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d) Kriegserfahrungen und Friedenserfahrungen
ОглавлениеHinter dem Stichwort „Kriegserfahrungen“, das erst jüngst als ein neues Paradigma in die Forschung eingeführt wurde, steht ein neues kulturwissenschaftliches Forschungsprogramm, welches die sozial-, kultur- und alltagsgeschichtlichen Dimensionen des Krieges zusammen in den Blick nimmt. Es signalisiert also nicht allein das Anliegen, die historischen Subjekte, die Menschen, mit ihrer Nahperspektive auf das Kriegsgeschehen wieder zum Sprechen zu bringen, sondern holt weiter aus und zielt auf kollektive Deutungen, Sinnstiftungen und Bewältigungen von Kriegen; es modifiziert und erweitert somit den erinnerungskulturellen Ansatz.
Was heißt „Erfahrung“?
Lange Zeit standen die politisch-militärischen und die sozialgeschichtlichen Aspekte des Krieges im neuzeitlichen Europa und dessen kulturgeschichtlichen Aspekte in der Forschung relativ isoliert nebeneinander. Diese Trennung soll durch den theoretisch untermauerten Begriff „Erfahrung“ aufgehoben werden. Dieser neue starke Forschungszweig ist aus dem seit 1999 bestehenden Tübinger DFG-Sonderforschungsbereich „Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“ hervorgegangen.
Da „Erfahrung“ als historische Kategorie bislang in unterschiedlicher Weise verstanden und ausgelegt wurde, ging es zunächst um eine theoretische Fundierung des Begriffs und seine Etablierung als kulturwissenschaftliche Leitkategorie. Angeknüpft wurde dazu an verschiedene Theorieangebote, die ab den 1960er-Jahren im Bereich der philosophischen Hermeneutik und der Wissenssoziologie entwickelt worden waren. Die wissenssoziologische Fassung des Erfahrungsbegriffs beruht auf drei Grundüberlegungen: erstens der deutenden Aneignung der Wirklichkeit als eines dialektischen Prozesses, der sich zwischen gesellschaftlichen Vorgaben bzw. Konventionen und dem Individuum abspielt – Wirklichkeit erscheint mithin als das Produkt eines permanenten Kommunikationsprozesses; zweitens den Bedingungen von Erfahrungswandel im Zeitverlauf und über die Generationen hinweg; und drittens dem praxeologischen Bezug, womit die Frage angesprochen ist, welche jeweiligen Handlungen in der Praxis aus den Erfahrungen abgeleitet werden.
Damit wird deutlich, was den Begriff der Erfahrung auszeichnet und was ihn methodisch so fruchtbar macht: Dass in ihm nämlich „die Dualität von Strukturphänomenen – also das dialektische Verhältnis zwischen Akteur und Gesellschaft, zwischen Handeln und Sozialstruktur, zwischen subjektiven und objektiven Faktoren menschlicher Wirklichkeit – zum Ausdruck kommt“ (46, S. 17).
Neue Fragestellungen
Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Überlegungen konnten für die Epoche des Dreißigjährigen Krieges, die Epoche der französischen Revolutionskriege und die antinapoleonischen Befreiungskriege sowie für das Zeitalter der Weltkriege im 20. Jahrhundert Fragestellungen entwickelt werden, die über die „klassischen“ Fragen der Militärgeschichte hinausweisen, z. B.: Wie entstehen einerseits die großen Bilder und Mythen von Siegen und Niederlagen in verschiedenen Gesellschaften? Wie vertragen sich diese andererseits mit den Erfahrungen der Individuen, also Erfahrungen von massenhaftem Erleiden von Gewalt, Zerstörung, Verwüstung, Flucht, Hunger sowie Verstümmelungen und Tod in Kriegszeiten? Wie entstehen überhaupt Kriegserfahrungen? Existieren neben den Prozessen nationaler Integration und Desintegration regionale Erfahrungen, die quer zu diesen allgemeinen – und oft auch viel zu schnell verallgemeinerten – Prozessen liegen? Welche Bedeutung im Sinnstiftungsprozess hat der Faktor Religion (39)? Wie werden Kriegserfahrungen in den Medien und den Künsten symbolisiert, in den Primärerfahrungen der Zeitgenossen kommuniziert und welche Rolle spielten die Wissenschaften bei der Verbreitung von Kriegserfahrungen? Schließlich: Wie lassen sich angesichts der Monstrosität der Kriegsverletzungen Kriegsinvalidität und Körperbilder als Teil einer Erfahrungsgeschichte von Kriegen beschreiben? (58)
Defizite
In diesem weit ausholenden Forschungsprogramm blieb allerdings eine wichtige Frage weithin offen: diejenige nach der Bereitschaft zur Konfliktentschärfung, kurz gesagt, die Frage nach der Kehrseite von Krieg, dem Frieden und den „Erfahrungen des Friedens“. Auch Frieden lässt sich ja als ein soziales und kulturelles Konstrukt begreifen, und deshalb könnten hier ebenso wie beim Krieg Deutungs- und Verarbeitungsmuster aufgedeckt werden. Wie etwa verändert sich durch die Erfahrung des Krieges das Gefühl für den Zustand des Friedens?