Читать книгу Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann - Ece Temelkuran - Страница 13

8. Kapitel

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Nachmittag. Wir rasen mit 140 Stundenkilometern über die Stadtautobahn. Amiras blonde Perücke ist verrutscht, sie weint. Maryam pfeift durch die Zähne. Ich sitze mucksmäuschenstill zwischen den beiden. Vorne Madame Lilla, selbstbewusst und entspannt, als spiele sie die Hauptrolle in einem Film. Am Steuer sitzt Ayyub. Mit seinem sehenden Auge schaut er uns im Rückspiegel an. Wir fahren und fahren … Dabei stand einen Tag zuvor noch alles still.

*

Am Abend vorher hatte Amira, eine Dose Bier in der Hand, den Taxifahrer angekeift: »Lässt du uns jetzt etwa doch nicht einsteigen, oder was?!«

Es wurde bereits dunkel. Weil es mein letzter Tag war, hatten Amira und Maryam sich gezwungenermaßen wieder vertragen: Braut und Schwägerin, die sich am Feiertag ein Küsschen geben. Ich war heilfroh. Meine bevorstehende Rückkehr in die Türkei, wo Journalisten gerade haufenweise ins Gefängnis gesteckt wurden, bereitete mir schon Kopfzerbrechen genug.

Als wir uns abends auf dem Hof wiedertrafen, hatten wir unsere zu Gelee erstarrten Probleme abgeschüttelt, folgten einer Laune Maryams – »Heute Nacht betrinken wir uns – aber so richtig!« –, und gingen, weil es im Hotel zu teuer gewesen wäre, in einen Supermarkt. Dort wurde der Alkohol unter dem Tresen verkauft. Ohnehin gab es nur in zwei Supermärkten der Stadt überhaupt welchen. Wenn dann drei Frauen hereinkommen, bleibt die Zeit stehen. Unter den starren Blicken der übrigen Kundschaft füllten wir unsere Tüten mit Celtia-Dosen und hielten auf der Straße ein Taxi an. Amira setzte sich als Erste in Bewegung. Als ihr beim Einsteigen jedoch die Tüte ans Knie prallte und eine der Dosen herausfiel, schreckte der Fahrer zurück wie ein amerikanischer Briefträger, der in der Post einen Brief mit Milzbrandsporen entdeckt hat.

»Alkohol? O nein! Damit kommen Sie mir nicht in den Wagen!«

Amira stand bereits mit einem Bein im Taxiinneren und dachte gar nicht daran, es wieder herauszuziehen. Sie funkelte den Fahrer an. »Lässt du uns jetzt etwa doch nicht einsteigen, oder was?!«

Der Mann brüllte wie am Spieß: »Alkohol! Alkohol!«

»Also, wenn das so ist …«, sagte Amira mit betont sanfter Stimme, riss eine der Bierdosen auf und entleerte sie auf dem Rücksitz.

Der Mann trat aufs Gas, Amira wurde zu Boden gerissen. Vor lauter Überraschung bekamen weder Maryam noch ich ein Wort heraus, aber Amira lachte. Sie setzte sich auf, offenbar fehlte ihr nichts.

»Na, wie habe ich das gemacht!« Sie schwenkte die Bierdose über ihrem Kopf. »Jetzt muss er dem Wagen erst mal eine ordentliche rituelle Reinigung verabreichen!«

Inzwischen lachte auch Maryam. »So kann er wenigstens im eigenen Auto zur Hölle fahren!« Wir standen mitten auf der Straße und lachten, als gäbe es keine anderen Menschen mehr auf der Welt.

Am nächsten Morgen sah ich die beiden nicht mehr. Als würde man den Abflug mir zuliebe vorverlegen, hatte ich mich drei Stunden zu früh auf den Weg gemacht. Aber meiner Meinung nach gibt es einfach keine gemütlicheren Orte auf der Welt als Flughäfen. Genau richtig, um nach einer Reise einen schönen langen Abschlussbericht zu verfassen. Als mein Flug endlich aufgerufen wurde, schrieb ich gerade das Wörtchen »Ende« in die untere rechte Ecke meines Notizblocks. Da klingelte mein Telefon.

