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a) Historische und ideengeschichtliche Entwicklungslinien von der Antike bis heute
ОглавлениеKrieg und Frieden gab und gibt es als Phänomene in allen Kulturräumen der Erde und zu allen Zeiten. Folglich existierten und existieren darüber auch verschiedene Vorstellungen, die sich freilich durch die Zeitläufte hindurch immer wieder wandelten und wandeln. Für China und weite Teile Ostasiens erhielt die Philosophenschule des Mo Tse, Lao Tse und Kung Fu Tse (Konfuzius) um 550 v. Chr. eine Bedeutung, die bis heute reicht. Zwischen Euphrat und Tigris und in Südasien legten die Verfasser der althinduistischen Weden und Religionsstifter wie Zarathustra, Moses, Buddha und Mohammed den Grund für ethische Verhaltensweisen, die über Hinduismus, Buddhismus, Judentum, Christentum und Islam bis in unsere Tage die Moralbegriffe mitbestimmen (11, S. 600 ff.). Die folgende Skizze der Entwicklungslinien muss sich allerdings auf den europäischen Kulturkreis beschränken, sonst ergäbe sich ein anderes Buch. Nur vor diesem Hintergrund lassen sich dann – im Abschnitt b) dieses Kapitels – die gegenwärtigen Kontroversen über ein Verständnis von Krieg und Frieden diskutieren.
Griechische und römische Antike
Aus Heraklits (um 540 – 480 v. Chr.) nur fragmentarisch erhaltener Schrift über die Natur stammt der Satz: „Krieg ist aller Dinge Vater, aller Dinge König. Die einen erweist er als Götter, die anderen als Menschen, die einen macht er zu Sklaven, die anderen zu Freien.“ (Fragment 53) Die unaufhörlich sich bekämpfenden griechischen Stadtstaaten bildeten den Hintergrund von Heraklits Denken. Thukydides (um 460 – 405 v. Chr.), der die rationale, an Fakten orientierte Geschichtsschreibung begründete, stellte in seinem großen Werk über den Peloponnesischen Krieg – den er für die gewaltigste Erschütterung der bisherigen Menschheitsgeschichte hielt – den Zusammenhang von Machtstreben, Rüstungswettlauf und Krieg heraus. Bei ihm findet sich ein tiefes, kritisches Nachdenken über den Krieg, der nur noch wenig mit dem ursprünglich heldenhaftem Kampf zu tun hatte, sondern von Herrschsucht und Habgier gekennzeichnet war.
Dass der Krieg von Übel sei, dagegen der Friedenszustand als Inbegriff der ungestörten Einmütigkeit zu gelten habe – diese These floss seit Plato (427 – 348 / 47 v. Chr.) in die griechische Staatsphilosophie ein: Nur durch das Ziel des Friedens könne ein Krieg gerechtfertigt werden. Im Hellenismus gewann das Ideal der Eintracht unter den Völkern viele Anhänger. Und in der Philosophenschule der Stoa, die in der Folge auch das politische Denken Roms beeinflusste, wurde erstmals die Idee eines Weltstaates („Kosmopolis“) vertreten. Die Wirkungen Roms auf das Kriegs- und Friedensdenken der späteren Zeit waren allerdings zwiespältig: Einerseits kam es zu einer gewaltigen territorialen Expansion durch Krieg, andererseits zur Pax Romana, einem Rechtszustand, der dem Streit ein Ende setzte. Diese Pax erwies sich freilich als ein imperialer Frieden und beruhte allein auf der Allmacht Roms.
Frühes Christentum Mittelalter
Die Traditionen des griechischen und römischen Verständnisses von Krieg und Frieden trafen im frühen Christentum auf die Friedensbotschaft der alt- und neutestamentarischen Überlieferung. Charakteristisch erscheint hierbei, dass Frieden Bedeutungsschichten aufweist, die über die Ordnung des politischen Gemeinwesens weit hinaus reichen: „Frieden bezieht sich auf die Gemeinschaft mit Gott wie mit den Menschen; er bezeichnet das Heilsein der Gemeinschaft wie eines jeden, der in ihr lebt. Dieser alttestamentarische Grundsinn von šalôm wirkt auch im Neuen Testament fort, wo Frieden als die eschatologische Gnadengabe verstanden wird, die an das Kommen Jesu und an seine Verkündigung der nahen Gottesherrschaft gebunden ist.“ (11, S. 619)
Doch die Erfahrung zeigte, dass sich die Welt in der alltäglichen Praxis nicht so darstellte, wie sie hätte sein sollen, vielmehr immer wieder von neuem Unfrieden geprägt war. Die überweltliche Dimension des christlichen Friedenspostulats beförderte deshalb die theologische Argumentation, wonach der von Jesus gebotene Frieden nicht von dieser Welt sei und es auf Erden keinen wahren Frieden gebe, so sehr er auch als Ziel erhalten blieb.
