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Zweites Kapitel: Januar 1139

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Sie leuchteten wie silberne Scheibchen im Licht der tiefstehenden Wintersonne. Um jeden Schilfhalm hatte sich in der Nacht eine kleine Eisschicht gebildet, die mit den Wellen der Wochenitze einen zarten Tanz aufführten. Duscha saß am Ufer und beobachtete das Spiel. Sie hatte ein dickes Wolltuch um ihr Kleid gewickelt, auch ihr lockiges braunes Haar war unter einem wärmenden Tuch verborgen. Sie war vor wenigen Wochen sechs Jahre alt geworden und und konnte der Mutter schon in vielem zur Hand gehen. Aber heute hatte sie sich in aller Frühe aus dem Haus geschlichen, denn über Nacht war es empfindlich kalt geworden, und sie hatte gehofft, dass der Fluß bereits zugefroren wäre. Doch der sanfte Wellenschlag hatte die Eisbildung bisher verhindert, nur dort, wo die Wassertropfen an den dünnen Röhrchen des Schilfs hängengeblieben waren, waren sie Eis geworden. Aber für Duscha waren es kleine Silberstückchen, die dort glänzten.

Die kleine Slawin war ein aufgewecktes Kind, aber sie war auch voller Fantasie und voller Träume, und manchmal schalt ihre Mutter, dass sie mitten in einer Arbeit innehielt und vor sich hin blickte: „Schlaf nicht ein, Kind,“ sagte sie dann, aber Duscha blickte sie nur an und antwortete erstaunt: „Ich schlafe doch nicht! Ich denke nach.“ „Wir hätten dich nicht Duscha nennen sollen,“ seufzte die Mutter manchmal, denn „Duscha“ bedeutete soviel wie Seele, und das Kind hatte eine große Seele – wissbegierig, nachdenklich, ja, und eben oft auch verträumt.

„Hier bist du also, du Ausreißer!“ Es war die Stimme ihres Vaters, der sie aus diesen Träumen riß. „Deine Mutter sucht schon nach dir. Du hättest etwas sagen sollen, wenn du zum Fluß hinunter gehst. Und außerdem wartet der Hirsebrei auf dich. Also – marsch nach Hause!“ Aber das Mädchen blieb und blickte den Vater bittend an: „Du fährst heute wieder zu den Kaufleuten? Warum nimmst du mich nicht endlich einmal mit?“ „Ach Kind, das ist wirklich nichts für kleine Mädchen. Jetzt liegen all die Knorre und Langschiffe am Ufer, und die Schiffsknechte haben wenig zu tun im Winter. Da kommen diese Kerle oft genug auf dumme Gedanken, und eine kleine Slawin käme ihnen gerade recht.“

„Kann man denn dumme Gedanken haben? Es ist doch klug, wenn man denkt, oder?“ Der Fischer Rastislav, ihr Vater, war ein eher schweigsamer und verschlossener Mann, doch jetzt musste er lachen. „Eigentlich hast du ja recht, Duscha. Aber leider gebrauchen viele Menschen ihren Kopf nicht dazu, etwas zu lernen oder etwas Neues zu erfinden, sondern eben, um sich etwas Dummes auszudenken. Und was hat dein Kopf heute morgen gemacht, als du einfach so aus dem Haus geschlichen bist? Das war auch nicht besonders klug, findest du nicht?“ Duscha senkte den Blick: „Ja, Vater,“ sagte sie gehorsam. Dann stand sie auf und ging langsam den Hang hinauf zur Hütte ihrer Eltern, die zwischen den anderen in einem zum Fluß hin offenen Halbkreis stand.

