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Viertes Kapitel: August 1144
ОглавлениеDer Treck kam nur langsam voran. Es hatte wider Erwarten viel geregnet in diesem Sommer, und die Wege waren an vielen Stellen so aufgeweicht, dass jeder Karren von allen verfügbaren Männern durch die Pfützen geschoben werden musste. Die Ochsen schafften es nicht mehr allein, und manches Tier, schon in den vorangegangenen Jahren nur schlecht ernährt, blieb erschöpft und krank am Wegrand zurück, falls sein Besitzer ihm nicht den Gnadentod gewährte.
Dietmar war ein kräftiger Mann, sehnig und muskulös, man sah dem Schmied seine fünfundvierzig Jahre nicht an. Doch auch er hatte Schwierigkeiten, den Wagen vorwärtszudrücken, war er doch nicht nur mit Hausrat und Werkzeug, sondern auch mit Blasebalg und Amboß beladen, den nötigen Dingen, die er als erstes im fernen Liubice brauchen würde – falls sie es jemals erreichten. Immerhin – sein Wagen besaß zwei Achsen, und in den Seilen gingen zwei kräftige Ochsen, die sein Sohn Alf meist am Kummet führte. Im Gegensatz zu den anderen Neusiedlern waren die beiden allein, Dietmar war seit einiger Zeit Witwer, und er hatte nicht den Mut gefunden, erneut zu heiraten, denn die Schmiede in seinem Dorf nahe der Stadt Soest ging nur schlecht, allzu viele Huf- und Nagelschmiede, Plattner und Grobschmiede hatten sich in der Stadt selbst niedergelassen und boten dort schon fertige Waren an. Da wäre es schwer gewesen, nun auch noch ein Weib zu ernähren. Das alles hatte ihn bewogen, dem Ruf des Werbers zu folgen und sich dem Treck ins ferne Wagrien anzuschließen, obwohl er nichts von diesem Land wusste, außer dass dort noch viele Heiden lebten und dass es an der äußersten Grenze des Reiches lag.
Hinrich von Soest ritt mit einem Knecht dem Zug voran, und er hatte alle Mühe, den Reisenden immer wieder Mut einzuflößen. Hatten sie die sumpfigen Flussniederungen mit den aufgeweichten Wegen überwunden, dann gerieten sie in Heidelandschaften, wo die Räder im losen Sand einsanken. Wieder einmal lenkte Hinrich sein Pferd zurück, um an dem sich lang dahinziehenden Troß vorüberzureiten und auch nach den Nachzüglern zu schauen, damit sie den Anschluß nicht verpassten. Viele der zweirädrigen Karren wurden nur von einem einzigen Ochsen gezogen und bei manchen hatten sich die Männer selbst vor das Gefährt gespannt, weil sie kein Zugtier besaßen oder es seit ihrem Aufbruch im Juni eingebüßt hatten. Hinrich wurde nicht müde, die Neusiedler anzutreiben, ihnen das neue Land in den herrlichsten Farben vor Augen zu führen, damit sie nicht aufgaben und einfach wieder umkehrten. Dabei standen die größten Aufgaben noch vor ihm: Den gesamten Troß über den breiten Elbfluß zu bringen und dann der Weg durch das Gebiet der Polaben, das noch keineswegs ganz befriedet war, obschon Heinrich von Badewide nun zum Grafen von Ratzeburg bestimmt war, ein tatkräftiger und umsichtiger Mann, dem er vertraute.
