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a) Der Westfälische Frieden 1648: Von der Verdammung zur Charakterisierung als „größtes Friedenswerk“
ОглавлениеFundamentale Bedeutung
Der Westfälische Frieden – der Frieden, der am 24. Oktober 1648 nach vierjährigen Verhandlungen von 148 Gesandten zwischen dem Kaiser einerseits und Frankreich und seinen Verbündeten (in Münster) sowie Schweden und seinen Verbündeten (in Osnabrück) geschlossen wurde und den Dreißigjährigen Krieg beendete – war ein Friedensschluss der Superlative und ist in dreierlei Hinsicht von fundamentaler Bedeutung.
Erstens: Seine europäische und welthistorische Bedeutung ergibt sich daraus, dass er die staatliche Souveränität betonte und eine zwischenstaatliche Kooperation begründete. Hier lag die Geburtsstunde der europäischen Ordnung prinzipiell gleichberechtigter Staaten. Die Eidgenossenschaft und die Generalstaaten schieden aus dem Reichsverband aus. Der Westfälische Frieden verstand es, eine höchst komplizierte Gemengelage kriegstreibender Konflikte durch Verhandlungen, Diplomatie und Verträge zu lösen. Er schuf ein durch Garantien abgesichertes europäisches Friedenssystem. Zweitens: Er schlichtete den Streit zwischen den Konfessionen. Der Augsburger Religionsfrieden von 1555 zwischen Katholiken und Protestanten wurde anerkannt und auf die Kalvinisten ausgedehnt. Eine drohende Majorisierung der Protestanten wurde durch die paritätische Besetzung der Reichsbehörden verhindert. Die Grundlage für religiöse Toleranz und Religionsfreiheit war gelegt. Drittens: Er entschied die zwischen Kaiser und Reich strittigen Verfassungsfragen. Die kaiserliche Zentralgewalt wurde beschränkt, die Reichsstände erhielten die volle Landeshoheit, dazu das Recht, Bündnisse untereinander und mit auswärtigen Mächten zu schließen, die sich jedoch nicht gegen das Reich richten durften. Bei der Führung der Reichsgeschäfte erhielten die Reichsstände wichtige Mitbestimmungsrechte; im Kräftespiel des europäischen Staatensystems waren sie zu eigenständigen Akteuren aufgestiegen. Diese innere Ausgestaltung des Reiches, die im Westfälischen Friedensvertrag ausdrücklich als Reichsgrundgesetz bezeichnet wurde, dauerte bis zum Ende des Alten Reiches im Jahr 1806.
Als historisches Thema ist der Westfälische Frieden gründlich erforscht (89). Zum 350. Jubiläum dieses säkularen Ereignisses der europäischen Geschichte im Jahr 1998 erschienen zahlreiche grundlegende Werke, die den neuesten Stand der internationalen Forschung widerspiegeln. Namentlich der von Heinz Duchhardt herausgegebene Sammelband, der eine Tagung von weit über hundert Fachleuten aus ganz Europa und den USA dokumentiert, ist hier zu nennen (85; auch 125), aber auch der voluminöse dreibändige Ausstellungskatalog „1648 – Krieg und Frieden in Europa“ (79).
Verunglimpfung
Das Bild des Westfälischen Friedens schwankte indessen durch die Zeitläufte hindurch ganz beträchtlich, er hat überaus kontroverse Deutungen und zeitbedingte Wertungen erfahren – in der Geschichtsschreibung, aber auch in der politischen Auseinandersetzung. In dieser Hinsicht steht er dem Versailler Vertrag von 1919 in nichts nach, es wurden sogar wiederholt Parallelen zwischen beiden Friedensschlüssen gezogen.
Während der längsten Zeit des Bestehens des Alten Reiches erfreute sich das Vertragswerk einer Wertschätzung, die großenteils auch noch im Zeitalter der Aufklärung aufrechterhalten blieb (109). Mit der Französischen Revolution, dann aber vor allem mit der Auflösung des Alten Reiches im Jahr 1806 begann ein dramatischer Historisierungs- und Politisierungsschub (130). Als die „Nation“ in der Epoche der Befreiungskriege die Spitzenstellung in der Hierarchie der Loyalitäten errang und ältere Bezüge wie Konfession, Stand oder Dynastie auf die Plätze verwies, als zudem dieses neue deutsche Nationalbewusstein sich aus der Feindschaft gegenüber Frankreich speiste – sah man den Westfälischen Frieden als Produkt einer angeblichen deutsch-französischen Erbfeindschaft.