Der Kietz, in dem sie mit den anderen Fischerfamilien wohnten, lag etwas oberhalb des Ufers, denn es geschah nicht selten, dass bei östlichem Sturm das Wasser der Trave anschwoll und auch in die Mündung der Wochenitze drängte. Dann mussten die Fischer ihre Boote höher aufs Land ziehen, während die hölzernen Stangen, an denen die Netze trockneten, manchmal schon knietief im Wasser standen. Für die Kinder war es eher ein Vernügen, in dem flachen Wasser herumzuspringen, aber an Fischfang war dann oft für mehrere Tage nicht zu denken, und die Männer gingen dann mit den Frauen zu den kleinen Äckern oben am Waldrand, um ihnen beim Unkrautjäten zu helfen.

Sonst fuhren sie mehrmals in der Woche die Trave hinunter bis zu dem Landeplatz der deutschen Kaufleute, um ihren frischen Fang gegen allerlei Dinge einzutauschen, die sie nicht selbst herstellen konnten und dennoch für das tägliche Leben brauchten. Seitdem viele Händler aus dem fernen Liubice sich hier am Hügel Bucu niedergelassen hatten, lohnte sich die Fahrt. Früher machten die Kauffahrer dort meist nur für eine kurze Rast fest und hatten wenig Lust, für ein paar Fische ihre Waren vom Schiff zu holen. Außerdem lebten damals noch mehrere slawische Fischer in Hafennähe, und die hatten stets einen Vorteil, wenn es galt, Barsche, Forellen und Aale oder gar einen Wels zu verkaufen. Doch jetzt hatten die Deutschen die wendischen Fischer dort bis auf wenige vom Ufer verdrängt, an dem nun ihre seetüchtigen Schiffe festmachten.

Auch heute wollte Rastislav seinen Fang dort anbieten, wer weiß, wie lange es noch dauerte, bis der Fluß zugefroren war, und die wenigen Fische, die sie dann noch aus Eislöchern mit der Angel herausholten, brauchten sie für die eigene Familie. Und wer wollte sich schon zu Fuß dorthin aufmachen, um den geringen Fang im Korb über den Hügel hinweg in die Siedlung zu tragen! Rastislav war gerade dabei, den schmalen Kahn ins Wasser zu schieben, als er vom Dorf her Lärm und erregte Stimmen hörte. Da kam auch schon Duscha angelaufen und rief schon von weitem: „Nicht fahren, Vater! Die Holsten kommen!“

Der Fischer hielt inne und fluchte leise vor sich hin. War also doch wahr, was die Leute im Hafen sich seit Monden erzählten? Die Holsten, diese sächsischen Mordbrenner, die immer wieder über die Grenze ins Land der Wagrier einfielen, hatten den Winter genutzt, um über hartgefrorene Sümpfe einen neuen Angriff zu führen. Und jetzt näherten sie sich also auch der Trave und Bucu. Mit einem harten Schub stieß Ratslaw seinen Kahn ins Wasser, verband ihn mit einem langen Seil und ließ ihn dann ins Röhricht treiben. Wenn die Sachsen sein Haus niederbrannten, so würde er es eben wieder aufbauen, doch wenn er sein Boot verlor, könnte es Monde dauern, ehe er eine Eiche gefällt und aus ihrem Stamm einen neuen Einbaum gehauen hätte. Viele Wochen mit schwerer Arbeit und ohne Zeit und Möglichkeit, Netze auszuwerfen. Nein, sein Boot sollten sie nicht entdecken! Er sprang in das eiskalte Wasser, um den Kahn tief hinein in das Schilf zu schieben, bis nur noch das Seil zu sehen war. Und auch das tauchte ein, wurde unsichtbar für den ungeübten Blick.

Währenddessen waren mehrere Frauen aus dem Dorf zum Ufer gekommen, um Wasser in hölzerne Eimer zu füllen. Alles hatten sie gemeinsam geplant, als ihr Dorfältester sie zur Versammlung der Männer gerufen hatte, um alle auf mögliche Überfälle vorzubereiten. In jeder Hütte wurde das Herdfeuer sorgsam gelöscht, die noch schwelende Glut mit feuchter Erde bedeckt. Das würde heute schwerfallen, war doch der Boden gefroren, aber es musste gelingen. Keine einzige Flamme durften die Feinde vorfinden, um damit Brände auf die Reetdächer zu werfen und alles niederzubrennen. Und erst mühsam Funken aus dem Stein zu schlagen, dazu nahmen sie sich meist nicht die Zeit, wo andere Dörfer zum Plündern einluden.

