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Fünftes Kapitel: Juni 1147

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Der Sommer dieses Jahres war heiß, seit drei Wochen schon war kein einziger Tropfen Regen gefallen. Der Vogt hatte alle Bürger der Civitas durch einen Herold auffordern lassen, besonders achtsam mit Feuer umzugehen, nachdem bereits zweimal ein Haus in Flammen gestanden hatte. Glücklicherweise war es einmal nur eine Blockhütte auf dem Hafenmarkt, so dass man rasch genügend Wasser herbeischaffen konnte, außerdem stand sie weit entfernt von den Grundstücken der Kaufleute und es war windstill gewesen. Der zweite Brand ereignete sich in der Wendensiedlung unterhalb der Burg, ihm fielen mehrere Hütten zum Opfer.

So sehnten die deutschen Siedler und Händler den Tag herbei, an dem man des Martyriums der heiligen Brüder Johannes und Paulus gedachte, die einst vom heidnischen Kaiser Julian in Rom getötet worden waren, denn ihnen sagte man nach, dass sie großen Einfluß auf das Wetter haben sollten. Darum sollte dieser Tag auch besonders feierlich begangen werden, um Regen zu erflehen. Rudolf der Priester hatte zu einer Messe auf dem Markt geladen, damit die zahlreich gewordene Christenschar vollzählig teilnehmen konnte. Auch der Vogt als Vertreter des Grafen Adolf als des Stadtherrn würde anwesend sein, so war verkündet worden.

Vogt Reginald allerdings war in den Tagen zuvor mit anderen, ebenso wichtigen Dingen beschäftigt, und er hatte die Vertreter der Schwurgemeinschaft der Kaufleute, die die Bürgerschaft vertraten und ihm als Ratgeber und Mittler dienten, zu einer Besprechung in die Burg gebeten. „Ihr wisst,“ so begann er, „dass der heilige Vater in Rom die Christenheit zum Kreuzzug gegen die Heiden aufgerufen hat. Nun haben die Fürsten des Reiches auf dem Hoftag zu Nürnberg beschlossen, dass ein Heer unter Führung des Markgrafen Albrecht aufgestellt werden soll, um auch die Ungläubigen jenseits unserer eigenen Grenze zu bekriegen und dem rechten Glauben zuzuführen. Der Markgraf wird sie gegen die Liutizen führen, so lautet der Beschluß.“

Hinrich von Soest, der zu den Ältermännern der Kaufleute zählte, hob besorgt beide Hände: „Das ist einerseits eine gute Nachricht, denn es betrifft unsere eigenen Nachbarn nicht. Mit den Obotriten wird also weiterhin Frieden herrschen, so hoffe ich, und doch ist es eine böse Nachricht, denn so wird der alte Streit zwischen Slawen und Christen erneut aufflammen. Noch sind die meisten Wagrier Heiden, und für sie bedeutet es, dass wir ihre Götter missachten und ihre Heiligtümer zerstören könnten, wie es die unsrigen schon allzu oft getan haben, ohne dass die Menschen damit zum wahren Glauben zu bekehren waren.“

„Ihr habt recht, Hinrich,“ antwortete Reginald. „Es wäre besser, wir hätten geduldig gewartet, bis überall im Land Kirchen gebaut und Priester eingesetzt sind, um die Wenden ohne Zwang zu taufen. Noch hoffe ich, dass das Bündnis, das Graf Adolf mit Fürst Niklot von Mecklenburg geschlossen hat, uns vor neuem Krieg bewahrt, doch in den letzten Tagen wurde gemeldet, Herzog Heinrich ziehe ebenfalls Truppen zusammen, und das kann nichts Gutes bedeuten. Auch sagt man, dass Niklot Boten zu Adolf gesandt hat, um Beistand einzufordern, falls er angegriffen würde. Unser Graf stünde vor einer schwierigen Entscheidung, wenn es gilt, Treueid gegen Treueid abzuwägen. Laßt uns zur heiligen Jungfrau beten, dass dies nicht geschehen möge.“