Die dann aufkommende borussisch-kleindeutsche Geschichtsschreibung seit Johann Gustav Droysen (1808 – 1884) brach endgültig den Stab über diesen Frieden. Wenn einzig und allein die Idee eines mächtigen zentralen Nationalstaates unter Preußens Führung zur Richtschnur genommen wurde, um den Westfälischen Frieden zu bewerten, lagen die vernichtenden Urteile auf der Hand: Deutschland sei ohnmächtig gehalten und zum Spielball fremder Interessen degradiert worden. Dem Kardinal Duc de Richelieu (1585 – 1642), der als Vordenker eines Universalfriedens im Interesse der französischen Außenpolitik gelten kann, wurde nun eine antideutsche Politik vorgeworfen: Sein Ziel sei es gewesen, einen deutschen Nationalstaat zu verhindern. Und dieses Ziel, nämlich das „ewige“ Vormachtstreben Frankreichs, habe 1648 wahre Triumphe gefeiert.
Eigensüchtige Sonderinteressen der deutschen Fürsten hätten Deutschland zugrunde gerichtet. Die einschlägigen Verdikte lauteten: „Kleinstaaterei“, „Duodezfürstentümer“, „Zersplitterung“, „Flickenteppich“. Schwäche, Zerrissenheit, Verfall: Das Jahr 1648 erschien so als der Tiefpunkt der deutschen Reichsgeschichte
Solche Wertungen blieben nach Weltkriegsniederlage, Monarchiesturz und Republikgründung auch in den 1920er-Jahren bestehen, erhielten durch den Versailler Vertrag allerdings noch zusätzliche politische Imprägnierungen: Das zweite Mal sei ein französisches Diktat zur Niederhaltung und Erniedrigung des Deutschen Reiches erfolgt, gegen welches sich das deutsche Volk wehren müsse (98, S. 374). Besonders die Nationalsozialisten hatten Interesse an einer solchen negativen Kontinuitätslinie 1648 – 1919, sie propagierten deshalb lautstark die Zerstörung des angeblich 1648 in Münster geschaffenen und 1919 in Versailles gekrönten Werkes französischer Hegemonialpolitik zur Unterwerfung Deutschlands. Die neue Universalmacht auf dem europäischen Kontinent sollte fortan das „Großdeutsche Reich“ sein.
Wiederentdeckte Bedeutung
Nach Nationalsozialismus, Zweitem Weltkrieg und bedingungsloser Kapitulation des Deutschen Reiches gedachte man 1948 öffentlich aufwändig der 300-jährigen Wiederkehr des Westfälischen Friedens. Die Verdammung des Friedenswerkes durch die nationalistische Historiographie war nach ihrer für alle sichtbaren Diskreditierung zu Ende, es begann die Zeit einer historisch neutralen, empirischen Detailforschung im Westen Deutschlands, die ihren Höhepunkt mit dem Werk von Fritz Dickmann erreichte (82). Während die DDR-Geschichtswissenschaft mit dem Westfälischen Frieden wenig anfangen konnte, weil man dort auf die „frühbürgerliche Revolution“ fixiert blieb, der für einen Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus größte Bedeutung zugemessen wurde, erfreut sich das Alte Reich in der Bundesrepublik seit den 1970er-Jahren nicht nur eines steigenden Interesses. Es wurde unter föderalen, europa- und friedenspolitischen Gesichtspunkten sogar zunehmend freundlicher beurteilt und aus der „unangemessenen nationalgeschichtlichen Betrachtungsweise herausgelöst“ (120, S. 61; 73). Viele Frühe-Neuzeit-Experten versuchten, „eine Brücke zur historisch-politischen Kultur der Gegenwart“ zu schlagen, das frühneuzeitliche Geschichtsbild kehrte sich fast vollends ins Positive, ja Vorbildhafte um (128, S. 10). Am pointiertesten rückte Johannes Burkhardt den Westfälischen Frieden anlässlich seines 350. Jubiläums in eine neue Perspektive und beschrieb ihn als das „größte und grundlegendste Friedenswerk der Neuzeit, vielleicht der Geschichte überhaupt“ (77, S. 593).
