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b) Gegenwärtige Theorien über Krieg, Konflikt, Gewalt und Frieden
ОглавлениеWas ist Krieg? Was ist Frieden?
Antworten auf die Frage, was Krieg und Frieden überhaupt seien, bereiten der Forschung große Schwierigkeiten und führen auch zu Widersprüchen. Denn Krieg und Frieden sind, wie bereits gesehen, historischen Veränderungen unterworfen, ihre Definition ist abhängig von politischen Interessen sowie rechtlichen Interpretationen, und überdies bestimmen unterschiedliche kulturelle Traditionen ihr jeweiliges Verständnis. Krieg entzieht sich mithin „einer dauerhaften Definition gerade aufgrund seiner Historizität“ (37, S. 17).
Manche der heutigen Forscher wollen den Kriegsbegriff ausschließlich auf bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Staaten beschränkt sehen, andere wiederum möchten ihn auch auf solche zwischen gesellschaftlichen Gruppierungen anwenden. Beim Friedensbegriff ist die Bandbreite der Ansichten nicht geringer, was Ernst-Otto Czempiel zu der fast resignativen Aussage veranlasste, Frieden könne ebenso wenig definiert werden wie Gesundheit (9, S. 5). Auch die theoretisch noch definierbare Scheidelinie zwischen Frieden (Nicht-Krieg) und Krieg ist empirisch häufig kaum genau auszumachen.
Carl von Clausewitz
Die berühmteste moderne Definition des Krieges stammt von Carl von Clausewitz. In seinem Hauptwerk, „Vom Kriege“, das zwischen 1816 und 1830 entstand, jedoch niemals ganz vollendet wurde, schrieb er: „So sehen wir also, dass der Krieg nicht bloß ein politischer Akt, sondern ein wahres politisches Instrument ist, eine Fortsetzung des politischen Verkehrs, ein Durchführen desselben mit anderen Mitteln.“ (8, S. 39)
Clausewitz’ Formel wurde viel zitiert und häufig missverstanden. Selbst Raymond Aron meinte, dass sich dessen Anliegen darauf beschränke, den Primat der Politik gegenüber der Kriegführung festzulegen (6, S. 427f.). Für Clausewitz aber war Krieg grundsätzlich immer: ein politischer Akt, ganz unabhängig davon, welche Form er annimmt und unter welcher Leitung er steht. Krieg hatte für ihn zwar eine eigene Grammatik, aber keine eigene Logik. Gleichwohl lässt sich darüber streiten, ob die Grammatik des Krieges nicht auch zur Logik der Politik werden kann. Auf mindestens vier soziopolitischen Voraussetzungen beruhte Clausewitz’ Kriegsdefinition: erstens auf der Durchsetzung des Territorialstaates als Monopolist des Krieges; zweitens auf der Trennung von innen und außen, also der Unterscheidung von Militär und Polizei, drittens auf der scharfen Trennung von Kriegszeiten und Friedensperioden sowie viertens auf der Trennung von Schlachtfeld und Hinterland, wodurch Krieg räumlich und zeitlich konzentriert, ferner eine Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nonkombattanten vorgenommen wurde (35). Es handelt sich bei ihm somit um den zwischenstaatlichen Krieg als den klassischen europäischen Kriegstypus.
Thomas Hobbes
Krieg und Frieden sind nicht losgelöst voneinander zu behandeln, und bis heute stehen sich, idealtypisch betrachtet, zwei weltanschauliche Grundpositionen gegenüber. Die eine ist mit dem Namen des englischen Staatsdenkers Thomas Hobbes (1588 – 1679) verbunden: Für ihn, der unter dem Eindruck des englischen Bürgerkrieges schrieb, ist der Mensch von Natur aus ein streitbarer Egoist, ein Wesen, das sich durch Konkurrenz, Misstrauen und Ruhmsucht auszeichnet. Der Naturzustand wird somit als ein „Krieg aller gegen alle“ geschildert, was zu der berühmten Formel homo homini lupus (der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) führte. Nur durch eine mächtige Staatsgewalt, hergestellt durch einen inneren Vertrag und durch Gesetze, mit dem die Individuen Rechte abtreten, kann der – wohlgemerkt – innere Frieden hergestellt werden. Der Staat vereint so die gesamte Macht der Vertragspartner; er sorgt für den inneren Frieden und die Verteidigung – oder einen Abschreckungsfrieden – nach außen (14).