Das Christentum wurde zur römischen Reichskirche in einer Zeit, als die Pax Romana und das Reich selbst durch die Invasion fremder Völker aufs Schwerste bedroht waren und die Kirche ihre bis dato erworbene Macht auch gegen innere Gegner behaupten musste. In dieser Situation entwickelte die christliche Theologie ihre ersten politischen Lehren, gipfelnd in Augustins (354 – 430) großem geschichtstheologischen Entwurf vom Gottesstaat (De civitate Dei). So schroff er die beiden Reiche, den Erdenstaat (civitas terrana) und den Gottesstaat, gegenüberstellt und betonte, dass Gerechtigkeit und Frieden im eigentlichen Sinne nur im Zustand jenseitiger Vollendung möglich und der irdische Frieden allenfalls Zerrbild des ewigen Friedens, somit ein unechter, ja falscher Frieden sei, so ließt Augustin doch auch diesen falschen Frieden als Frieden gelten. Das politische Gemeinwesen habe die oberste Aufgabe, den irdischen Frieden herzustellen und zu erhalten, wenngleich dieser erst im himmlischen Frieden seine Vollendung finde. Die Lehre vom irdischen Frieden verband Augustin mit der Theorie des gerechten Krieges (bellum justum): Wenn ein gerechter Grund (iusta causa) gegeben sei, so dürfe ein Krieg geführt werden.
Dieser Gedanke wurde zur Grundlage der mittelalterlichen Lehre vom gerechten Krieg, dem Thomas von Aquin (1224 / 25 – 1274), der bedeutendste Theologe und Philosoph des Mittelalters, die klassische Formulierung verlieh: Die Beteiligung am Krieg sei für Christen dann erlaubt, wenn erstens die Kriegserklärung von der autorisierten politischen Gewalt ausgesprochen werde (auctoritas principis), zweitens ein gerechter Grund vorliege (causa iusta), drittens man sich an der Wiederherstellung des Friedens orientiere (recta intentio) und viertens die Kriegsführung auf legitime Kriegsmittel beschränke (debitus modus).
Bezeichnend war mithin eine Gewichtsverlagerung weg von der Frage: Was gibt ein Recht zum Krieg und hin zu der Frage: Wer hat ein Recht zum Krieg? Wie sich die Richtigkeit der intentio feststellen lasse, blieb jedoch ebenso problematisch wie es die geforderte causa iusta war, denn es existierte ja keine übergeordnete, unparteiische Instanz, die diese Punkte hätte entscheiden können (17, S. 562; 11, S. 624).
Mittelalter
In der politisch-sozialen Ordnung des Mittelalters gab es keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Krieg und Fehde. „Fehde“ als ein Recht auf bewaffnete Selbsthilfe, also eine Art Privatkrieg zwischen zwei Freien oder ihren Sippen, machte eine allmähliche Bedeutungsverengung durch von „Rechtsstreit schlechthin“ zum „gewaltsam ausgetragenen Rechtsstreit“. Mittelalterliche Kriege waren demnach große Fehden, und Krieg wurde verstanden als das gewaltsame Durchfechten eines konkreten Rechtsstreits im Rahmen einer vorgegebenen Rechtsordnung. Die Gewaltaktionen beschränkten sich dabei allerdings auf ein Minimum: Ziel war es nicht, den Gegner zu vernichten, sondern ihn zu zwingen, den eigenen Rechtsstandpunkt als auch für sich verbindlich anzuerkennen. Frieden bedeutete vor diesem Hintergrund vor allem der Zustand wiederhergestellter Rechtsordnung (26).
