Читать книгу Die Faehlings - eine Lübecker Familie - Eckhard Lange - Страница 12
Neuntes Kapitel: April 1160
ОглавлениеFünf Kinder hatte Duscha ihrem Ehemann geboren, seitdem sie den Wohnturm auf Dietmars Grundstück bezogen hatten, zwei waren bereits im Säuglingsalter gestorben, auch die Heilkünste der Slawin hatten nicht ausgereicht, sie am Leben zu halten. Noch immer war sie mädchenhaft schlank, nur die jugendliche Anmut ihrer Gesichtszüge war einer gewissen Strenge gewichen. Mag es teils auch an der Haube liegen, die ihr volles Haar gänzlich verdeckte, es war vor allem doch die Verantwortung, die die Hausfrau zu tragen hatte, während Alf über viele Wochen hinweg auf Handelsfahrt war. Denn die Kaufleute pflegten ihre Waren stets zu begleiten, wenn sie mit den ochsenbespannten Wagen über Land Richtung Lüneburg oder auch zur Hammaburg fuhren oder mit der Knorr übers Meer nach Gotland segelten.
Sie überwachten Be- und Entladen, verhandelten mit ihren Kunden, begutachteten alles, was sie zu kaufen gedachten, und feilschten oft lange um den Preis. Je günstiger sie einkauften, desto höher war der Gewinn beim Verkauf, und wenn nicht Schiff und Ladung verlorengingen im Sturm oder ihnen von Seeräubern abgejagt wurden, dann brachte jede Handelsfahrt ein beträchtliches Vermögen ein. Nicht umsonst trugen die Fernhändler pelzbesetzte Mäntel, Röcke aus feinem flandrischen Tuch, bunt gefärbt und bestickt, und sorgfältig gearbeitete Lederschuhe, dazu an Stelle der Filzkappe gelegentlich sogar ein Samtbarett wie sonst nur die Adligen.
Auch Alf konnte sich solche Kleidung nun leisten, besaß er doch gemeinsam mit Jannes und dessen Bruder Simon drei Schiffe, und meist fuhr jeder der drei Kaufleute auf einem dieser breitbauchigen und kurzen Langschiffe. Längst hatte er seiner Margareta auch bestickte Hauben mit Bändern, einen grün gefärbten Umhang und so manches ebenfalls in schönen Farben leuchtende Kleid geschenkt, doch im Hause trug die Sparsame immer noch einfache linnene Trägerröcke zum langärmeligen Hemd und band sich ein wollenes Tuch als Schürze um. Dabei blieb ihr allzu grobe Arbeit inzwischen erspart: Alf hatte ihr einen Knecht dafür zur Seite gestellt, und auch eine Magd konnte sie beschäftigen – Brana, eine junge Wendin aus der Siedlung unterhalb der Burg. Dort lebten noch immer vorwiegend wagrische Handwerker, doch viele dienten nun als Hörige den Deutschen: auf den Schiffen, als Träger im Hafen oder eben als Dienstboten im Haushalt der Kaufleute und mancher deutschen Handwerker, die wie auch Dietmar zu Wohlstand gekommen waren.
Immer mehr deutsche Worte mischten sich so in ihre slawische Sprache, und Duscha bestand darauf, dass auch Brana mit ihren Kindern deutsch sprach, obwohl sie selbst manche Anweisung für ihre Magd in der gemeinsamen Muttersprache gab, um sicher zu sein, dass das Mädchen alles versteht. Dabei duldete sie schmunzelnd, wenn ihre beiden Jüngsten manches slawische Wort, das sie von ihrer geliebten Brana gehört hatten, fröhlich nachplapperten. Ja, die Kinder, vor allem Johanna und Dietlind, die beiden zuletzt geborenen, hingen an der Magd, die ihnen manches durchgehen ließ, was die Mutter streng untersagt hätte. Doch Duscha war erneut schwanger, und diesmal litt sie mehr als sonst darunter. So war sie froh, dass Brana sich so liebevoll um die Kinder kümmerte.
Einzig Dietmar, der Erstgeborene, ließ sich kaum noch etwas befehlen. Dafür lauschte er um so wissbegieriger, wenn die slawische Magd von früher erzählte, von König Heinrich und dem bösen Fürsten Kruto, dessen schöne junge Frau Slawina dann Gemahlin des Königs wurde. Aber auch Dragomir, der Knecht, musste ihm oft den Vater ersetzen. Er zeigte ihm, wie man Pfeil und Bogen handhabt, wie man ein gebrochenes Rad instand setzen kann und die vielen Münzen unterscheidet, mit denen die Händler umgehen mussten.