Durch diese Machtkonzentration nimmt allerdings die Gefahr äußerer Kriege zu. Mit Blick auf den Kalten Krieg und die Abschreckung – wofür Hobbes immer wieder als Kronzeuge genommen wurde – schrieb der Politologe Dolf Sternberger: „… wir wollen den Zustand der Kampflosigkeit bei gleichzeitiger Hochrüstung nicht als einen Zustand des Friedens, eher schon, wie man gesagt hat, des ‘Schreckensfriedens’ oder des ‘Zitterfriedens’, aber gewiss ebenso wenig als einen Zustand des Krieges bezeichnen, sondern als einen solchen des Unkrieges, wenn die Prägung erlaubt sei; sie entspricht und antwortet dem älteren und vertrauten Wort ‘Unfriede’“ (5, S. 13).
Jean-Jacques Rousseau
Die andere Grundposition verkörperte der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778), der als Vordenker der Französischen Revolution in die Geschichte einging. Anders als Hobbes lebte er in einer Zeit, in der sich der moderne Staat bereits konsolidiert hatte. Die Sicherung des inneren Friedens erschien nicht mehr als das drängendste Problem, sondern die des äußeren. In Rousseaus Denken ist der Mensch von Natur aus gut und gesellig, doch diese Tugenden sind durch den Staat und die Gesellschaft des Absolutismus verdorben worden. Käme es zum freien Ausleben menschlicher Bedürfnisse, würde die Unterdrückung der natürlichen Güte des Menschen durch das bestehende absolutistische Herrschaftssystem beseitigt, würde sich der Frieden von alleine wieder einstellen. In der Logik dieses Denkens ist die Freiheit dem Frieden vorgelagert, ein Umstand, der allerdings dazu führen kann, dass im Namen der Freiheit Kriege vom Zaun gebrochen werden (29).
Gegenwärtige Antworten
Wenn Krieg ganz allgemein bestimmt werden kann als kollektives Gewalthandeln, so müssen zur Präzisierung unterschiedliche qualitative und quantitative Kriterien herangezogen werden. Melvin Small und J. David Singer definierten für ihre Forschungen, man könne quantitativ dann von Kriegen sprechen, wenn es eine Mindestzahl von Toten – sie nannten die Zahl von mehr als 1000 Toten – gebe (32). Doch eine solche quantitative Festlegung erscheint vielen Wissenschaftlern zu Recht höchst problematisch. Wie kann man, so lautet eine damit zusammenhängende Frage, Krieg qualitativ von Unruhen, Massakern, Terroraktionen oder Staatsstreichen unterscheiden? Allgemein anerkannte qualitative Bedingungen, zumindest für die Zeit nach 1945, beruhen auf den Forschungen von Klaus-Jürgen Gantzel und Torsten Schwinghammer (13, S. 31): Krieg sei ein gewaltsamer Massenkonflikt, der alle folgenden Merkmale aufweise: 1. An den Kämpfen sind zwei oder mehrere Streitkräfte beteiligt, bei denen es sich mindestens auf der einen Seite um reguläre Streitkräfte der Regierung handelt. 2. Bei allen Beteiligten muss ein Mindestmaß an zentral gelenkter Organisation der Truppen und des Kampfes gegeben und entsprechend muss eine politische Verantwortlichkeit für den Gewalteinsatz erkennbar sein. 3. Die bewaffneten Operationen müssen sich mit einer gewissen Kontinuität und nicht nur als gelegentliche spontane Zusammenstöße ereignen.