Aufgrund des ausufernden Fehdewesens waren alle mittelalterlichen Frieden nurmehr Sonderfrieden. Besonders die Kirche versuchte, durch das ihr eigene Rechtsinstrument des Gottesfriedens, das später in die weltliche Rechtsetzung des Landfriedens überging, das Fehdewesen einzudämmen – es handelte sich bei diesen Maßnahmen um eine zeitlich befristete Waffenruhe. Nach solchen Anläufen ab dem 12. Jahrhundert konnte die Fehde 1413 in Frankreich verboten werden. Im Ewigen Landfrieden von 1495 wurde der Fehde auch im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation ein Riegel vorgeschoben, doch erst der moderne Staat, der nach und nach Rechtsschutz und Vollstreckungsgewalt ausbildete, mithin die Gewalt verstaatlichte, konnte das Fehdewesen schließlich ganz überwinden (27, S. 351ff.).
Jenseits des Binnenkonflikts zwischen christlichen Brüdern herrschte – gleichsam nach außen gerichtet – ein anderes Verständnis von Krieg und Frieden, wie sich an den Kreuzzügen sehen lässt. Heiden standen außerhalb der christlichen Wirkungssphäre. Zwischen Christen und Heiden war allenfalls eine concordia, eine Art gewaltlosen Nebeneinanders möglich, nicht aber eine Rechts- und damit Friedensgemeinschaft. Alle großen universalen Friedensprojekte bis in das 18. Jahrhundert hinein hatten eine pax christianitas im Blick, die nicht über die Grenzen der Christenheit hinaus reichte; dort konnten nur unbefriedete Bereiche vorherrschen.
Für den mittelalterlichen Begriff von Frieden erwiesen sich die Glaubensspaltung und der neue Kriegstypus des Religionskrieges (7), der ein konfessioneller Bürgerkrieg war, als außerordentlich folgenschwer: Der bisherige Sinn von Recht, Gerechtigkeit und Christenheit wurde plötzlich problematisch. „Die konfessionell gespaltene Christenheit vermochte Recht und Friede nicht mehr zusammenzubringen“ (16, S. 576); was die eine Konfession als Recht ansah, galt der anderen als Teufelswerk. Die Vorstellung von einem Frieden, der die als Einheit verstandene Christenheit umfassen sollte, war obsolet geworden.
Europäische Neuzeit
Die Entwicklungslinien in der europäischen Neuzeit sind an dieser Stelle nur sehr gerafft zu umreißen, da vieles ab dem dritten Kapitel der Forschungsprobleme einer genaueren kontroversen Erörterung bedarf: Die Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts verwüsteten nahezu den gesamten europäischen Kontinent und fanden erst im Westfälischen Frieden von 1648 ihr Ende. Mit ihm entstand das neuzeitliche Staatensystem. Das neue völkerrechtliche Grundprinzip der souveränen Gleichheit der Staaten schuf die Voraussetzung für die Lehre vom Gleichgewicht der europäischen Mächte. Daraus wurde auch das Recht abgeleitet, präventiv Krieg zu führen, falls ein Staat oder ein Staatenbündnis die Übermacht anstreben sollte. Der vormalige Bezugsrahmen der Christenheit wurde immer stärker durch den Begriff Europa ersetzt; Friedens- und Europaidee gingen eine enge Verbindung ein.
Als Erbschaft der Glaubensspaltung verlor der theologische Gedanke des „gerechten Krieges“ an Verbindlichkeit. Das moderne Staats- und Völkerrecht ging vielmehr davon aus, dass beide Krieg führenden Seiten für berechtigte Interessen kämpfen könnten. „Interesse“ stieg zum Zentralbegriff in den internationalen Beziehungen auf. Ein diplomatisches System entstand; Frieden wurde mit Friedensvertrag gleichgesetzt – „internationaler“ Frieden galt als ein labiler Vertragszustand.
Das „klassische“ Natur- und Völkerrecht (Francisco de Vitoria, Hugo Grotius, Emer de Vattel) reagierte auf die zunehmende Komplexität der zwischenstaatlichen Beziehungen, in denen beide Kriegsparteien rechtmäßige Ursachen anführen konnten, um in einen Krieg einzutreten. Das Problem, mit dem sich das moderne Völkerrecht zu befassen begann, war nun nicht mehr die Rechtfertigung, sondern die Regulierung des Krieges.
