Читать книгу Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann - Ece Temelkuran - Страница 14
9. Kapitel
Оглавление»Dabei habe ich eigentlich gar nichts getan. Die Braut wollte es doch so!«
Während Amira erzählte, sprühte Wahnsinn in ihren Augen, und die Erschütterungen der schnellen Fahrt hatten ihre alberne blonde Perücke verrutschen lassen. Ayyub saß am Steuer, daneben Madame Lilla, die ein violettes Kopftuch aus Chiffon trug und sich ordentlich herausgeputzt hatte. Endlich gelang es Maryam, Amira so weit zu beruhigen, dass deren Geschichte allmählich eine Form bekam.
»Diese Mädchen, ihr wisst schon, die wir im Hamam gesehen haben … Warum, weiß ich nicht, aber sie haben mich engagiert. Eine wollte ihre Hochzeit feiern. Vielleicht, um sich über mich lustig zu machen … Na ja, auf jeden Fall war ein Hamambesuch geplant. Als sie kamen, war ich noch ganz ruhig. Ha ha ha, hi hi hi, und so weiter eben. Alles ganz normal. Wirklich. Mir war’s ziemlich egal, ich würde ja Geld damit verdienen. Die unterhielten sich also über dies und das. Die Braut wollte in die Politik gehen. Hielt sich wohl für Jeanne d’Arc, die Aufschneiderin. ›Für unser Land, für Tunesien‹, solche Sachen kriegte ich zu hören. Die Revolution sei so was von überfällig gewesen. Sie hätten es ja schon geahnt. Wenn nur diese Islamisten nicht wären … Ich habe wirklich versucht wegzuhören. Schließlich sollte ich nur tanzen. Plötzlich sagt die Braut doch tatsächlich ›In Gedenken an Michael Jackson, Ladies!‹ Also sind sie alle aufgestanden und haben was von Michael Jackson gesungen. Zu mir hat sie gesagt: ›Das ist wohl nicht so ganz deine Musik?‹ Sie haben gelacht. Da habe ich gesagt: ›Dann lasst euch mal den Moonwalk beibringen, meine Süßen.‹ Nein, nein, Moment. ›Meine Süßen‹ habe ich nicht gesagt. Das kann ich nicht gesagt haben.«
»Mensch, als ob dieses Detail so wichtig wäre, Amira!«, rief Maryam. »Jetzt erzähl schon, was ist dann passiert?«
»Dann bin ich halt in die Mitte, auf den Massagetisch. Hab angefangen, den Moonwalk zu tanzen. Alle haben gekichert und versucht, es mir nachzumachen. Oje! Sie konnten’s nicht … Oje! Sie haben gelacht und gelacht. Am Schluss wollte die Braut mir wohl eins auswischen, auf jeden Fall kam sie an und sagte: ›Du hast zwar vielleicht mit sämtlichen Männern geschlafen, Tänzerin, aber den Moonwalk kriegst du nicht vernünftig hin.‹ Und als sie dann auf den Massagetisch steigen wollte …«
Amira schwieg und trieb Maryam damit in den Wahnsinn: »Ja? Jetzt sprich doch weiter, Amira!«
»Da ist sie hingeknallt und war tot.«
»Was?«
»Na, tot eben. Genick gebrochen, und das war’s.«
»Wie bitte?«
Amira wurde laut: »Die Braut! War tot!«
Stille im Auto.
Amira senkte ihre Stimme wieder. »Ich habe wirklich nichts getan.«
Maryam schlug die Hände vors Gesicht und zog mit den Fingern ihre Wangen nach unten. Dann presste sie die Lippen zusammen, als wäre ihr plötzlich speiübel geworden. Ayyub schien nicht nur einäugig, sondern auch taub zu sein: Nichts von dem, was er gehört hatte – gehört haben musste –, hatte irgendwelche Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Auch Madame Lilla war völlig unbeeindruckt. Und ich war ja sowieso nicht anwesend.
»Wir müssen nachdenken«, sagte Maryam. Sie tat es. »Also gut«, sagte sie dann. »Hast du das Mädchen berührt?«
»Ich habe sie nicht gestoßen«, sagte Amira.
»Ich habe dich nicht gefragt, ob du sie gestoßen hast«, erregte sich Maryam. »Hast du das Mädchen berührt?«
Amira schwieg.