Seit einem Jahr nun wohnte die Familie wieder in ihrem alten Wohnturm, nachdem die Bewohner Lubekes aus der Löwenstadt zurückgekehrt waren. Sie hatten die verlassenen Häuser wieder hergerichtet, und dort, wo sie niedergebrannt waren, neue errichtet, nun allerdings auf festen hölzernen Schwellen, die auf einem Bett von Feldsteinen lagen, die sich überall im Boden fanden. Auch Alf hätte gern ein richtig steinernes Haus errichtet, wie er es in Brunswik, der Residenz des Herzogs, gesehen hatte, doch solche Steine gab es nirgends im Wagrierland, und der Granit der Findlinge ließ sich kaum bearbeiten. So blieb es in Lubeke beim Holzbau, nur die Fußböden stellte man jetzt aus festgestampftem Lehm her, und einige reiche Kaufleute verlegten dort sogar richtige Platten aus gebranntem und glasiertem Ton.
Überhaupt war die Stadt weiter gewachsen, seitdem der Herzog Stadtherr geworden war. Der Wald auf dem Werder war fast ganz verschwunden, sein Holz für den Bau der Häuser und auch der Schiffe verarbeitet. Die Siedlung dehnte sich nun weit über die Höhe hinweg nach Osten aus, in Richtung der Wochenitze, und auch um die Pfarrkirche St. Nikolaus herum hatten sich Häuser eingefunden, denn auch die Zahl der Priester und derer, die ihnen dienten, hatte zugenommen. Außerdem hatten die Bürger begonnen, auf dem Markt eine zweite Kirche zu errichten, die der Mutter Gottes geweiht sein sollte. Selbst eine dritte Kirche war schon fertiggestellt, dem Apostel und einstigem Fischer Petrus gewidmet. Sie stand hoch über dem Sumpfgelände der oberen Trave, dort, wo der Werder steil abfiel.
Der Kietz an der Mündung der Wochenitze, der einst abseits lag, verborgen hinter dem Buchenwald des Hügels, grenzte nun fast schon an die Grundstücke der Kleriker, den Fischern dort blieb nur noch ein schmaler Streifen Land für ihre Äcker und Gärten. So waren viele in die Nähe des Hafens gezogen, wohnten nun am Rande des Sumpfgebietes der Trave, andere waren in die Hörigkeit geraten und dienten den Deutschen. Rastislav und Vesna, Duschas Eltern, ware zu alt, noch etwas Neues zu wagen, sie blieben als eine der letzten Familien in ihrer Hütte dort am Ufer, und ihre Tochter schickte immer häufiger den Knecht oder die Magd, um nach ihnen zu sehen und ihnen allerlei Nahrhaftes zu bringen. Oft lief dann auch Dietmar mit, um die Großeltern zu besuchen, und Rastislaw zeigte dem Enkel, wie man mit der Angel die Barsche aus dem Fluß holt und wie man die Netze so aufstellt, dass sich Aale darin fingen. Es gab kaum etwas, das den Jungen nicht interessierte, er lernte rudern und schwimmen und Feuer aus dem Stein schlagen – und von Vesna auch manchen Spruch auf slawisch, der Glück bringen sollte.
Immer wieder lief der Junge aber auch ein Stück flussaufwärts, denn dort geschah Wunderliches: Bisher hatten die Händler und alle anderen Reisenden die Wochenitze auf einer Furt durchqueren müssen, und manches Mal, wenn der Schnee geschmolzen und der Fluß angeschwollen war, versanken die Räder der Karren tief im Wasser, die Waren wurden durchnässt, und wer zu Fuß hindurchwaten musste, stand bis an die Hüfte im kalten Wasser. So hatten die Vertreter der Stadt beschlossen, an dieser Stelle eine Brücke zu errichten, einen festen hölzernen Weg aus kräftigen Bohlen, die auf langen Balken lagen, getragen von Stützen, die tief in den Boden des Flusses gerammt wurden. Am meisten staunte Dietmar jedoch über das mittlere Stück dieses Weges: Es hing an der einen Seite an einer Kette, und diese an einer Art Galgen. So konnte man vom Werder her den Bohlenweg hochklappen wie einen Fensterladen, wenn an der Kette gezogen wurde, und damit den Zugang zur Stadt sperren. Wie wichtig diese Vorrichtung sein konnte, das würde er nur allzu bald erfahren.
*
Duscha war nun im fünften Monat, und ihr Zustand war schon deutlich zu erkennen. Bereits am frühen Morgen hatte sie sich aufgemacht, um Vesna und Rastislav aufzusuchen, denn der Tag drohte heiß zu werden. Zunächst aber ging sie aufmerksam durch die Wiesen am Flussufer, immer auf der Suche nach bestimmten Kräutern, denn ihr getrockneter Vorrat aus dem vergangenen Jahr ging langsam zur Neige. Noch fiel ihr das Bücken nicht allzu schwer, und so füllte sich der mitgebrachte Weidenkorb langsam. Doch hin und wieder hielt sie inne, reckte sich und streckte den schmerzenden Rücken. Dabei wanderte ihr Blick über das Röhricht hinweg zum anderen Ufer, wo der Handelsweg langsam an Höhe gewann, um irgendwann hinter einer Hügelkuppe zu verschwinden.