Warum lassen uns diese Holsten nicht in Ruhe, wo sie doch unsere Nachbarn sind, dachte der Fischer, aber er musste sich zugleich eingestehen, dass auch seine Leute immer wieder dort, jenseits der Grenze, eingefallen waren, um zu brennen und zu rauben. Erst im vergangenen Jahr war Fürst Pribislaw, statt sich an den Ranen zu rächen, ins Holstenland eingefallen, hatte Dörfer niedergebrannt und die Siegesburg zerstört, die ihm wie eine Zwingburg der Deutschen erschien. Es schien Schicksal zu sein, ein geheimer Plan der Götter, dass seit Menschengedenken Feindschaft bestand zwischen den Wagriern und den Sachsen.

Dabei kam man doch gut aus mit all den deutschen Kaufleuten, die zumeist ebenfalls aus dem Land der Sachsen kamen, allerdings von Süden her, wo ein breiter Strom fließen sollte in ein anderes Meer. Doch zum Nachdenken darüber blieb ihm jetzt keine Zeit. Sicher hatte der Dorfälteste bereits zwei junge Männer fortgeschickt als Kundschafter. Sie sollten von jenem Hang aus, wo der Höhenrücken steil abfiel in die sumpfigen Travewiesen, Ausschau nach den Angreifern halten und das Dorf rechtzeitig warnen. Dann würden alle Bewohner das Versteck aufsuchen, das sie hierfür vorbereitet hatten.

Während die Menschen der anderen Dörfer meist ziellos in die Wälder flüchteten, sich dort zerstreuten und oft genug von den Verfolgern aufgespürt und erschlagen wurden, hatten die Männer des Kietzes hier an der Mündung der Wochenitze einen besseren Plan. Ehe der Fluß sich in die Trave ergoß, hatte er viele kleine Sandbänke geschaffen, die inmitten des Schilfs nur dem Kundigen bekannt waren. Und eine besonders große Insel hatte man vor Jahren schon mit vielen Körben Erdreich gefestigt und so einen Lagerplatz geschaffen, auf dem die in den Boden gesteckten Weidenruten inzwischen zu einem dichten Gebüsch hochgewachsen waren, hinter dem sich die ganze Schar der Dorfbewohner gut verbergen konnte. Und der Zugang bestand nur aus flachen Steinen, die man möglichst unregelmäßig ins flache Wasser gelegt hatte, damit niemand sie als künstlichen Weg erkennen konnte. Auch wenn es bitter kalt war, dorthin würden alle fliehen und warten, bis die Gefahr vorüber war.

Rastislav ging eilig zu den Hütten hinauf, wo die Frauen Brot und Ziegenmilch und getrockneten Fisch in Körbe verpackten, um sie auf die Insel mitzunehmen. Nein, Feuer konnten sie dort nicht entfachen, um warmen Brei zu kochen, der Rauch würde sie sonst verraten. Alles hatten sie genau geplant und besprochen und dennoch gehofft, sie würden nie dazu gezwungen sein. Aber heute sollte es wohl anders kommen. Der Fischer trat in sein Haus. In dem einzigen Raum war es rasch kalt geworden, seitdem das Herdfeuer erloschen war. Vesna, seine Frau, und Duscha hatten sich schon in die Wolldecken gewickelt, die nun ihr einziger Schutz gegen die Kälte waren, und auch für Rastislav lag eine Decke bereit. Der Korb mit den Esswaren stand griffbereit neben der schmalen Tür. Nun galt es abzuwarten, bis die Kundschafter weitere Nachricht brachten.