Von alledem erfuhren die Bürger von Liubice vorerst nichts. Sie bereiteten sich umso eifriger auf den bevorstehenden Festtag vor, denn es gab sonst ja nur wenig Anlaß, den Alltag einmal zu vergessen und ausgelassen zu feiern. Überall wurde nun Bier in Mengen gebraut und weißes Brot gebacken. Auch manch Stück Fleisch wurde aus dem Rauch geholt, und die grauirdenen Töpfe waren mit allerlei Leckerem gefüllt. Das war im Hause Dietmars des Schmieds nicht anders, Magdalene, sein Weib, war emsig beschäftigt. Doch Dietmar mahnte zur Zurückhaltung. Hinrich von Soest hatte ihn auf dem Rückweg von der Burg aufgesucht und ihm seine Sorgen mitgeteilt. Der Schmied hatte zwar nur wenig Kenntnis von diesen Dingen, mit den Wenden ringsum war er kaum je zusammengetroffen, aber was der Freund ihm erzählte, ließ ihn doch nachdenklich werden. So machte er sich daran, sich ein Kurzschwert zu schmieden, wie er es schon mehrfach für die Kriegsleute in der Burg gefertigt hatte.

Sorgenvoll fiel sein Blick in diesen Tagen auf seine junge Frau, denn Magdalene war schwanger, der lange Winter hatte die Eheleute eng zusammengeführt. So nahm er den Sohn zur Seite und erteilte ihm genaue Anweisungen für den Fall, dass es zum Krieg kommen würde: „Sollten diese Fremden über uns herfallen, dann ist dies deine Aufgabe: Nimm Magdalene und flieh mit ihr in die Burg. Und wenn das nicht möglich ist, versteckt euch oben im Wald, am besten im Süden, dort ist er noch dichter, und es gibt viel Unterholz, wo ihr euch verbergen könnt. Flucht ist nicht feige, wenn dir sonst nur der Tod droht. Du musst Magdalene retten, und mit ihr das Kind, das noch nicht geboren ist. Ich bitte dich, Alf, spiel nicht den Helden, sondern handle klug und umsichtig.“ Und Alf versprach, genauso zu handeln.

Er hatte die Worte des Vaters fast schon wieder vergessen, als sich die Tage dahinzogen, ohne dass Liubice eine Gefahr drohte. Dafür lief er nun so oft wie möglich zum Hafen hinunter. Dem Vater sagte er, er wolle dort auf Neuigkeiten achten, ob man mit einem Angriff rechnen müsste, in Wahrheit aber traf er sich mit Duscha. Endlich hatte er ihren Namen erfahren, und wenn der Vater nicht hinsah, berührte er das Mädchen hier und da am Arm, und jedes Mal wurde ihm heiß. Sie ließ es geschehen, ja es schien ihr zu gefallen.

Sie trug nun ein langes Kleid, das ein Gürtel unter der Brust zusammenraffte, dazu hatte sie ihr Haar hochgesteckt, damit der gestickte Stirnriemen gut zur Geltung kam, und an der rechten Seite hingen zwei große silberne Schläfenringe, die klingend aneinanderschlugen, wenn sie den Kopf zur Seite neigte. Es waren immer nur wenige Augenblicke, die sie miteinander reden konnten, aber es waren die schönsten des ganzen Tages, und einmal, als der Vater zum Boot hinunterging, hauchte Duscha ihm plötzlich einen Kuß auf die Wange, nur ganz flüchtig, nur ganz kurz, und dann lief sie rasch dem Fischer hinterher, ohne sich noch einmal umzusehen.