Als Friedensrezept sei das Staatensystem etabliert worden, das als Grundprinzip des Friedensschlusses bis in die Gegenwart fortwirke. Das alte universalistische Europabild, an dessen Spitze ein Imperium und ein Herrscher zu stehen habe, sei vollständig revolutioniert worden. Die allgemein geteilte Einsicht nach dreißigjährigen grausamen Kämpfen hieß: Keine der Mächte konnte mehr die Spitzenstellung in Europa einnehmen, die neue Ordnung musste auf einem staatlichen Nebeneinander beruhen. „Der Friede war nur zu erlangen durch ein prinzipielles Abrücken aller von Maximalzielen und wurde dabei zu einer wichtigen Zäsur in der Ausbildung des europäischen Staatensystems. Das Staatensystem ist als Friedenskompromiss entstanden und erwies sich so als grundlegendes Konfliktlösungsmittel Europas.“ (77, S. 595) Das Modell der prinzipiellen Gleichrangigkeit aller Staaten ist so in das Völkerrecht gelangt – und dies bereits eineinhalb Jahrhunderte, bevor das moderne Prinzip der Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz in der Französischen Revolution formuliert wurde. Warum der Frieden allerdings nur wenige Jahre hielt und anschließend wieder zahlreiche Kriege ausbrachen – diese Frage lässt sich nur mit einer neuen Theorie der frühneuzeitlichen Bellizität beantworten (siehe dazu Kap. III., 5).
Altes Reich als Friedensmacht
Als die am meisten verkannte Leistung des Westfälischen Friedens bezeichnete Burkhardt die frühmoderne deutsche Verfassung. Sie etablierte in der Mitte Europas eine Friedensmacht mit geradezu erstaunlich modernen Zügen. Der Westfälische Frieden wurde zu einer Art Grundgesetz des Alten Reiches, und diese Verfassung war nicht nur die bislang dauerhafteste in der deutschen Geschichte überhaupt, sondern strahlte normativ auch nachhaltig in die Zukunft aus. „Mit dem Westfälischen Frieden bekamen und gaben sich die Deutschen früher als alle anderen in Europa ihre erste geschriebene Verfassung.“ (77, S. 598) Dieser deutsche „Verfassungsstaat“ habe unterschiedliche Kräfte auf zentraler und föderaler Ebene meisterhaft ausbalanciert, er habe zukunftsweisende Institutionen wie den Reichstag als erstes „stehendes“ Parlament oder das Reichskammergericht als Hüter des „Rechtsstaats“ etabliert und so geradezu vorbildlich den inneren Frieden gesichert. „Wer in der Bundesrepublik Deutschland lebt, dem wird dieses politische System bei allen Gewichtsverschiebungen zwischen Bund und Ländern nicht ganz unbekannt vorkommen. Der Westfälische Friede kodifizierte bis heute wirksame föderalistische Traditionen der deutschen Verfassungsgeschichte.“ (77, S. 602)
Reich und Territorien waren in der Frühen Neuzeit somit direkt aufeinander bezogen und angewiesen. Nirgends zeigte sich dies so deutlich wie bei der Reichskriegsverfassung; armiert waren die Territorien, ein Reichskriegsrat fehlte, das Reichsheer war ein Heer der Reichskreise. In einem anderen Beitrag formulierte Burkhardt deshalb: „Die Verteilung der Staatlichkeit auf zwei Ebenen eigenen Rechts, deren Zusammenwirken erst einen Reichskrieg überhaupt ermöglichte, erfüllt fast schon das heutige politische Ideal struktureller Nichtangriffsfähigkeit eines politischen Systems.“ (196, S. 536 f.) Des Weiteren habe der Westfälische Frieden den Religionskrieg zumindest im Reich überwunden und dort den Religionsfrieden geschaffen. Fasst man diese neuen Deutungen, die auch Eingang in eine neue Gesamtdarstellung des Alten Reiches gefunden haben (132), zusammen, so lassen sich drei wichtige Friedensstrategien benennen: 1. Frieden durch Staatensystem, 2. Frieden durch Recht, 3. Frieden durch Normbildung.