Doch er war trotz allem wohlgemut. Er hatte mit Bedacht kräftige, verständige und tatendurstige junge Männer ausgewählt, darauf geachtet, dass möglich viele Handwerke vertreten waren und auch einige Händler gewonnen, die vielleicht sogar zu Kauffahrten übers Meer bereit waren. Einzig das Schmiedehandwerk war nur durch zwei Männer vertreten, deshalb hatte er auch zugestimmt, als dieser Dietmar sich bewarb. In Liubice würden Schmiede dringend gebraucht, und Dietmar war kräftig und selbstbewusst. Außerdem begleitete ihn sein Sohn Alf, der ihn später einmal ersetzen konnte. Während der Wochen, die sie nun schon unterwegs waren, hatte Hinrich darum oft Dietmars Nähe gesucht, stand er ihm doch altersmäßig am nächsten, auch hatte der Schmied mehrmals vermittelt, wenn es zu Zwistigkeiten unter den Siedlern oder auch zu Unstimmigkeiten mit ihm als Lokator gekommen war. Auch heute zügelte er sein Roß neben dem Wagen Dietmars: „Bald haben wir den größten Teil der Reise geschafft und werden die Elbe erreichen,“ rief er ihm zu. „Es wird auch Zeit,“ antwortete dieser, „meine Ochsen lassen schon nach, dabei habe ich sie noch kräftig angefüttert vor dem Aufbruch.“
„Nicht alle handeln so klug wie Ihr, ich weiß das zu schätzen.“ Hinrich sprach dieses Lob mit Bedacht aus, wollte er doch den anderen für eine wichtige Aufgabe gewinnen. „Wenn wir an den großen Fluß kommen, werden wir keine Furt finden, sondern müssen übersetzen. Das wird seine Zeit dauern, und der Treck wird auseinandergerissen. Ich werde mit dem ersten Boot fahren müssen, um drüben mit dem Burgvogt zu verhandeln. Wir betreten das Polabenland, und Graf Heinrich, der neue Graf von Ratzeburg, lag lange in Streit mit unserm Herrn Graf Adolf. Da ist Fingerspitzengefühl vonnöten, damit wir ungehindert weiterziehen können. Das bedeutet jedoch, dass am diesseitigen Ufer jemand das Beladen der Boote beaufsichtigen muß, damit niemand zu Schaden kommt. Seid Ihr jemals über einen breiten Strom gefahren, Dietmar?“
„Bislang habe ich jedes Gewässer nur in einer Furt überquert. Schiffsplanken sind mir fremd.“ „Nun, der Elbstrom ist kein Meer, die Wellen werden uns nicht zu schaffen machen, und bei Sturm gilt es einfach abzuwarten. Und der Fährmann weiß, wie viel Last er aufnehmen kann. Aber es ist dennoch wichtig, dass einer Befehlsgewalt hat, wenn viele herzudrängen. Wärt Ihr bereit, das auf Euch zu nehmen und also auch als letzter überzusetzen?“ Auf Dietmars braungebranntem Gesicht bildeten sich versteckte Lachfältchen: „Solange ich das Schiff nicht selber steuern muß!“ Hinrich von Soest sprang vom Pferd und reichte dem Schmied die Hand: „Ich bin Euch zu Dank verpflichtet. Ich weiß, dass ich mich auf Euch verlassen kann. Sobald wir das Ufer erreicht haben, werde ich alle Siedler zusammenrufen und die nötigen Anordnungen treffen.“
*
Es dauerte allerdings noch zwei volle Tage, bis der Treck vor den Toren Bardowiecks eintraf. Am nächsten Tag führte Hinrich von Soest den Zug in die Elbmarschen bis dicht an den Fluß. Dort gönnte er Mensch und Tier einen Tag der Rast, währenddessen er zum Ufer vorausritt und mit dem Fährmann die Bedingungen aushandelte, um den großen Troß überzusetzen. Auch ließ er sich einmal hinüberrudern, damit er sehen konnte, wo die Angekommenen lagern konnten. Danach stattete er dem Vogt der Ertheneburg einen Besuch ab, wies seine Empfehlungsbriefe vor und bat darum, durch die Grafschaft Ratzeburg ziehen zu dürfen. Doch der Vogt erwies sich als gut unterrichtet und gab ihm noch manchen Rat mit auf den Weg.