*

Graf Adolf hatte sich an die Palisadenwand der Siegesburg gelehnt und blickte den drei Reitern nach, die in schnellem Trab den Weg nach Osten einschlugen. Es war ihm schwergefallen, sie mit dieser Antwort ziehen zu lassen, aber ihm blieb keine Wahl. Vor zwei Tagen waren die Sendboten von Fürst Niklot auf der Siegesburg erschienen, und er hatte sie mit allen Ehren empfangen, wie es sich für Verbündete gehört. Doch ihre Botschaft brachte ihn in Gewissensnöte. Sicher, es gab einen Pakt mit dem Obotriten, und der versprach, dem jeweils Angegriffenen mit Waffen zu Hilfe zu eilen. Als der Schauenburger ihn unterzeichnete, da hatte er an die Ranen oder die Luitizen gedacht, die Niklot von Osten her bedrohen konnten. Doch nun stand der Feind des Slawenfürsten im Westen, war sein eigener Lehnsherr, der junge Herzog Heinrich von Sachsen, der ihm die Grafschaft anvertraut und dem er Vasallentreue geschworen hatte. Ein ritterlicher Eid, abgelegt auf die Reliquien des heiligen Blasius im Dom zu Brunswik. Wie könnte er diesen Eid brechen!

So musste er die Gesandten Niklots abschlägig bescheiden, die feierlich versprochene Hilfe verweigern, und es war ihm bewusst, dass er sich damit den Slawen zum Feind machte. Späher hatten berichtet, dass der Fürst bereits in aller Eile seine Burgen ausbaute und seine Krieger sammelte, denn die Nachricht vom Kreuzzug gegen die Wendenstämme jenseits der Elbe war auch dort längst angekommen. Adolf schätzte den Slawenfürsten, der stets ein gutes Verhältnis mit den Deutschen anstrebte, aber ihn band der Eid. Ihm blieb nur die Hoffnung, Niklot würde sich auf die Verteidigung seiner Burgen beschränken, doch ebenso könnte er versuchen, dem Herzog zuvorzukommen und den Krieg auf dessen Boden zu tragen.

Der Schauenburger wandte sich mit einem Seufzer um und ging in die Halle zurück, in der er eben die Obotriten verabschiedet hatte. Es war bitter, nichts tun zu können, abwarten zu müssen und dabei das Unheil zu erahnen. Dies war einer jener Augenblicke, wo er mit großem Ernst in die kleine Burgkapelle ging, um göttlichen Beistand zu erflehen.

*

Der fünfundzwanzigste Tag des Juni war herbeigekommen, die Bewohner von Liubice hatten sich auf dem Markt versammelt und lauschten den Meßgesängen des Priesters, beugten andächtig das Knie während der Wandlung zum wahren Leib und Blut des Herrn und lauschten dem Martyrologium der beiden zu verehrenden Heiligen. Danach blieb man noch zusammen, lud sich gegenseitig ein, das Fest auch festlich zu begehen, und in den Häusern begann ein fröhliches Schmausen, während die hölzernen Becher immer wieder neu aus den Tonkrügen mit Bier gefüllt wurden. Gelächter wurde laut, man redete durcheinander, hier und da wurde gestritten, an anderen Orten erscholl Gesang aus den geöffneten Fensterläden, und immer wieder stürzten Männer auf die Straße, um sich zu erleichtern und Platz für neues Bier zu schaffen. Die Hitze des Junitages tat das ihrige hinzu, und als sich Nacht über Liubice senkte, schliefen die meisten nicht auf dem eigenen Strohlager, sondern dort, wo der letzte Trunk sie hingestreckt hatte.

Vogt Reginald war schon bald nach dem Ende der Messe in die Burg zurückgekehrt und hatte dafür gesorgt, dass an die Besatzung auch an diesem Festtag nur das übliche Maß an Bier ausgeteilt wurde. Seine Sorge um die Sicherheit von Burg und Civitas war keineswegs geringer geworden, auch wenn er aus dem Obotritenland keine gefahrverheißenden Nachrichten erhielt. So teilte er wie jeden Abend einige Männer zur nächtlichen Wache hinter der Brustwehr auf den Wällen ein, während die anderen ihre Schlafplätze aufsuchten.