Die aufklärerische Kritik gegen die absolutistische Ordnung entzündete sich daran, dass der absolutistische Staat den Krieg nicht einhegte, sondern – etwa durch Eroberungssucht – offenbar die eigentliche Ursache des Krieges darstellte. Die Bruchstelle, ja eine Art Kehre in der Entwicklung des neuzeitlichen Kriegsbegriffes trat mit der Französischen Revolution ein: Galt bisher der Bürgerkrieg als das größte Übel überhaupt, welchen zu überwinden das Denken der Staatsphilosophie seit Thomas Hobbes beschäftigte, so erhielt der Bürgerkrieg nun die Weihe eines Krieges gegen den Krieg. „Entscheidend und für die Zukunft bedeutsam war, dass der Staatenkrieg nicht mehr, wie es etwa die Politiker des 16. und 17. Jahrhunderts getan hatten, als notwendiges Übel zur Vermeidung des Bürgerkrieges gerechtfertigt wurde, sondern dass genau umgekehrt der Staatenkrieg nur als eine von der überkommenen politischen Ordnung Europas erzwungene Spielart des Bürgerkrieges legitimiert war.“ (17, S. 589)
Mit dem Schlachtruf „Krieg den Palästen, Frieden den Hütten“ wurde der Staatenkrieg zum zwischenstaatlichen Bürgerkrieg umgedeutet. Krieg war nicht mehr eine Beziehung von Staat zu Staat, sondern ein Akt der Unterdrückten gegen die Unterdrücker, der Guten gegen die Bösen. Ideologisch öffnete sich das Tor zu einem „gerechten Weltbürgerkrieg“. Als logische Konsequenz riss die Französische Revolution in ihrem Friedensbegriff Staat und Frieden auseinander. Denkbar war allein ein allgemeiner Menschheitsfrieden.
19. und 20. Jahrhundert
Die Demokratisierung des Krieges ließ sich fortan nicht mehr rückgängig machen. Krieg (und auch der Frieden) musste seither auch propagandistisch vorbereitet werden. Die Diskussion über Krieg und Frieden erfuhr so eine enorme gesellschaftliche Ausweitung: Einerseits entstand im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts eine organisierte Friedensbewegung, andererseits keimte ein neuartiger Bellizismus auf, der zu einer positiven Bewertung von Krieg gelangte. Der Krieg wurde im 19. Jahrhunderts auf seine Würde hin befragt, man wollte in ihm den Motor zivilisatorischen Fortschritts und eine ewige, nicht nur historische Erscheinung sehen. Der „frische Krieg“ stand dem „faulen Frieden“ gegenüber.
Dieser Gesinnungsmilitarismus und der Lobpreis des Staatenkrieges hatten am Vorabend des Ersten Weltkrieges alle europäischen Gesellschaften erfasst. Die Tradition des revolutionären Bürgerkrieges wanderte seit der Aufklärung und der Französischen Revolution vom Liberalismus zum demokratischen Radikalismus und schließlich zum Sozialismus. In der marxistischen Geschichtstheorie war das Proletariat als historisch letzte Klasse dazu berufen, in einer letzten großen Schlacht, der Weltrevolution, die Herrschaft an sich zu reißen, damit alle Klassengegensätze endgültig zu beseitigen und so den „ewigen Frieden“ möglich zu machen.
Die ideologiegestützte Mobilisierung aller Ressourcen der Gesellschaft kennzeichnete sowohl den Ersten als auch den Zweiten Weltkrieg. Letzterer wurde im Osten Europas vom Nationalsozialismus als rassischer Vernichtungskrieg geführt. Der millionenfache Tod und die immense Zerstörung beschleunigten nach 1945 völkerrechtliche Bemühungen zur Einhegung des Krieges, und in der UN-Charta wurde den Staaten das alte ius ad bellum, das Recht zum Angriffskrieg, entzogen; auch das Kriegsrecht wurde den Weltkriegserfahrungen angepasst. Rüstungswettlauf, Kalter Krieg und so genannte Stellvertreterkriege der Supermächte in der „Dritten Welt“ blieben bis 1989 / 90 bestimmend. Neue „low intensity conflicts“, die ohne formelle Kriegserklärung beginnen, ohne formelle Friedensverträge enden und jederzeit wieder aufflammen können, prägen das Bild bis in unsere Tage. Die Akteure dieser neuen Kriege haben oftmals kein nationales Interesse an seiner Beendigung mehr. So erscheint das bedrohlichste heutige Szenario in einer fortschreitenden Entstaatlichung des Krieges zu liegen; das staatliche Gewaltmonopol verliert offenbar für den Krieg der Zukunft weiter an Bedeutung.