Wenn einer Ihrer Freunde Sie anruft, während in Ihrem Heimatland massenweise Journalisten verhaftet werden, und Ihnen sagt: »Bleib, wo du bist, hier geht’s gerade ziemlich heiß her«, dann wird die Schlange beim Boarding meist ruck, zuck kürzer. Augenblicke später stand ich mutterseelenallein in der Abflughalle. Mir könnte gar nichts passieren, mir könnte jede Menge passieren. Sollte ich kehrtmachen oder ins Flugzeug steigen? Ich lauschte auf meine innere Stimme, aber die wusste es anscheinend auch nicht. Ich rief meinen Anwalt an.

»Worüber machst du dir Sorgen?«, sagte der. »Du hast doch nichts zu befürchten!« Er sprach mit seltsamer Stimme, so theatralisch. Anscheinend wollte er sichergehen, dass alles mit aufs Band kam, falls das Gespräch abgehört wurde. Dann fügte er noch hinzu:

»Aber ich meine, wenn du irgendwelche Bedenken hast, meine ich, wieso solltest du dann kommen?«

Zwei »ich meine« in einem Satz … Das war kein gutes Zeichen.

»Du findest also, ich sollte besser hierbleiben?«, fragte ich. Er schwieg, als wolle er sagen: »Jetzt komm schon, du hast die Botschaft doch verstanden.« Die Frau vom Bodenpersonal sah mich an, ich war hin- und hergerissen, ob ich ihr meinen Pass entgegenstrecken sollte oder nicht.

»Ich wusste doch, dass wir Ihnen fehlen würden«, sagte Kamal. Wahrscheinlich hatte er sich diesen Satz seit Ewigkeiten für den Fall zurechtgelegt, dass einmal ein Gast unverrichteter Dinge zurückkäme.

»Wo soll ich denn jetzt hin, Kamal?«

Angst ist ein erbärmliches Gefängnis. Wie ein Gespenst schwebte ich zurück in mein Zimmer. Ich schloss die Tür ab, nahm eine Schlaftablette und legte mich hin. Ich schlief, bis die Nacht hereinbrach, schlief durch bis zum nächsten Morgen. Mittags stand ich auf und ging hinunter in den Hof. Meinen Koffer nahm ich mit. Vermutlich wollte ich irgendwohin. Von oben war Maryam zu hören, schrie sie oder war ihr schlecht geworden – seltsame Laute hallten im Hof wider. Maryam trank zu viel, sie würde sich noch den Magen durchlöchern. Kamal brühte mir Kaffee auf und stellte einen Liegestuhl in den Hof. »Ich benachrichtige jetzt Frau Maryam«, sagte er und verschwand. Mein Blick schweifte durch die Gegend, mein Verstand ging auf Tauchstation, und meine Ohren waren erfüllt von einer Art Hintergrundrauschen. Wahrscheinlich das Verstreichen der Zeit.

Als ich bereits so lange dort saß, dass ich fast vergessen hatte, wie niedergeschlagen ich mich fühlte, hörte ich eine Tür schlagen. Amira kam angerannt. »Wir müssen hier weg!«, japste sie.

Sie packte mich an den Armen. Dass ich überhaupt noch da war, schien sie gar nicht zu interessieren. Nach Luft schnappend, flüsterte sie: »Ich … ich glaube, ich habe jemanden umgebracht!«

Maryam erschien in der Tür, mit verquollenen Augen.

