mythologie. Es gibt keinerlei historische Belege für das alles. Na ja, willst du wissen, wie es weitergeht?«

»Ja klar.«

»Aus dem Stück Land, das sie erwirbt, wird also Karthago. Sie lässt einen Hafen anlegen. Handel, Schifffahrt – sie macht eine richtige Stadt aus Karthago. Da sticht in Makedonien so ein Blödmann in See, durchschifft das Mittelmeer, geht vor der Küste Karthagos vor Anker und wickelt die mächtige Königin Dido innerhalb von einer Woche um den Finger …«

»Natürlich. Diese Kerle lassen einen ja auch nie in Frieden! Und dann?«

Maryam hielt inne. Lachte. »Den Rest erzähle ich nicht. Finde es selbst heraus! Jetzt lassen wir Dido Dido sein und wenden uns Al-Kahina zu!«

»He! Wehe, du nimmst mich auf den Arm!«

Sie zündete sich gut gelaunt eine Zigarette an. »Al-Kahina, die Seherin, so nannte man sie. Weil die Moslems schlecht auf sie zu sprechen waren, behaupteten sie nämlich, sie sei eine Hexe!«

»Allah, Allah, diese Moslems!«

Wir lachten ein bisschen. Sie richtete ihr Kopftuch und spielte die beleidigte Gläubige.

»Über Al-Kahina wurden alle möglichen Gerüchte in Umlauf gebracht: Sie sei eine Jüdin, eine Christin und so weiter. Aber wenn du mich fragst, hatte sie einfach nur ihren eigenen Kopf. Und sie beherrschte eben einen Großteil des heutigen Libyen.«

»Sag mal, warum weiß ich denn das alles nicht? Das sind doch tolle Geschichten.«

»Hör halt zu und lerne. Die Umayyaden bekämpften sie mit aller Macht. In der ersten Schlacht trug Al-Kahina den Sieg davon. Sie war eine kluge Strategin. Aber dann … Nun, um es kurz zu machen: Schließlich wurde Al-Kahina in die Enge getrieben.«

»Und dann?« Ich klang wie ein Kind, das es vor Spannung nicht mehr aushält.

»Al-Kahina zog sich in den Süden des Landes zurück. Sie betrieb eine Taktik der verbrannten Erde. Nichts wurde mehr gesät, gepflanzt oder gegossen. Kamikaze! Ihre Feinde, ihre Soldaten und sie selbst – alle ließen in der Wüste ihr Leben. In der einschlägigen Literatur heißt es, die Trockenheit der Gegend reiche bis in jene Zeiten zurück. Kannst du dir das vorstellen? Weißt du, wie frauenfeindlich das ist? Die haben sie doch nicht mehr alle! Als hätte sich das Ganze nicht sowieso in der Wüste abgespielt. Und außerdem sind in der Zwischenzeit über tausend Jahre vergangen. Was für Idioten!«

»Bist du etwa auch auf Al-Kahinas Seite?«

»Jetzt hör schon auf mit dem Unsinn!«, erwiderte Maryam schnell. Mit ihr zusammen zu sein war wie allein zu sein, ohne sich einsam zu fühlen. Von Zeit zu Zeit nahm sie ihr Kopftuch ab, das ständig verrutschte, um es neu zu binden. Es schien nur eine Sache zu geben, über die sie nicht sprechen wollte, und solange man sie damit nicht behelligte – was auch immer es war –, stand sie einem zur Seite wie ein Fels in der Brandung.

Ungefähr fünfzehn Minuten später saßen wir im Taxi. Maryam rief: »Kann man hier sonst noch irgendwo abbiegen, guter Mann? Wir müssen nach links! Ich habe doch gesagt, wir fahren nach Karthago!«

Der Taxifahrer hatte Brillengläser so dick wie Flaschenböden, klebte mit der Stirn fast an der Windschutzscheibe, und aus dem Radio dröhnte Technomusik. So hielten wir Einzug in Karthago. Auf einer windigen Anhöhe der Palast – eher ein Palästchen – in ziemlich andalusischem Stil. Zum Meer hin ein Museumsgebäude aus rohem Beton. In der anderen Richtung weitere Hügel. Von historischer Pracht keine Spur. Dass sich nur selten Touristen hierher verirrten, erkannte man schon an der Trägheit der Souvenirhändler, die vor dem Museum ihre Zelte aufgeschlagen hatten. Das Museumspersonal schien von derselben Trägheit befallen.

»Dieses Land ist wie betäubt«, stellte ich fest. »Ist das die Revolutionsmüdigkeit, oder was?«

»Herzlich willkommen, Frau Maryam!«, wurde ich von einem der Museumsbeamten unterbrochen.

»Nanu?«, fragte ich.

»Man kennt mich«, antwortete Maryam wie ein abgehalfterter Mafiaboss. »Ich bin zum fünfzehnten Mal hier. Ist inzwischen so eine Art Wallfahrtsort für mich geworden.« Sie steckte die Eintrittskarten ein und hakte sich bei mir unter. Dann verlangsamten sich ihre Schritte, sie machte ein ehrfürchtiges Gesicht, und mit halb geschlossenen Augen, als spreche sie eine Beschwörungsformel, murmelte sie: »Frauen verlassen ihre Göttinnen nie. Sie nähen ihnen stets nur neue Kostüme, damit sie sich verkleiden können!«

So betraten wir die Ausstellungsräume. Maryam kannte den Weg auswendig. Andächtig strich sie mit den Fingern über Didos Mosaiken auf dem Boden und an den Wänden. Nachdem wir lange vor einer Schrifttafel gestanden hatten, begann ich mich zu langweilen.