Maryam klatschte in die Hände. »Na wunderbar! Wir sitzen ganz tief in der Scheiße!«
»Aber sie können nichts beweisen«, sagte Amira, immer noch aufgeregt, und Maryam rief: »Wenn sie nichts beweisen können, warum sind wir dann auf der Flucht?«
Auch Amira wurde wieder lauter: »Ich bin auf der Flucht, warum du mitgekommen bist, weiß ich nicht!«
Schweigen. Dann nahm Maryam Haltung an und fragte mit verschränkten Armen: »Wohin fahren wir eigentlich, Madame Lilla?«
»Nach Süden!«, antwortete Madame Lilla so fröhlich, als wäre sie genau zur richtigen Zeit aus ihrem Schönheitsschlaf geweckt worden.
»Wie weit nach Süden?«
»Ziemlich weit.«
Maryam sah uns beide an. Amira schaute aus dem Fenster, sie schien sowieso vorzuhaben, ziemlich weit weg zu kommen. Ich dagegen hätte, wenn die Straße nicht so schnell dahinglitte und mein Kopf einigermaßen zu gebrauchen wäre, längst eine Entscheidung gefällt.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Wir werden die Grenze nicht bei Nacht überqueren. Wir werden ein paar Stunden irgendwo schlafen und morgen früh erst weiterfahren.«
Amira, den Daumen zwischen den Lippen, den Ellbogen aus dem Fenster, fragte schicksalsergeben: »Welche Grenze?«
»Doch nicht etwa die nach Libyen?«, erkundigte sich Maryam mit spöttischem Unterton.
»Doch, die nach Libyen. Wenn wir erst einmal dort sind, ist alles ganz einfach.«
»Madame Lilla, haben Sie noch alle Tassen im Schrank?«, fragte Maryam, und diese Frage war ihr bitterer Ernst.
»Und was ist mit dem Krieg?«, fragte Amira.
Als wären wir nicht auf maroden Straßen in den Süden Tunesiens unterwegs, sondern befänden uns auf einer Zeitreise in ihre eigene Jugend, gab Madame Lilla eine filmreife Antwort: »Gerade deshalb sind wir doch in Sicherheit!«
In einem Schwall von Zischlauten und ordinärsten Flüchen zählte Maryam eine Reihe unschöner Begebenheiten sexueller Art auf, denen drei junge Frauen in der Wüste ausgesetzt sein könnten und entschuldigte sich gleichzeitig bei Ayyub für ihre ungehörigen Worte. Ayyub benutzte immer nur die linke Spur, was mir angesichts der Tatsache, dass ihm das linke Auge fehlte, überaus logisch erschien. Ich wusste nicht, wie weit wir gefahren waren, da sah ich das Ortsschild von Sfax – die Hälfte unseres Weges hatten wir also bereits zurückgelegt.
Endlich brachte ich genug Entschlossenheit auf, um einen Satz bilden zu können. »Ich steige aus, am Flughafen.«
Quietsch! Ayyub hielt an, riss die Tür auf, stieg aus, öffnete den Kofferraumdeckel, schlug ihn wieder zu, kehrte zurück an seinen Platz, und wir fuhren weiter, als wäre nichts geschehen. »Ich habe nur kurz nach den Schleiern gesehen«, sagte er mit butterweicher Stimme.
In der Wüste geht die Sonne langsam unter. Unsere Gesichter schimmerten rot. Die Wüste war violett. Wenn du lange genug hierbleibst, dann wirst du zu einem Nichts, sagt die Wüste. Nichts sagt sie, und das Wort für Wort. Man wird so leicht, als würde man verschwinden. Nichts bleibt mehr zu erzählen. Sie reinigt einen von Worten. Man kann dort ruhigen Herzens sterben. Also kann man dort auch ruhigen Herzens leben. Wir fuhren und fuhren.
»Wusstet ihr eigentlich, dass sie hier die Star-Wars-Filme gedreht haben?«, fragte Amira. Es hatte schon den Anschein, als wollte niemand sich zu einer Antwort aufraffen, da sagte Maryam: »Ah, okay! Sag doch gleich, dass hier die besten Bedingungen für den Moonwalk herrschen!«
Wir lachten. Bruchstückhaftes Gelächter, das sich konvulsiv und gegen unseren Willen wasserfallartig aus unseren Bäuchen ergoss. Auch Madame Lilla lachte. Sogar Ayyub könnte gelacht haben.