»Was?! Wen?«

»Lasst uns abhauen, lasst uns bitte so schnell wie möglich hier verschwinden! Am besten jetzt gleich!«

Es vergingen einige Minuten, oder vielleicht kam es mir auch nur so vor, ich weiß es nicht. Dann sagte Maryam mit Grabesstimme zu Kamal: »Kamal, geh sofort zu Madame Lilla. Sag ihr, dass wir uns entschieden haben. Aber sag ihr auch, dass wir sofort aufbrechen wollen. Und stell uns die Rechnungen aus. Jetzt gleich!«

Sogar Kamal war besser vorbereitet als ich. Als wäre ich die Einzige, die das Drehbuch nicht richtig gelesen hatte. Immer noch schaute ich mir das alles nur an, die Kaffeetasse in der Hand. Jetzt packte Maryam mich am Arm.

»Sieh mich an, verdammt! Bist du in Schockstarre verfallen oder was? Wenn ja, dann komm da wieder raus! Sofort! He, ich rede mit dir!«

Ich wollte den Mund aufmachen und etwas sagen wie: »Ich konnte nicht zurück nach Hause. Ich hatte Angst. Zum ersten Mal. Ist das nicht sonderbar?« Aber es ging nicht. Maryam zückte eine Zigarette und steckte sie mir zwischen die Lippen.

»Jetzt hör mir mal zu! Wir gehen. Ich … ich meine, Amira muss hier verschwinden. Und wir beide begleiten sie. Hörst du mich? Sieh mich an! He! Da du ja eh noch hier bist, kannst du genauso gut mitkommen!«

Hätte ich den Mund aufbekommen, dann hätte ich Maryam gefragt: »Und warum gehst du?«

Aus dem, was Amira Maryam staccatoartig erzählte, hörte ich nur ab und zu das Wort »Hamam« heraus, sie sagte »die Braut«, sie sagte »aber ich«, zwischendurch fluchte sie, dann meinte ich etwas wie »Michael Jackson« zu verstehen – aber das war wohl eher unwahrscheinlich … Maryam nahm mir behutsam die Kaffeetasse aus der Hand und stellte sie auf den Tisch. »Du wartest hier«, sagte sie. Sie wandte sich gerade zum Gehen, da griff ich – nein, nicht ich, nur eine Darstellerin in meinem Film – nach ihrem Arm. »Maryam«, sagte ich mit einem Rest von Stimme, »ich glaube, ich habe kein Zuhause mehr.« Während mir die Tränen kamen, tätschelte Maryam meine Wange. »Geht mir genauso. Mach dir keine Sorgen.« Es war, als könnte sie uns alle unter ihrem Herzen tragen, so geräumig erschien mir ihr doch gar nicht existenter Bauch.

Kamal kam zurück. Alle schienen eifrig darum bemüht, den Film weiterlaufen zu lassen. Vom Eingang aus rief er: »Madame Lilla ist so weit. ›In einer halben Stunde vor dem Hotel‹, hat sie gesagt.«

Amira eilte ins Obergeschoss, in ihr Zimmer, Maryam ihr hinterher. Ich griff wieder nach meinem Kaffee. Es kam mir vor, als würde nun doch nichts passieren – jetzt, wo die Leute aus meinem Film verschwunden waren. Ich blieb allein im Hof zurück. Ohnehin war das alles nicht wirklich geschehen. Ich betrachtete den Jasmin und sah in den Himmel. Intensive Stille. Licht muss ein Geräusch machen. Sonst würden wir Mücken im Dunkeln nicht besser hören. Licht muss eine Masse haben. Sonst könnten wir einander im Dunkeln nicht ausgedehnter lieben. Würde man der übertriebenen Zuneigung zu Ameisen und Spatzen doch endlich mal ein Ende setzen. Denn beide sind im Grunde genommen fürchterlich brutal … Während ich so meinen Gedanken nachhing, stürzte – flatsch! – eine Möwe mitten auf den Hof. Blut spritzte mir ins Gesicht. Ich brüllte los: »Maryaaam! Amiraaa!«

Den Menschen, deren Namen einem als Erste in den Sinn kommen, wenn einem Möwenblut ins Gesicht spritzt, sollte man sein Vertrauen schenken.

Was nützt mir die Revolution, wenn ich nicht tanzen kann

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