Am nächsten Tag setzten die Siedler über den Strom, und abgesehen davon, dass einer von ihnen in die Elbe stürzte und mühsam geborgen werden musste, verlief alles so, wie Hinrich es geplant hatte. Auch die Reise durch das Land der Polaben blieb ohne Zwischenfälle, und Ende August erreichte der Treck endlich die Wochenitze und zog durch die Furt auf den Werder von Bucu. Hinrich ließ alle auf dem großen Platz, der einmal der Markt von Liubice werden sollte, lagern und schickte den Knecht zur Burg, um Vogt Reginald seine Ankunft zu melden. Der war inzwischen nicht untätig gewesen. Die Palisaden auf dem Burgwall waren aufgerichtet, die Besatzung hatte Hütten und Ställe errichtet, eine Palisadenwand schloß nun den schmalen Hals des Werders und damit bis auf ein hölzernes Tor den Weg, der östlich der Burg aufs feste Land führte.
Auch hatten Reginalds Leute die Wege abgesteckt, die Hafen und Markt verbinden sollten, und die Grundstücke markiert, die dazwischen lagen. Dabei hatte der Vogt zuvor die Schwurgemeinschaft der Fernhändler versammelt, um mit ihnen gemeinsam zu beraten. Schon im alten Liubice an der Swartovemündung hatten sich die Kaufleute verschworen, auf ihren gemeinsamen Fahrten nach Gotland ebenso gemeinsam nicht nur Leib und Leben, sondern auch Eigentum und Waren gegen alle Angriffe zu verteidigen. Inzwischen hatte Reginald auch die letzten, am alten Platz noch verbliebenen Händler davon überzeugt, dass ihre Zukunft hier auf dem Werder von Bucu liegt, sie mit Vergünstigungen verlockt und ihre Gemeinschaft als Vertragspartner anerkannt im Namen seines Grafen. Zwei von ihnen benannte Ältermänner waren nun an allem beteiligt, was die Gründung der neuen Civitas betraf.
So ließ Reginald die beiden Ältermänner rufen, um gemeinsam mit ihnen die neuen Siedler zu begrüßen und ihnen die passenden Grundstücke zuzuweisen, nachdem Hinrich von Soest die Männer und ihre Gewerke vorgestellt und seine Empfehlung abgegeben hatte. Auch die Menge des Holzes, das sie ohne Abgaben einschlagen durften, wurde festgelegt, und zu jedem Grundstück erhielten die Neuankömmlinge, soweit es Handwerker waren, auch ein Stück Ackerland am östlichen Rand der Höhe für den eigenen Bedarf für etliche Jahre in Pacht. Bald herrschte lebhaftes Treiben dort, wo das neue Liubice entstehen sollte, erste provisorische Hütten wurden errichtet, Brunnen gegraben, und aus dem Buchenwald oben klang Axtschlag herüber.
Der Vogt hatte Dietmar ein großes Grundstück im oberen Bereich, an der Ecke einer Straße zur Fläche des späteren Marktes hin zugewiesen. Er hatte entschieden, dass alle, die viel mit offenem Feuer arbeiteten, möglichst ein Eckgrundstück erhielten. Dort war die Gefahr, dass ein möglicher Brand auf andere Häuser übergriff, am geringsten. Der Schmied war es zufrieden, die Nähe zum Markt konnte ihm nur nützlich sein, und wenn die Kaufleute unten am Hafen seine Arbeit brauchten, war er dennoch rasch zu finden. Und außerdem sollte die neue Kirche genau gegenüber auf dem weitläufigen Markt errichtet werden. Das erschien ihm eine besondere Ehre.
Dietmar hatte wie die anderen eine kleine Hütte errichtet als erste Unterkunft. Doch ehe er an den eigentlichen Hausbau ging, wurde zunächst das Gebäude für die Schmiede errichtet: Zurechtgehauene Stämme trugen das Dach, und dazwischen zog er die Wände aus Flechtwerk, dick mit Lehm bestrichen. Angesichts der offenen Esse erschien ihm das weitaus sicherer als die hölzernen Bohlen, mit denen andere ihre Behausung umkleideten. Hier war Platz für den Amboß und sein Werkzeug, denn als erster galt es, Aufträge zu sammeln. Die erhielt er reichlich, vor allem von den Händlern und Schiffsführern, denn neben Reifen für die Fässer waren es vor allem Nägel, um die geklinkerten Planken der Knorre und der anderen Langschiffe aneinander zu befestigen – und jedes neue Schiff brauchte Hunderte von Nägeln. Aber auch die Siedler verlangten nach seiner Arbeit: Türen und Fensterläden brauchten Scharniere, und so manche Truhe musste mit Beschlägen versehen werden. An Arbeit mangelte es dem Schmied in seiner neuen Heimat nicht, und Sohn Alf musste häufig zur Hand gehen, um alle Aufträge zu erfüllen.