Die beiden jungen Männer, die der Älteste ausgeschickt hatte, standen im Schutz der letzten Buchen, die noch unmittelbar vor dem Steilhang wuchsen, und blickten aufmerksam hinunter in das Tal der Trave. Dort erreichte ein Weg aus dem Westen das Ufer an einer festen Stelle, und wenn es auch keine Furt war, so ließ sich hier doch ein Kahn gut anlanden, um Waren oder Vieh ans andere Ufer zu bringen. Es war anzunehmen, dass die Holsten von dort her kommen würden. Und tatsächlich erkannten sie nur wenig später einige Reiter und viel Fußvolk, das sie begleitete. Ungeordnet und lärmend zog der Haufen heran. Einer der Berittenen lenkte sein Pferd ins Wasser, um die vermutete flache Stelle zu suchen, doch bald wurde der Fluß so tief, dass er umkehren musste. Nein, es war unmöglich, mit dem Fußvolk hier die Trave zu überqueren, und alle Schiffe lagen am anderen Ufer, wie sie rasch erkundeten.

Und noch etwas nahmen sie wahr: Die Männer dort, die bei ihren Schiffen standen und mißtrauisch herüberblickten, sprachen ihre eigene Sprache. Man rief zu ihnen hinüber; es waren deutsche Händler aus Bardowieck und Lüneburg und auch sonst aus dem Sachsenland, ihre Stammesgenossen. Sie weigerten sich, den ganzen Trupp überzusetzen, schließlich seien sie keine Fährleute, sondern Seefahrer, und außerdem gäbe es hier auf dem Werder seit langem keine Wenden mehr, und die würden die Holsten doch suchen. Das war zwar keineswegs die Wahrheit, doch die Kaufleute hatten nicht die Absicht, sich die umwohnenden Slawen zu Feinden zu machen, und obendrein war jeder Kriegszug nur ein Schaden für ihre Geschäfte, wenn er nicht eben diesen Geschäften dienlich war, so wie der Kampf gegen Strauchdiebe und Seeräuber.

Die Holsten berieten eine Weile. Vielleicht hatten die Worte der Kaufleute sie überzeugt, vielleicht war es auch nur das Hindernis, das der Fluß ihnen bereitete, jedenfalls wandten sie sich um und zogen nach Süden ab, folgten dem Weg, der ins Land der Stormarn führte, wohl in der Hoffnung, weiter flussaufwärts eine Furt zu finden, um ins Land der Polaben einzufallen, obwohl diese sich am Feldzug des Fürsten Pribislaw gegen die Siegesburg gar nicht beteiligt hatten. Doch für diese Horden brandschatzender Bauern waren das alles nur Slawen, heidnische Barbaren, die hölzerne Götzen verehrten und christliche Priester verjagten. Ihnen hatten sie Rache geschworen für die vielen Überfälle und vor allem für den Angriff der Wagrier im vergangenen Jahr.

Die beiden Kundschafter schauten den abziehenden Feinden nach. Während einer von ihnen vorsorglich noch auf seinem Beobachtungsposten blieb, kehrte der zweite mit der Nachricht in den Kietz zurück. Als dann auch der letzte Späher dort erschien, begann man, zunächst die Herdfeuer neu zu entzünden, und langsam kehrte der gewohnte Alltag in das Leben im Dorf zurück.

Für Duscha waren das aufregende Stunden gewesen. Zwar hatte sie von der wirklichen Gefahr keinerlei Vorstellung, die Aufregung der Mutter, die Sorge des Vaters hatten dennoch einen tiefen Eindruck in der Sechsjährigen hinterlassen. Doch auch das hatte sie gelernt: Es ist gut, voraus zu denken, Zukünftiges in Gedanken vorwegzunehmen und sich darauf einzustellen. Und – es ist gut, sich selber etwas zuzutrauen, nicht auf fremdes Urteil zu bauen, sondern der eigenen Erkenntnis zu folgen. Das würde sie ihr Leben lang nicht wieder vergessen.

Die Faehlings - eine Lübecker Familie

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