Es war eine wolkenlose, mondhelle Nacht, auch nach Sonnenuntergang war es nicht merklich kühler geworden, und die Gebete zu den Heiligen hatten bislang nichts bewirkt, der Regen war auch an diesem Tag ausgeblieben. Vorsorglich umrundete der Vogt noch einmal den Wehrgang, aber alle Posten waren wach und am angewiesenen Platz. Da begab auch Reginald sich zur Ruhe.

Im Osten dämmerte es bereits, die ersten Vögel hatten zaghaften Gesang angestimmt, sonst lag Stille über dem Werder, über den weiten Schilfflächen und dem Fluß, der unterhalb des Walles dem Meer zustrebte. Plötzlich schreckte der Wächter, der dort müde seinen Dienst versah, auf: War da nicht ein Geräusch zu hören? Er lauschte. Es klang, als würden Ruderblätter vorsichtig ins Wasser getaucht. Er spähte über die Brüstung hinweg in die Richtung, wo der Fluß mit leichter Krümmung hinter dem gegenüberliegenden Waldrand verschwand. Und dann sah er das Schiff, das sich langsam flussaufwärts bewegte, er sah die Gewappneten, die zwischen den Ruderknechten zuhauf standen, und er sah, wie dahinter ein Steven nach dem anderen auftauchte. Da rief er laut das Alarmsignal in die Burg und stürzte zum Palas des Vogtes, um Bericht zu erstatten. Die Schlafenden fuhren auf und griffen sich ihre Waffen, um eilig den umlaufenden Wehrgang zu besetzen.

Reginald hatte das lederne Wams übergestreift, das ihn gegen feindliche Pfeile schützen sollte, schon im Laufen griff er den Helm und stülpte ihn über den Schädel. Er warf nur einen kurzen Blick über die Palisade, dann befahl er zwei Männern, die Pferde zu satteln und in gestrecktem Galopp zur Civitas zu reiten, um mit dem Horn die Bürger zu wecken. Sie sollten bewaffnet zum Hafen eilen, um möglichst eine Landung der feindlichen Truppen zu verhindern, denn nur dort konnten sie nahe genug ans Ufer rudern. Die Männer liefen zu den Ställen, das Burgtor wurde geöffnet, und die Berittenen verließen den schützenden Wall. Einen Augenblick überlegte der Vogt, mit seiner ganzen Mannschaft ebenfalls zum Hafen zu ziehen, doch sie würden wohl zu spät dort eintreffen, und er durfte die gräfliche Burg nicht schutzlos zurücklassen. Die Ritter und Knechte, die hier seinem Befehl unterstanden, reichten im übrigen kaum aus, um den Wall ringsum wirksam zu verteidigen. Die Männer in der Civitas mussten schon selbst sehen, wie sie den Angriff abwehren konnten, und Reginald vertraute auf die Umsicht der Ältermänner, die dort die Führung übernehmen würden.

Als das Horn ertönte und die lauten Rufe der Boten erklangen, weckte Dietmar Frau und Sohn. Noch ehe er aus dem Haus trat, um Näheres zu erfahren, befahl er Alf, mit Madalene über den Markt hinweg in Richtung Wald zu laufen, der Weg zur Burg schien ihm zu unsicher, wenn die Mannschaft dort bereits die Feinde gesichtet hatte. Alf wäre gern geblieben, doch er gehorchte dem Vater und führte Magdalene über die weite Fläche des Marktes in Richtung Süden. Die junge Frau hatte bereits den schwerfälligen Gang, der sich nach einigen Monaten der Schwangerschaft einstellte, so dass Alf sie am Arm packte, um sie zu stützen. Die beiden eilten durch den Wald, der schon recht gelichtet war und wenig Schutz bot, bis sie an den Rand oberhalb des Kietzes kamen, wo Sträucher und junge Buchen die Sicht hinderten.