»Und? Was sagt Dido?«

»Ach, nichts Besonderes. ›Wir erbauten diese Straße im Jahre soundso, wer sie beschädigt, mit dem machen wir dies und das.‹ Ein Warnschild.«

»Sonderbar, dass von allem, was der Mensch hervorbringt, nur solche Dinge überdauern. Wozu leben wir überhaupt? Und was diese Sache mit Dido angeht … vielleicht lastete ja ein Fluch auf ihr. Was weiß ich? Amira könnte durchaus recht haben. Vielleicht gab es zu ihrer Zeit auch eine Asmahan und deine Dido war Umm Kulthum, ein knallhartes Mannweib. Wo sie doch so eine siegreiche Herrscherin war …«

»Wie kommst du denn darauf, dass sie siegreich war?«

»Hast du nicht so was erzählt?«

»Habe ich nicht. Du, ich muss jetzt etwas nachsehen. Kannst ja solange ein bisschen flanieren.«

Maryam behandelte mich wie eine schlechte Schülerin. Ich ging umher. Das Museum hatte nicht viel zu bieten. Ich ging hinaus, um das Meer zu sehen. Weiter unten der Hafen von Karthago. Ob die Sonne wohl stärker brennt, wenn Zikaden zirpen? Es schien so zu sein. Wenn ich doch einen Mittagsschlaf machen könnte! Wenn ich doch im Meer baden, mich hinlegen und in einer Wolke aus Shampooduft aufwachen könnte! Wenn sich doch meine Probleme in der Türkei in Luft auflösen würden! Was hatte ich eigentlich an diesem gottverlassenen Ort zu suchen? Vielleicht sollte ich einfach abhauen …

»Komm, hauen wir ab«, sagte Maryam hinter mir. »Lass uns nach Sidi Bou Saïd fahren und dort Kaffee trinken.«

Über Kopfsteinpflaster, durch schmale Gassen, vorbei an den hoffnungslosen Türen untätig herumsitzender Souvenirhändler kamen wir zu einem großen Café am Meer. Außer uns saß nur ein altes, verschrumpeltes Ehepaar dort. Sie hatten Crêpes bestellt. Beide hatten die Stirn in Falten gelegt, als versuchten sie sich angestrengt an etwas zu erinnern, das vor ewigen Zeiten passiert sein musste, und schauten hinaus aufs Meer. Sie sahen aus, als gehörten sie nicht zusammen, als vergäße in kurzen Abschnitten der Mann die Frau und die Frau den Mann. Andererseits schienen sie so unzertrennlich, als wären sie durch eine Telefonleitung verbunden und würden einander wortlos verstehen. Vor dem Kellner, der ihnen gerade einen Orangensaft brachte, machten beide ein freundliches Gesicht. Kaum war er wieder gegangen, versteinerten ihre Mienen. Sie wirkten enttäuscht.

Schon machte eine Wespe sich über den Orangensaft her. In der Welt der Alten hatte sie den Effekt eines Jagdbombers. Mit zaghaften Handbewegungen versuchte die Frau sie zu verscheuchen. »Ich habe dir ja gleich gesagt, du sollst keinen Orangensaft bestellen«, nörgelte sie. Der Mann fauchte zurück: »Du machst sie doch erst wütend mit deinem Herumgefuchtel!« Die Frau zanksüchtig: »Besserwisser!« Er hob die Hand, als wolle er sie ohrfeigen. Bevor sie einander töten konnten, schlug die Frau nach der Wespe, die sich auf dem Tisch niedergelassen hatte. Und solche Menschen hatten einst für eine Schwarz-Weiß-Fotografie ihre Gesichter nebeneinander in die Kamera gehalten.

Während ich noch entgeistert zu den beiden hinüberstarrte, sagte Maryam plötzlich: »Und zack, war sie tot.«

»Nein, die Frau hat danebengehauen. Die Wespe ist längst davongeflogen«, korrigierte ich sie.

»Was für eine Wespe? Ich spreche von Dido. Als dieser Mistkerl, der aus dem Trojanischen Krieg gekommen war, wieder verschwunden ist, hat sie sich umgebracht.«

»Ach! Dido hat Selbstmord begangen?«

»Ja, aber weshalb, frage ich mich. Aus Liebe wohl kaum.«

»Nicht, weil dieser Typ sie verlassen hat?«

»Nein, nein, da war noch etwas anderes. Nur aus Liebe? Das kommt mir irgendwie unglaubwürdig vor.«

»Wieso? Anstatt an der Seite irgendeines Mannes zu verschimmeln, hat sie sich eben umgebracht. Ist doch ein tolles Vorbild. Oder schau dir Madame Lilla an. Die ist auch ein tolles Vorbild. Dafür, wie man aus Einsamkeit allmählich den Verstand verliert.«

Maryam tauchte ins Meer ein und verschwand. Steckte den Daumen zwischen die Lippen und schaute in die Ferne. Vermutlich in die Richtung, aus der einst dieser Kerl mit seinem Schiff gekommen war, Dido mit seiner Liebe zerstört und in den Selbstmord getrieben hatte. Während sie so im Kummer versank, fragte ich: »Sag mal, warum hast du dir die Haare abgeschnitten?«

»Ich bin eben niemand, der wie Amira alles in die Öffentlichkeit trägt. Irgendwie verstehe ich sie nicht.«

Als ich schwieg, fuhr sie fort: »Ist sie wirklich so ein Kind, oder tut sie nur so, damit ich sie beschütze?«

Sie sah mich an. Ich erwiderte nichts. Dachte nur, dass das gar nicht gut war. In dem Kristallnetz, das uns umspannte, gab es die erste lose Masche, und es war nicht abzusehen, wann sie sich zu einem Loch ausweiten würde. Unser Abendessen bei Madame Lilla würde auf diese Frage eine ganz unerwartete Antwort geben.

Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann

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