„Westphalian System“
Allerdings ist die Kritik an dieser sehr aktualitätsbewussten Deutung, die das Alte Reich in struktureller Hinsicht fast als Vorläuferstaat der Bundesrepublik interpretiert, nicht ausgeblieben. Abgesehen von der grundsätzlichen Frage, wie stark man Geschichte aus der Optik der Gegenwart und zur aktuellen politischen Orientierung schreiben darf, sind ferner empirische Einwände vorgebracht worden: Die gerade auch in der amerikanischen Politikwissenschaft vorherrschende Denkfigur des „Westphalian System“ – die eine Kontinuität vom Westfälischen Frieden bis zur gegenwärtigen europäischen oder gar weltweiten Staatenordnung postuliert (116) – erscheint demzufolge fraglich.
Für die Geschichtswissenschaft sei das Modell vor allem mit Blick auf den sehr langen Zeitraum viel zu holzschnittartig, um produktiv genutzt werden zu können. Heinz Duchhardt schrieb: „Nun zuckt der Historiker hier natürlich zurück. Staatswerdungsprozesse auf einen Punkt zu fokussieren, den Übergang zur staatlichen Souveränität erst in der Mitte des 17. Jahrhunderts zu verorten – das widerspricht ja wohl allen Tendenzen der Forschung der letzten Jahrzehnte.“ (90, S. 308) Frankreich und Spanien etwa waren bereits souveräne Staaten. Der Westfälische Frieden verhinderte auch nicht, dass ein souveräner Staat wie Polen formal seiner Souveränität wieder beraubt wurde. Das Prinzip der Ebenbürtigkeit aller Staaten auf der diplomatischen Ebene schloss seinerseits wiederum nicht aus, dass sich privilegierte Staatengruppen wie im 18. Jahrhundert die Pentarchie (England, Frankreich, Österreich, Preußen, Russland) herausbildeten. Das Gleichgewicht als internationales System ist Duchhardt zufolge erst ein halbes Jahrhundert nach dem Friedensvertrag, also in den 1690er-Jahren, geschaffen worden. Und was schließlich die Hochschätzung der Flexibilität, Integrationskraft und regionalen Vielfalt des Alten Reiches anbelangt, so könne – wie etwa Heinz Schilling einwandte – diese Sichtweise die Reformunfähigkeit des Reiches am Ende des 18. Jahrhunderts nicht hinreichend erklären (129).
Wenngleich man auch diese Schwächen der Friedensordnung von 1648 benennen muss, so ist es doch bemerkenswert, in welcher Art und Weise die Beteiligten am Westfälischen Frieden aus dem Dreißigjährigen Krieg herauskamen, dessen Grausamkeit alle bisherigen Dimensionen gesprengt und der eine höchst verfahrene politische und religiöse Situation in Europa hinterlassen hatte. Angesichts einer massiven Erschöpfung der Krieg führenden Parteien gab es einen starken Impuls zur Beendigung des Konflikts. Zudem war die Fähigkeit zum Ausgleich und Kompromiss, die sich auch auf neue Ordnungsansätze einließ, erstaunlich. Es ist eindrucksvoll zu sehen, wie inmitten einer Ständegesellschaft eine Form von partnerschaftlicher Gleichheit – und zwar zwischen Staaten, zwischen kooperierenden Reichsebenen und zwischen paritätischen Konfessionen – als Lösungskonzept herangezogen wurde (77, S. 609). Und es spricht auch nichts dagegen, interessante Entwicklungspotenziale, die die frühe Neuzeit im Allgemeinen und das Alte Reich im Besonderen in sich bargen, stärker als es lange Zeit geschehen war, an die deutsche Geschichte erkenntnisproduktiv anzukoppeln. Der Westfälische Frieden war nur eine Station auf dem Weg zu einem Staatensystem, und die Staatsbildung verlief zudem von Land zu Land unterschiedlich – aber ein neues Modell war 1648 gefunden worden: Erstmals wurde in Europa politisch-rechtlich von der Vorstellung abgerückt, dass eine einzige Macht in Europa den Vorrang haben müsse. Vieles im Alten Reich war historisch andersartig als es heutige Strukturen sind – aber gerade in dem oben genannten institutionellen Bereich (Verfassung, Rechtsstaatlichkeit, föderative Strukturen) lagen innovative Potenziale begründet, die, aller später eingetretenen Wandlungen zum Trotz, weit in die Zukunft wiesen.