So dauerte es bis zum nächsten Frühjahr, ehe Dietmar darangehen konnte, endlich auch ein angemessenes Wohnhaus zu errichten. Es sollte ein Hallenhaus werden, wie er es aus seiner dörflichen Heimat kannte mit viel Platz und einer erhöhten Feuerstelle. Als Ständer wählte er sorgfältig einige Eichen aus und schlug daraus kräftige Pfosten, die einige Handbreit tief in den Boden eingelassen wurden, um die Traufe zu tragen. Für die beiden Ständerreihen im Inneren, die die Dachsparren abstützten, genügte ihm Buchenholz. Die Flechtwände waren rasch hergestellt, und das Dach mit dem Schilf vom Traveufer schnell gedeckt. Vor allem aber verzichtete Dietmar darauf, wie seine bäuerlichen Nachbarn in Westfalen das Vieh mit unter das Dach zu holen. Er brauchte ja nur ein paar Schweine, um die Küchenabfälle zu verwerten, und dafür entstand im hinteren Bereich ein Stall aus Bohlen. Es gab zwar eine Quelle weiter südlich am Hang des Höhenrückens, doch der Schmied benötigte viel Wasser für seine Arbeit, und so grub er bald auch eine Zisterne auf seinem Grundstück.
Nun fehlte ihm eigentlich nur noch eines: eine Hausfrau für all die Dinge, die Weiberarbeit waren und die er nur notgedrungen selber verrichten musste. Und eine Magd, ein unerfahrenes junges Ding, mochte er sich nicht ins Haus holen. So hielt er insgeheim Ausschau nach einer passenden Verbindung. Er sollte nicht lange suchen. Unten am Hafen wohnte die Witwe eines Schiffsführers in einer ärmlichen Hütte. Der Mann war von einer Handelsfahrt nicht mehr zurückgekommen, man erzählte, dass er im Kampf mit ranischen Piraten umgekommen sei. Nur die Großzügigkeit des Handelsherren, für den er gearbeitet hatte, erhielt sie am Leben. So nahm Dietmar zunächst Verbindung mit diesem Mann auf, der gerne und nicht ganz uneigennützig zwischen den beiden vermittelte, und bald darauf holte der Schmied die neue Frau in sein Haus.
Alf, der Sohn, sah es mit gemischten Gefühlen: Auch er freute sich, dass nun wieder jemand für Brot und warme Speisen sorgte, seinen zerrissenen Rock flicken würde und das Füttern der Schweine übernahm, was sonst seine Aufgabe war. Das alles verschaffte ihm mehr Freiheit, Zeit, die er gern im Hafen verbrachte, um beim Schiffsbau zuzuschauen und die Händler mit ihren fremdländischen Waren zu beobachten. Und die neue Frau wusste auch an den langen Winterabenden viel von dem zu erzählen, was ihr erster Mann auf See und in fremden Ländern erlebt hatte. Dennoch blieb sie ihm gegenüber kühl und zurückhaltend, vielleicht, weil sie nur zehn Jahre älter war als der Stiefsohn, aber zwanzig Jahre jünger als ihr Eheherr. Da war es gut, kein Gerede aufkommen zu lassen, denn Alf war mit seinen sechzehn Jahren bereits ein hochgewachsener junger Mann, dem ein rötlicher Bart gesprossen war.