Wie schwierig es letztlich aber ist, Krieg gegenüber anderen Gewaltformen abzugrenzen, zeigt sich allein schon im Sprachgebrauch: Nicht selten werden Synonyme wie bewaffneter Konflikt verwendet oder Attribute bzw. Komposita wie ethnischer Krieg oder Stammeskrieg hinzugefügt. Typologisch lassen sich prinzipiell eine ganze Reihe von Kriegen unterscheiden. Nach ihrer historischen Erscheinung etwa Kabinettskriege im Absolutismus oder Kolonial- und Dekolonisationskriege im 19. und 20. Jahrhundert; nach Art der Kriegsführung etwa Stellungskriege oder Guerillakriege; nach Art der Kampfmittel etwa konventionelle Kriege oder Atomkriege; nach Ausmaß der Kämpfe etwa begrenzte oder totale Kriege. Eine rechtstheoretische Definition von Krieg geht vor allem auf das erstmals 1942 erschienene Werk von Quincy Wright „A Study of War“ zurück. Er bezeichnete Krieg als „den Rechtszustand, der es zwei oder mehr feindlichen Gruppen gleichermaßen zulässt, einen Konflikt mit Waffengewalt auszutragen“ (38, S. 698).
Wie entstehen Kriege?
Die historische und sozialwissenschaftliche Forschung hat sich ausgiebig mit den jeweiligen Legitimationsstrategien von Kriegen beschäftigt. Jede Kultur entwickelt demnach charakteristische Rechtfertigungsschemata für ihre Kriege (23; 28). Trotz vieler Versuche ist die Forschung dennoch weit von gesicherten Theorien über Kriegsursachen bzw. die Bedingungen für den Ausbruch von Kriegen entfernt. Bisher hat beispielsweise die Überlegung nur wenig Aufmerksamkeit gefunden, ob und gegebenenfalls welche strukturell ähnlichen Prozesse im Vorfeld von Kriegen zu beobachten sind. Zumeist werden drei miteinander verbundene Ebenen unterschieden: die gesellschaftspolitische, die internationale und die sozialpsychologische. Nützlich sind in diesem Zusammenhang die Überlegungen von Nicholas S. Timasheff (34), demzufolge Kriege ausbrechen, wenn vier Bedingungen zusammentreffen: 1. Es gibt ernsthafte Konflikte, die wesentliche Elemente des Machtsystems der beteiligten Parteien berühren (Konfliktbedingung). 2. Alle friedlichen Mittel der Konfliktlösung müssen zumindest von einer Partei als äußerst unangemessen oder erschöpft angesehen werden (Gewaltbedingung). 3. Die relative Stärke jeder Seite muss von der anderen so wahrgenommen werden, dass jede Seite meint, sie habe wenigstens eine gleiche Siegeschance (Gleichheitsbedingung). 4. Die Abwesenheit von starken normativen Barrieren gegen den Krieg (Normbedingung).
In der Forschung formierte sich bald eine Gegenbewegung, die argumentierte, dass die Frage nach den Bedingungen des Friedens nicht auf die Frage nach den Ursachen des Krieges eingeengt werden dürfe. Daraus entstand in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts eine neue, sich selbst als „kritisch“ titulierende Friedensforschung. Vertreter dieser Richtung kritisierten an der bisherigen „konventionellen“ Friedens- und Konfliktforschung, dass diese eher an einer Stabilisierung der internationalen und innerstaatlichen Beziehungen interessiert gewesen sei denn an einer Aufdeckung der tatsächlichen Konfliktursachen und daraus abzuleitender Veränderungen der internationalen Beziehungen wie der gesellschaftlichen Verhältnisse (19, S. 220ff.; 18; 26).
Seither streitet sich die Forschung um einen geeigneten Friedensbegriff. Die „kritische Friedensforschung“ weitete den Frieden auf den Gesamtbereich der sozialen Gerechtigkeit aus. So kam es zu einer Neuformulierung des Friedensbegriffes, der nun die Abwesenheit von direkter Gewalt (Krieg) und struktureller Gewalt (z. B. ungleiche Machtverhältnisse, ungerechte Ressourcenverteilung, Hunger und Verelendung) unterschied.