Alf wollte schon trockenes Laub zusammenkehren, damit Magdalene sich dort niederlassen könnte, als sein Blick auf die Hütten dort drüben fiel. Die Männer bereiteten ihr Boote vor, die Frauen holten Wasser vom Fluß, und etliche Kinder hüpften nackt am Ufer herum. Der Klang der Hörner hatte nicht ausgereicht, um auch die Fischersiedlung zu warnen. Und irgendwo da unten war auch Duscha – seine Duscha. Gut, sie waren Wenden wie auch die Angreifer, aber würden die Krieger einen Unterschied machen, wenn der Blutrausch über sie kam? Und gab es nicht stets auch Feindschaft zwischen den slawischen Stämmen? Mit raschem Entschluß packte er Magdalene am Arm: „Dort hinunter, wir müssen sie warnen!“

Die Frau blickte entsetzt: „Ich soll zu den Barbaren? Sie haben meinen ersten Mann getötet, sollen sie jetzt auch mich töten – und das Kind in meinem Leibe?“ „Es sind Freunde,“ antwortete Alf, „sie unterstehen genau wie wir dem Grafen Adolf, und sie sind genau wie wir in großer Gefahr!“ Nur widerstrebend ließ die Frau sich den Hügel hinabziehen. Neugierig, ja misstrauisch blickten die Dorfbewohner den Deutschen entgegen. „Bucu wird überfallen,“ rief Alf schon von weitem und hoffte, dass die Wenden ihn verstehen würden. Wenn nur Duscha auftauchte, sie könnte sicher übersetzen, was er mitteilen wollte. Doch der Dorfälteste hatte erkannt, was der fremde junge Mann mitteilen wollte. Ruhig gab er einige Anweisungen, zwei Männer liefen den Hügel hinauf, offensichtlich sollten sie Ausschau halten und die anderen warnen, falls Gefahr drohte.

Da kam Duscha vom Ufer herauf, wo sie mit dem Vater das Boot für einen Fang rüsten wollte. Wortlos packte sie Alf am Arm und zog ihn zusammen mit der jammernden Magdalene in eine Hütte. „Setz dich, Frau,“ sagte sie und wies auf ein sauberes Strohlager an der Rückwand. „Erzähle, was ist geschehen?“ wandte sie sich dann an den Freund. Der berichtete, was oben in der Civitas geschah. Duscha hörte aufmerksam zu. „Wartet hier, ich will es dem Ältesten sagen!“ Sie strich Alf mit der Rechten ganz sanft über die Wange und verschwand. Magdalene hatte es mit Abscheu gesehen: „Was erlaubt sich diese kleine Hure,“ fauchte sie. Doch Alf antwortete nur knapp: „Wir kennen uns. Sie ist ein gutes Mädchen.“

Duscha kam zurück: „Ihr könnt hier in der Hütte bleiben, ihr seid unsere Gäste. Wir sind alle sehr betroffen, dass wieder Krieg ist zwischen Wenden und Deutschen, und wenn Gefahr droht, so gibt es ein sicheres Versteck, in das wir gemeinsam fliehen. Unsere Späher werden uns rechtzeitig warnen. Ich werde der Frau warme Ziegenmilch bringen, sie sieht schlecht aus. Ist sie dein Weib?“ Alf erschrak: Sie fragte es ganz ruhig, und doch meinte er Traurigkeit aus den Worten herauszuhören. Rasch antwortete er: „Magdalene ist die Frau meines Vaters, auch wenn sie nicht meine Mutter ist. Und sie erwartet ein Kind.“ „Das sehe ich.“ Duschas Miene schien sich aufzuhellen. „Sie soll sich schonen. Es ist nicht gut, wenn sie sich aufregt. Und nun gehe ich die Ziege melken.“ Und wieder verschwand sie.