*
Der Sohn des Schmieds sah das Mädchen zum ersten Mal an einem trüben Oktobertag des Jahres 1145, als er wieder einmal zum Hafen hinuntergeschlendert war. Duscha war jetzt zwölf, noch trug sie ihr gelocktes braunes Haar offen, aber schon zeichnete sich unter ihrem Trägerrock und der Leinenbluse eine erste Rundung ab. Sie war mit ihrem Vater im Einbaum die Trave herabgekommen, jetzt sprang sie geschickt ans Ufer und zog den Kahn näher heran, während der Fischer nach zwei Körben griff, die voller Fische waren. Einen davon reichte er seiner Tochter, und so wanderten beide den Uferstreifen hinauf dorthin, wo neben einer Blockhütte einige Schiffsleute ihre Zelte aufgeschlagen hatten und sich mit Würfelspiel die Zeit vertrieben.
Rastislav hatte inzwischen so viel von der deutschen Sprache gelernt, dass er seine Ware anbieten und auch über den Preis feilschen konnte, und Duscha war eine gelehrige Schülerin. Auch wenn es ihr selber nicht bewusst war, ihre noch kindliche Weiblichkeit war eine nahezu gleiche Werbung für die angebotene Ware wie deren Frische und Qualität. So leerten sich die beiden Körbe rasch, und Rastislav konnte eine Reihe von Münzen in seinen Beutel tun, um anschließend einige davon bei einem Tuchhändler einzutauschen. Seine Frau sollte der Tochter endlich ein richtiges Kleid und eine Haube nähen, schließlich wurde sie zunehmend erwachsener.
Alf lehnte an der Hüttenwand und betrachtete die Szene, genau genommen aber galt sein Blick einzig diesem fremden Mädchen, das da so selbstsicher und mit freundlichem Lächeln Fisch um Fisch diesen grobschlächtigen Gesellen in die Hand gab und anzügliche Bemerkungen scheinbar ungerührt überhörte. Oder verstand die Kleine noch gar nicht, was diese Männer da andeuteten? Er bemühte sich, ihre Stimme zu hören, diese eigenartig harte Aussprache all der Wörter, die sie bereits beherrschte. Allzu gerne hätte er ihr ebenfalls einige Barsche abgekauft, doch er trug keinen Beutel am Gürtel. So blieb ihm nichts anderes übrig, als den stummen Beobachter zu spielen und sich fest vorzunehmen, beim nächsten Besuch im Hafen einige Münzen im Gürtel zu tragen. Die Stiefmutter wäre sicher recht erstaunt, wenn er mit einem Fisch nach Hause käme, doch verwenden konnte sie Barsch oder gar Forelle bestimmt, hatte sie doch schon häufiger Fische zubereitet.
Es mochte wohl eine Stunde gedauert haben, bis die beiden Slawen den letzten Fisch verkauft hatten und Rastislav auch mit einem Tuchhändler um den Preis einig geworden war. Er trug den Stoff vorsichtig zu seinem Kahn, während Duscha noch einen Augenblick bei einem Bernsteindreher stehen blieb und die Rosenkränze bestaunte, die er auf einem Tuch vor sich ausgebreitet hatte. Sie wusste nicht, wofür sie in Wirklichkeit dienten, doch eine schöne Halskette wären sie allemal. Alf sah ihren sehnsüchtigen Blick, und wieder wünschte er, jetzt etwa Geld in der Hand zu haben, um diesem fremden Mädchen einen Rosenkranz zu schenken – auch wenn das nun wirklich ungehörig gewesen wäre. Doch da rief der Vater, Duscha wandte sich rasch ab und hüpfte sehr kindlich zum Ufer hinunter. Alf blickte hinter ihr her, und irgendwo in seinem Brustkorb fühlte er ein heftiges Klopfen. Was es war und warum es gerade jetzt spürbar wurde – er wusste es nicht. Aber er beschloß, von nun an noch häufiger den Hafen aufzusuchen, wenn sein Vater ihn nicht in der Schmiede brauchte.