Plötzlich aber stutzte sie: Dort oben auf der Höhe blitzte etwas im Licht der Morgensonne. Neugierig schaute sie hinüber, kniff sie Augen zusammen, denn das Blitzen wiederholte sich. Und dann sah sie es: Gewappnete verharrten auf der Kuppe, Berittene in Kettenhemden und eisernen Helmen. Man schien zu warten, bis alle aufgeschlossen hatten, und nun erkannte Duscha auch das Fähnlein, das einer der Reiter trug: Es waren die Farben Niklots, des Obotritenfürsten, der bereits einmal die Stadt überfallen und geplündert hatte. Ihre Schmerzen waren vergessen, sie warf den Korb zu Boden, raffte die Kleider, so hoch es nur ging, und lief keuchend den Hang hinauf, zu den ersten Häusern, die dort standen. Es war Ethelo, der Priester, der sich zur morgendlichen Messe aufmachte, dem sie als erstes begegnete. Schon von weitem rief sie: „Gefahr! Fürst Niklot kommt mit Bewaffneten!“
Der Priester begriff rasch, und er wusste, was das bedeutete, Rudolfs Schicksal stand ihm vor Augen. Es war zu spät, die Bürger zu alarmieren, gar die Bewaffneten, die der Herzog in die Burg gelegt hatte. Doch er hatte eine Chance, wenn er rechtzeitig an der Brücke wäre. Ethelo war nicht mehr der Jüngste, seine Mönchkutte war ihm hinderlich, aber er zog sie mit einer Hand empor, um laufen zu können. Dann eilte er an Duscha vorbei zum Fluß. Auf dem Hügel auf der anderen Seite hatten Niklots Truppen sich bereits in Bewegung gesetzt, ritten nun den Hang hinunter auf die Brücke zu. Endlich hatte der Priester den hölzernen Weg erreicht und griff nach der Kette. Er zog und zog, keuchend und stöhnend, während die ersten Reiter bereits das Ufer erreicht hatten. Nur schwerfällig bewegte sich die Klappe. Jetzt hatten die Reiter erkannt, was der Mann dort vorhatte, und gaben ihren Tieren die Sporen. Ethelo ächzte, Schweiß trat ihm auf die Stirn, quälend langsam hob sie der bewegliche Weg in die Höhe. Der erste der Krieger setzte zum Sprung an, doch die Klappe war bereits zu hoch, sein Pferd prallte gegen die Bohlen, und beide stürzten in den Fluß. Die Nachfolgenden zügelten ihre Tiere gerade noch rechtzeitig.
Fürst Niklot hatte von halber Höhe verfolgt, was auf der Brücke geschah. Und er erkannte, die geplante Überraschung war ihm missglückt, die Stadt schien gewarnt. Für eine offene Schlacht aber reichten seine Truppen nicht aus, und er war auch nicht gewillt, vielleicht viele seiner Männer im Kampf zu verlieren. Es sollte ein rascher Überfall sein, so wie vor etlichen Jahren, und damals hatte er ausreichend Krieger zur Verfügung. Nun gut, der Plan war fehlgeschlagen, die Beute entgangen, Herzog Heinrich hatte wieder einmal Glück gehabt. Es würde andere Möglichkeiten geben, den Sachsenfürsten zu schädigen und zu Verhandlungen zu zwingen. Diese hier war verpaßt.
Niklot hob die Hand, die Reiter verharrten. „Zurück,“ rief der Fürst, und die Männer gehorchten, widerwillig zwar, weil sie auf Beute gehofft hatten, aber auch sie erkannten, dass diese Beute nun ihren Preis hatte. So zog der ganze Haufe über den Hügel wieder ab, verschwand so rasch wie er gekommen war, und ließ einen schwer atmenden Priester an der Brücke zurück, einen Einzelnen, einen Waffenlosen, der doch eine ganze Stadt gerettet hatte – zusammen mit Duscha, die er als Margareta einst getauft hatte. Er musste sich um sie kümmern, sie war doch schwanger, und sie war trotzdem den Hügel hinaufgerannt. Heilige Mutter Gottes, betete er im Stillen, gib, dass sie nicht zu Schaden gekommen sind, Duscha und das ungeborene Kind.
Doch die Gottesmutter hatte wohl anderes vor: Am Abend erlitt Alfs Frau eine Fehlgeburt, und wäre sie nicht zu ihrer Mutter gegangen, wäre sie wohl dem Kind gefolgt. Aber Vesna wusste, was sie zu tun hatte, und Rastislav wanderte am nächsten Morgen eilend in die Stadt, um der besorgten Brana Nachricht zu geben und danach Anna, Alfs Schwester, die Aufsicht über Kinder und Haus zu übertragen, bis die Herrin zurückkehren würde. Immerhin war Dietmars Tochter inzwischen dreizehn Jahre und fast schon im heiratsfähigen Alter.