Magdalene saß aufrecht auf dem Stroh. „Komm, setz dich neben mich,“ sagte sie zu Alf. „Ich brauche jemand, der mir nahe ist.“ Alf gehorchte, und er duldete auch, dass die Frau ihren Kopf gegen seine Schulter lehnte, aber als sie nach seiner Hand tastete, entzog er sie ihr. „Du solltest dich legen,“ sagte er, „ich werde dir Platz machen.“ Er stand auf und zwang sie, sich auf dem Lager auszustrecken. Er war erschrocken über ihr Verhalten, und plötzlich erinnerte er sich, dass sie ihm oft mit den Blicken gefolgt war, wenn er durch das Haus des Vaters ging. Er hatte nicht darauf geachtet, doch jetzt sah er das mit anderen Augen. Sie ist Vaters Eheweib, und sie trägt ein Kind von ihm im Leib, dachte er. Sie hat nichts mit mir zu schaffen.

*

Dietmar der Schmied hatte, sobald Sohn und Frau fortgeeilt waren, sein Schwert ergriffen und lief, wie es die Herolde befahlen, zum Hafen hinunter. Doch kaum einer der Männer aus den Häusern am Wegrand folgte ihm. Vergebens schlug mit dem Schwertknauf gegen die Türen, rief und mahnte zur Eile. Hier und da taumelte jemand auf die Straße, weniger vom Schlaf als von dem vielen Bier noch trunken. Es waren wohl nur zwei Handvoll Männer, die sich auf dem Platz des Hafenmarktes um Hinrich von Soest und den zweiten Ältermann zusammenscharten, und auch diese waren teils ohne Waffen erschienen.

Inzwischen waren die Langschiffe Niklots herangekommen, der Fürst stand gerüstet neben dem Steven des vordersten Bootes. Hilflos mussten die Männer an Land zuschauen, wie die Wenden Feuerbrände auf ihre eigenen Schiffe schleuderten, eins nach dem anderen stand in Flammen, und mit Schiff und Waren verbrannte auch mancher der Schifferknechte, die an Bord ihren Rausch ausschlafen wollten. Niklot erkannte die Schwäche des Gegners, er wartete, bis die ausgebrannten Schiffe im Fluß versanken, um dann erst das Zeichen zum Landen zu geben. Mit wildem Geschrei stürzten die feindlichen Krieger ans Ufer und rückten gegen die kleine Gruppe der Verteidiger vor. Da ergriffen die meisten voller Angst die Flucht, verfolgt von den siegreichen Wenden. Einer nach dem anderen wurde niedergemacht, auch Hinrich, der mutig den Angreifern entgegengetreten war, erhielt einen Schwertstreich gegen die linke Schulter und sank zu Boden. Doch das rettete ihm das Leben, denn die Wenden ließen den scheinbar leblosen Körper im Staub liegen und stürmten weiter, auf die Häuser und Hütten der Civitas zu.

Dietmar hatte ein oder zwei Gegner abgewehrt, dabei langsam rückwärts schreitend, doch er sah ein, dass ihm nur noch der Tod blieb, falls er den Kampf fortsetzen sollte. Also sprang er in eine schmale Gasse zwischen zwei Hütten, ließ die vordersten Kämpfer vorüber rennen und schlich dann hinter den Weidenzäunen, die die Grundstücke trennten, aus der Siedlung. Unbeachtet kam er auf den Marktplatz. Er schaute zurück: In der Siedlung brannte es an einigen Stellen, doch die Windstille verhinderte Funkenflug und eine Feuersbrunst. Auch sein Haus lag anscheinend unversehrt am Rand des Marktes. Doch selbst, wenn die Feinde noch einen Brand hineinwerfen sollten – die wichtigsten Dinge waren sicher versteckt: Er hatte bereits Tage zuvor vorsorglich eine Grube neben der Schmiede ausgehoben, die Truhe mit den Kleidern für den Winter, das Zinngeschirr, das er als Zeichen seines Wohlstandes jetzt nutzte, und der Lederbeutel mit den Münzen, die er zurückgelegt hatte, sie alle waren dort verborgen, mit Planken und einer Erdschicht abgedeckt. Nur Alf und sein Weib kannten die Stelle und würden sie auch wiederfinden, falls ihm etwas zustoßen sollte.