Bald hatte er herausgefunden, dass der Fischer meist zweimal in der Woche in den Hafen kam, in jedem Fall aber am Freitag dort erschien, denn für diesen Tag, der an die Kreuzigung des Herrn erinnerte, galt das Fastengebot. Fleischgenuß war dem Gläubigen untersagt, Fisch dagegen erlaubt. Das hatte auch Rastislav bemerkt und bot daher seinen Fang gern an diesem Wochentag an. Nicht immer begleitete ihn seine Tochter, und manches Mal wartete Alf vergeblich. Aber auch wenn er sich möglichst abseits hielt, Duscha war aufgeweckt genug, den jungen Mann mit dem rötlich-blonden Haar zu entdecken, und sie bemerkte wohl, dass er ihretwegen zum Hafen kam, hatte er doch offensichtlich keine Arbeiten dort zu verrichten, sondern stand nur da und schaute zu ihr herüber. Manchmal trafen sich dann ihre Blicke, und Duscha konnte sich dann ein spitzbübisches Lächeln nicht verkneifen.
Dennoch dauerte es einige Wochen, der Herbst zeigte sich bereits von seiner feuchtkalten Seite, bis Alf zögernd auf das Mädchen zuging und die Hand in den Beutel steckte. Stumm zeigte er auf den Fisch, der gerade zuoberst im Korb lag, und stumm wollte er, ohne zu feilschen, den genannten Preis zahlen. Aber Duscha sah ihn herausfordernd an, da wagte er eine Frage: „Wo kommst du her?“ Sie zeigte den Fluß hinauf: „Wo die Wochenitze in die Trave mündet, liegt unser Dorf. Und du?“ Das war ein deutliches Zeichen, dass sie das Gespräch fortsetzen wollte. „Wir wohnen dort oben, dicht an dem großen Markt.“ Und er fügte rasch hinzu, damit sie noch ein wenig neben ihm bleiben würde: „Mein Vater ist der Schmied.“ „Daß mein Vater Fischer ist, hast du ja wohl bemerkt, so neugierig, wie du uns immer zuschaust.“
Das war eine kecke Bemerkung diesem Fremden gegenüber, der zudem noch ein Deutscher war, aber als sie sah, dass er rot wurde, fasste sie Mut, ihn noch weiter zu necken: „Du scheinst nicht viel zu tun zu haben, wenn du so oft hier herumstehst.“ „Oh, ich helfe dem Vater oft in der Schmiede, aber manchmal gehe ich auch zum Hafen hinunter, um den Schiffsleuten zuzuschauen.“ Jetzt wagte Duscha ein leises Kichern: „Und den Fischern, nicht wahr?“ Alf trat verlegen hin und her und wäre am liebsten fortgelaufen, aber er blieb, auch wenn ihm keine Antwort einfiel. Dabei hätte er so gerne etwas witziges gesagt.
Duscha erlöste ihn: „Du musst den Fisch ordentlich waschen,“ sagte sie ernsthaft, als würde sie einer Hausfrau einen guten Rat mit auf den Weg geben, „sonst schmeckt er nach dem Modder, in dem wir ihn gefangen haben.“ „Du gehst auch auf Fang?“ fragte Alf erstaunt. „Mit der Angel und auch mit dem Netz, vom Ufer aus und auch mit dem Kahn,“ sagte sie stolz, um dann wieder scherzhaft anzufügen: „Du kannst doch sicher auch schon Nägel schmieden!“ „Aber ich bin älter als du,“ sagte er ein wenig beleidigt, „ich bin schließlich sechzehn.“ „Und ich bin zwölf – noch sieben Wochen lang. Dann darf ich auch das Stirnband und die Schläfenringe tragen wie alle erwachsenen Frauen. - Und dann kann ich auch heiraten,“ fügte sie unbedacht hinzu und bereute diesen Satz sofort. Aber der junge Mann sagte nichts, sondern blickte nur stumm auf den Fisch in der Hand. „Ich muß jetzt gehen,“ brachte er endlich hervor, „die Eltern warten auf den Fisch.“ Duscha nickte: „Vergiß nicht, ihn zu waschen!“ Dann griff sie nach ihrem Korb und wandte sich zum Gehen, der Vater schaute schon argwöhnisch herüber.
„Sehen wir uns wieder?“ fragte Alf leise. Das Mädchen blickte noch einmal über die Schulter hinweg zurück: „Du weißt doch, wann wir immer in den Hafen kommen, oder?“ Und dann hörte er zum ersten Mal ihr Lachen, und es klang für ihn wie – ja wie das Zwitschern eines Vogels im Garten. Und da war auch wieder dieses Herzklopfen, das er sich nicht erklären konnte. Doch als er den Weg hinaufging, begann er auf einmal zu pfeifen. Und es kümmerte ihn wenig, dass die Frau seines Vaters erstaunt aufblickte, als er ihr den Fisch hinhielt.