Eine Stunde später machten wir halt. Es wurde nun doch allmählich dunkel. Rechts ein aus wüstengelben Zelten bestehendes Lager, das nur bei genauem Hinsehen überhaupt zu erkennen war. Ich warf einen Blick aufs Tor: das Emblem der Vereinten Nationen. Endlich begann es in meinem Kopf wieder zu rattern. Libyen, Krieg, Flüchtlinge …
»Sie werden uns doch wohl nicht hier einquartieren, Madame Lilla«, sagte Maryam. »Das ist ein Flüchtlingslager.«
Madame Lilla stieg aus dem Wagen wie eine Truppenführerin vom Pferd, die noch in der Luft einen Schlachtplan entwirft. »Keine Angst, das wurde alles ausgekundschaftet. – Von wem? – Ja, aber gerade wegen der laschen Kontrollen sind wir doch hier in Sicherheit. – Mein Gott! – Man weiß ja ohnehin nicht so genau, wer hier alles ein- und ausgeht. – Oh, das wird ja immer besser! – Übrigens gab’s erst letzte Woche wieder drei Tote, und niemanden hat’s interessiert. – Deshalb werden wir den Wagen drinnen parken und in dem Zelt schlafen, das Ayyub für uns aufschlagen wird. – Und morgen geht’s in aller Frühe weiter.«
Als sie unser Zelt aufgebaut hatten, kehrten die schwarzen Schatten, die hinter Madame Lilla aufgetaucht waren, in das Dunkel zurück, aus dem sie gekommen waren. Kurz bevor ich einschlief, fragte ich noch: »Kommt erguvan, die türkische Bezeichnung für den Judasbaum, eigentlich aus dem Arabischen?«
Amira reagierte so schnell, als hätte sie auf diese unpassende Frage nur gewartet: »Nein. Und wie er auf Arabisch heißt, weiß hierzulande sowieso fast niemand.«
In der Nacht träumte ich, wie Tausendfüßler, Skorpione und Schlangen uns einkreisten, ohne uns Schaden zuzufügen. Ich glaube, wir schliefen alle hervorragend. Als gäbe es kein Dazwischen, als folgten Einschlafen und Tagesanbruch unmittelbar aufeinander.
Madame Lilla strich uns übers Haar und weckte uns. »Auf geht’s! Wir sind spät dran. Wir müssen noch über die Grenze.«
Während wir zum Wagen gingen, hakte sie sich bei Amira unter. Keine von uns fragte, wofür wir spät dran seien. Ayyub machte einen wehmütigen Eindruck. Sein sehendes Auge schien den Tränen nahe. Und kaum saßen wir alle im Auto, begriffen wir auch, wieso.
»Ayyub wird nicht mitkommen. Er wird uns an der Grenze absetzen, und wir gehen zu Fuß weiter. Er kehrt allein zurück nach Tunis.« Zwar hatte Madame Lilla mit uns gesprochen, doch schienen ihre Worte gleichzeitig für Ayyub bestimmt, damit er diese bittere Wahrheit akzeptierte. Ohne ihn anzusehen, fügte sie hinzu: »Ayyub, sobald Sie zurückgekehrt sind, führen Sie exakt das aus, was ich Ihnen aufgetragen habe.«
Ayyub nickte nicht einmal.
»Jetzt halten Sie bitte kurz an, damit wir uns umziehen können.«
»Pardon, aber wieso in aller Welt sollten wir uns umziehen?«, wollte Maryam wissen.
»Nun, ich halte es für angebracht, wenn wir bei der Einreise nach Libyen verschleiert sind«, erwiderte Madame Lilla bestimmt.