Da sah er plötzlich einen Reiter herannahen, umgeben von einem Kriegshaufen. Er erkannte Fürst Niklot sofort und duckte sich hinter den hohen Flechtzaun, der sein Grundstück abgrenzte. Der Obotritenherrscher ließ Hörner blasen und schien seine Männer auf dem Markt zu versammeln. Offensichtlich gab es in der Siedlung keinen Widerstand mehr, und der Fürst wollte wohl verhindern, dass seine Krieger sich in Plünderei verloren, ehe er nicht auch die Burg erstürmt hatte, denn er wies nach Norden, und die Wenden setzten sich in Bewegung. Da hörte Dietmar plötzlich einen lauten Schmerzensschrei und danach das Gejohle der Krieger.

Erst als die letzten Slawen abgezogen waren, wagte er sich aus seinem Versteck. Als er auf den Markt hinaustrat, um sich vorsichtig umzuschauen, sah er den Mann auf dem Boden liegen: Es war der Priester Rudolf, er trug seine Mönchskutte, sonst würde Dietmar ihn kaum noch erkannt haben. Der ganze Leib war mit Wunden von Schwert- oder Axthieben übersät, der Schädel gespalten und voller Blut. Den Schmied schauderte: Das war die Rache der Obotriten für diesen unseligen Kreuzzug gegen die wendischen Stämme, zu dem nicht nur der Heilige Vater im fernen Rom, sondern auch jener Mönch Bernhard, dieser wortgewaltige Prediger aus dem Kloster von Clairvaux, aufgerufen hatte. Und hier hatten sie einen anderen Mönch dafür büßen lassen. Dabei waren doch auch die Obotriten einmal getauft worden, aber weder die deutschen Fürsten noch sie selbst nahmen diese erzwungene Handlung ernst.

Offenbar hatte Rudolf versucht, von seiner Kirche aus die rettende Burg zu erreichen, doch die Feinde kamen ihm zuvor. Also war es auch für Dietmar nicht ratsam, sich nach Norden zu wenden, in die Siedlung zurückzukehren, schien ihm ebenfalls zu gefährlich. So überquerte er raschen Schrittes das offene Gelände und stieg den Hügel nach Osten hin hinunter, dort war er noch völlig unbewohnt, und wenn auch der Wald bereits gerodet war, blieb genügend Unterholz, um unbemerkt abzuwarten, was die Feinde vorhatten.

Zwei lange Tage hielt sich Dietmar dort versteckt, schöpfte nur etwas Wasser aus einem kärglichen Rinnsal, das in Richtung Wochenitze floß. Dann hörte er, wie die wendischen Krieger von der Burg zurückkehrten und zu den Schiffen eilten. Für eine Plünderung blieb ihnen auch diesmal keine Zeit, ihr Fürst schien zum Abzug zu drängen. Entweder zog nun Graf Adolf heran, oder der Obotrit plante weitere Überfälle, ehe es für ihn gefährlich wurde. Daß Reginalds Männer die Burg tapfer verteidigt und alle Angriffe abgewiesen hatten, erfuhr Dietmar erst später; ebenso, dass Hinrich von Soest, zwar verletzt, aber dennoch lebend, den Überfall überstanden hatte. Doch in den Häusern und auf den Straßen lagen wohl Hunderte von Erschlagenen. Das neue Liubice war schwer gezeichnet, doch es würde überleben.