*
Der Winter kam mit einem ersten Schneesturm, auf den Pfützen bildete sich eine Eisschicht, und langsam froren auch die Ränder der Trave zu. Der Fischer erschien jetzt nur noch selten am Hafen, und er kam allein, denn es gab nur wenig zu verkaufen. Alf ging nun nicht mehr zum Hafen hinunter, außerdem musste er dem Vater helfen, im Wald Holz zu schlagen, denn Herd und Esse brauchten die Glut. Langsam lichtete sich der Buchenwald auf dem Werder, sie mussten bereits weiter nach Süden ausweichen, dorthin, wo der Priester Rudolf seine hölzerne Kapelle hatte. Noch war sie nicht geweiht, denn das Wagrierland hatte schon lange keinen Bischof mehr, der das tun müßte. Aber zur Messe konnten sich die Siedler dort trotzdem versammeln, denn die versprochene Kirche oben auf dem Markt ließ noch auf sich warten.
Dietmar und sein Sohn hatten vor dem Altar ein Vaterunser gebetet, und der Vater war dann mit einem Schlitten aufgebrochen, um das eingeschlagene Holz vor Einbruch der Dunkelheit auf den Hof zu bringen. „Ich schau mich nur ein wenig um, ob es hier noch Eichen gibt,“ hatte Alf noch gesagt, und der Vater hatte nur genickt. Die tief stehende Sonne war wieder einmal zwischen den dunklen Schneewolken hervorgekommen, und in ihrem Licht marschierte Alf weiter südwärts, bis der Wald zurücktrat und der Junge über verschneite Felder hinweg auf einige Hütten blickte, die oberhalb der zugefrorenen Wochenitze standen. Dort musste das Mädchen und sein Vater wohnen, da war er sich sicher. Er lehnte sich an einen Stamm und schaute hinunter. Durch die Schilfdächer drang Rauch, zwei kleine Jungen spielten auf dem Dorfplatz und bewarfen sich mit Schneebällen, sonst war niemand zu sehen.
Ich weiß noch nicht einmal, wie sie heißt, dachte er, und doch war sie ihm so vertraut wie sonst nur der Vater. Einige Male hatten sie sich in diesem Herbst noch gesehen, und er hatte es gewagt, sie anzusprechen, auch wenn er keine Fische kaufen konnte. Doch nun war Winter, der Hafen lag wie schlafend, die Seeleute hatten die Schiffe aufs Ufer gezogen, die Masten niedergelegt und die Riemen gesichert. So war auch der Fischer endgültig fortgeblieben.
Irgendwo da unten wird er seine Hütte haben, dachte Alf, und unter einem dieser Dächer würde jetzt auch das Mädchen am Herdfeuer sitzen. Ob sie nun schon das lange Gewand trägt, ihr schönes Haar unter der Haube verbirgt und mit Stirnband und Schläfenringen schmückt? Und ob die Eltern schon einen jungen Mann ausersehen haben, den sie nun bald heiraten wird? Alf schluckte bei diesem Gedanken, irgendwie machte er ihn traurig.
Eine Weile noch schaute er auf die fernen Hütten, doch niemand wollte sich auf dem Dorfplatz zeigen. Die Sonne war wieder hinter den Wolken verschwunden, ein leichter Schneefall setzte ein, es dämmerte. Da wandte sich Alf um, stapfte durch den Schnee an der Kapelle vorbei auf die Höhe des Hügelrückens hinauf und folgte dann der breiten Schneise, auf der im Sommer die Trecks der Fernhändler heranzogen, zu dem weiten Platz, der einmal Markt werden sollte, und zu dem Haus, das sein Vater dort errichtet hatte. Er war froh, dass Dietmar ihn nicht mehr nach den Eichen fragte, denn er hatte völlig vergessen, nach ihnen Ausschau zu halten.