Auf der Suche nach einer Verbündeten fiel Maryams Blick auf mich, also fragte ich: »Und warum sollten wir verschleiert sein?«
»Meine Damen, ich glaube kaum, dass es in Ihrem Interesse ist, von den Grenzposten mehr als unbedingt nötig unter die Lupe genommen zu werden.«
»Das widerspricht aber meinen Prinzipien«, sagte Maryam, und Amira sagte: »Es ist doch nur für ein paar Stunden, Maryam, bitte.« Ich dachte nur darüber nach, wie man sich in einem Ganzkörperschleier wohl bewegt und stellte mir vor, wie ich stolpern und hinfallen würde. Von weitem sahen wir jede Menge Menschen auf der Straße sowie endlich auch den Grenzübergang. Hunderte von Luxuskarossen warteten Stoßstange an Stoßstange darauf, von Libyen nach Tunesien einreisen zu dürfen. In die andere Richtung wollte niemand. Nur wir waren drauf und dran, in ein Libyen einzureisen, das sich gegen Gaddafi aufgelehnt hatte. Wir hielten. Madame Lilla warf sich mit einer einzigen eleganten Bewegung das auberginefarbene, fast schwarze Gewand über. Unsere waren einheitlich sandfarben. Wenn wir uns damit in der Wüste verliefen, würde niemand uns finden.
»Los geht’s«, sagte Madame Lilla, und wir setzten uns in Bewegung. Als ich mich nach ihr umblickte, sah ich, wie sie Ayyub einen Briefumschlag in die Hand drückte.
»Was war das?«, fragte Amira.
Madame Lilla holte tief Luft und stieß sie vernehmlich wieder aus. »Mein Testament. Keine Sorge, ich habe Sie darin berücksichtigt. Sie und Ihre Tanzschule.«
Amira setzte einen Schritt aus, dann liefen wir weiter. Ich schaute noch einmal zurück. Ayyub stand an die Tür des Autos gelehnt und sah aus, als würde er beten. Madame Lilla ging voraus und nahm dabei eine Haltung ein wie das letzte Mitglied der Familie Romanow. Sie die auberginefarbene Kommandantin, wir drei voll verschleierte Rekrutinnen, marschierten wir querfeldein durch die Wüste. Ich hörte Maryam beten. Als wir in dieser Formation am Grenzübergang anlangten, kam auf libyscher wie auf tunesischer Seite alles zum Erliegen. Jeder wollte die vier Frauen sehen, die da mitten durch die Wüste marschiert kamen.
Wir machten uns gerade daran, unsere Pässe hervorzukramen, da sagte Madame Lilla: »Rufen Sie den Kommandanten!« Sie hatte eine unerklärliche Macht über Menschen, so viel stand fest.
Der Kommandant kam, und Madame Lilla begann eine Geschichte zu erzählen, bei der uns die Haare zu Berge standen – wie gut, dass man unter unseren Schleiern nichts davon sehen konnte.
»Mein Mann ist gestorben, Herr Oberbefehlshaber! Mein Sohn und meine Schwiegersöhne sind nach Libyen gefahren und seitdem nicht mehr aufgetaucht. Pässe haben wir leider keine. Wir müssen aber unbedingt nach Libyen, um …«
Dank Madame Lillas dreister Lügengeschichten dauerte unser Grenzübertritt insgesamt nicht länger als sieben Minuten.
Wir gingen zu der improvisierten Grenzstation, vor der die libyschen Milizen Wache hielten, und überquerten die Grenze. Madame Lilla blieb genau in der Mitte stehen. Die Milizen sahen uns an, die tunesischen Soldaten ebenfalls. In diesem Moment fasste Madame Lilla Maryam am Arm.
»Jetzt hören Sie mir mal gut zu, mein Fräulein«, herrschte sie sie an. »Nehmen Sie sich gefälligst nicht so wichtig. Weder sich selbst, noch Ihre Prinzipien, ja noch nicht einmal das Geheimnis, das Sie uns allen vorenthalten. Sonst begehen Sie eines Tages noch Selbstmord. Und …« Sie musterte uns alle drei und sprach mit sanfterer Stimme weiter: »Vertrauen Sie mir. Sie begeben sich gerade in das Abenteuer Ihres Lebens. Also genießen Sie es.«
Auf der anderen Seite kam ein verbeulter Jeep mit dem Slogan »Free Libya« auf uns zugefahren, Staubwolken wirbelten auf. »Da ist sie ja«, sagte Madame Lilla. Die seltsame Fahrerin, die aus dem Jeep stieg, rief Madame Lilla von ferne her zu: »Herzlich willkommen, Thirina!«
Thirina?