*

Einer der Späher kam ins Dorf zurück und berichtete, dass die Obotriten Richtung Burg gezogen waren. Alf wollte schon in die Civitas zurückkehren, doch der Älteste hielt es für zu gefährlich, zumal die Frau doch schwanger wäre, und Rastislav und Vesna bestanden darauf, daß die beiden weiterhin ihre Gäste wären. Sie selbst nächtigten im Freien, was ihnen angesichts der Temperaturen nicht schwerfiel, aber sie wollten den Deutschen die Hütte überlassen. Alf fürchtete sich zunächst davor, mit Magdalene allein in dem kleinen Raum zu bleiben, doch die junge Frau hatte wieder ihre abweisende Haltung eingenommen. Ebenso abweisend blieb sie auch gegenüber ihren Gastgebern, doch weder Duscha noch ihre Eltern fühlten sich gekränkt, sie rechneten alles ihrer Schwangerschaft zu.

Gegen Abend wollte Alf wenigstens von ferne einen Blick auf Hafen und Siedlung werfen, der aufkommende Wind hatte leichten Brandgeruch herübergetragen, und er machte sich Sorgen um seinen Vater. Duscha begleitete ihn wie selbstverständlich, obschon es höchst unschicklich war, dass ein junges Mädchen ganz allein mit einem fremden Mann in den Wald aufbrach. Lange blickten die beiden von dem Aussichtspunkt der Späher nach Liubice hinüber. Von den verbrannten Handelsschiffen war kaum noch etwas zu sehen, nur die Langboote der Obotriten lagen bewacht im Hafen. Der größte Teil der Siedlung blieb ihnen von dort verborgen, die Häuser in Hafennähe standen größtenteils noch, einige waren nun allerdings rußgeschwärzte Ruinen. Menschen konnten sie nirgendwo entdecken, entweder waren sie tot oder geflohen.

Es dämmerte, und die beiden kehrten zurück. Alf hatte die Hand des Mädchens gefasst, während sie sich zwischen den Buchenstämmen hindurch ihren Weg bahnten, und Duscha ließ es geschehen. In dem Wald oberhalb der Fischersiedlung blieb sie plötzlich stehen und wandte sich Alf zu. „Ich mag noch nicht ins Dorf gehen,“ sagte sie, „dort müssen wir uns wieder trennen.“ Alf blickte sie an: „Möchtest du denn bei mir bleiben?“ fragte er leise. Sie nickte und schwieg. Plötzlich begann sie an ihrem Gürtel zu nesteln, öffnete ihn und ließ wortlos ihr Kleid zu Boden gleiten. Nun trug sie nur noch ihr knielanges Hemd. „Möchtest du mich fühlen?“ fragte sie, und ohne auf eine Antwort zu warten, griff sie nach Alfs Händen und presste seine Handflächen gegen ihre Brüste. Alf war so überrascht, dass er alles tat, was ihre Hände ihm vorgaben zu tun. Er spürte ihre Brustwarzen durch den dünnen Leinenstoff, und er fühlte ihren Herzschlag, und als sie ihm immer dichter kam, überwand er alle Scheu und küsste sie auf den Mund. Er drängte seinen Körper dicht an den ihren, und lange standen sie so, berührten einander, empfanden die Wärme des anderen, während die Sonnenstrahlen immer weiterwanderten.

Duscha zitterte. „Du frierst,“ sagte Alf und löste sich aus der Umarmung. Er hob ihr Kleid auf und reichte es ihr, sie streifte es über und schlang auch den Gürtel wieder um die Hüfte. „Wollen wir uns hier wieder treffen?“ fragte Duscha. „Ich habe Sehnsucht nach dir.“ „Ich auch nach dir, Duscha,“ antwortete Alf unbeholfen, und dann sagte er leise: „Ich werde dich einmal heiraten.“

Die Faehlings - eine Lübecker Familie

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