Galtung: „strukturelle Gewalt“
Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung, der als Vater der „kritischen Friedensforschung“ gilt und das Konzept der strukturellen Gewalt entworfen hat, schrieb: „Gewalt liegt dann vor, wenn Menschen so beeinflusst werden, dass ihre aktuelle somatische und geistige Verwirklichung geringer ist als ihre potenzielle Verwirklichung.“ (12, S. 57) Seine These beruht auf der Annahme, dass Macht und Herrschaft keineswegs allein der militärischen Gewalt bedürfen, um ausgeübt zu werden, sondern sie sich sehr viel subtilerer Instrumente bedienen können, um Vorteile zu sichern oder ungerechte Strukturen durchzusetzen bzw. zu erhalten. Mit anderen Worten: Die Schädigungsfolgen von Gewalt können angestrebt oder unbeabsichtigt sein, sie können direkt oder indirekt, latent oder potenziell auftreten, physische oder psychische Formen annehmen. Innerstaatliche und zwischenstaatliche Gewalt werden von Galtung zwar unterschieden, zugleich jedoch der enge Zusammenhang zwischen beiden Formen hervorgehoben.
Aber wenn „Gewalt“ weit über „physische Gewalt“ hinaus reicht, wenn also überall Gewalt diagnostiziert wird, gehen mit Blick auf die wissenschaftliche Operationalisierung der Gegenstand Gewalt und auch der Gegenstand Frieden verloren, wie Galtungs Kritiker sofort einwandten. Die Entgrenzung des Gewaltbegriffes rief unzählige heftige Reaktionen hervor. Peter Graf von Kielmansegg etwa bemerkte: „Die Vorstellung von der Allgegenwärtigkeit der Gewalt, wie sie der Begriff der strukturellen Gewalt einführt, hat nun zwei Konsequenzen. Die eine: wer zu Gewalt greift, überschreitet keine Grenze – wir alle leben, als Betroffene wie als Handelnde, immer schon jenseits dieser Grenze. Die zweite: es gibt keine politische Ordnung, die nicht als illegitime Gewaltherrschaft begriffen werden könnte und das heißt: Gegengewalt kann immer gerechtfertigt werden.“ (DGFK-Mitteilungen 1 / 79, S. 22)
Angesichts der terroristischen Bedrohung in der Bundesrepublik Mitte der 1970er-Jahre warnte Karl-Dietrich Bracher, die verführerische Theorie der strukturellen Gewalt „liefert das intellektuelle Rüstzeug zum Ausbruch aus der Gesellschaft und ermöglicht ein anfängliches Verständnis für die Taten des Terrorismus“ (Die Zeit, 2. 12. 1977). Aber provoziert Gewalt notwendigerweise Gegengewalt? Der Gegenbegriff von Gewalt, so wurde repliziert, sei ja nicht Gegengewalt, sondern Gewaltfreiheit. Auch für die „kritische Friedensforschung“ ist unstrittig: Konflikte sind aus dem menschlichen Zusammenleben nicht wegzudenken. Sie haben indes, wenn sie nicht gewalttätig, sondern gewaltfrei ausgetragen werden, eine Reihe positiver Funktionen, so vor allem, dass sie Alternativen vorstellen und der Demokratie ihre Dynamik verleihen.
Dass Gewalt in den Strukturen, also in den Prozessmustern selbst, liegen kann und nicht direkt ausgeübt zu werden braucht – darauf haben Galtung und der immer breiter werdende Strom der „kritischen Friedensforschung“ aufmerksam gemacht. Ernst-Otto Czempiel verdeutlichte jedoch, wie schwierig im konkreten Fall eine Begriffsbestimmung von Gewalt sein kann: „Wie beispielsweise die Diskussion um die Neue Weltwirtschaft zeigt, wird von einigen Ländern in der Dritten Welt sogar als ‘Gewalt’ der Industriestaaten empfunden, was aus deren Perspektive sich so überhaupt nicht darstellt. Ein industriell hoch entwickelter Staat, der im internationalen Wirtschaftssystem seine Standortvorteile wahrnimmt, übt sicher keine Gewalt aus, wenn er durch die Ausnutzung seiner Vorteile anderen Ländern wirtschaftliche Vorteile nimmt und dadurch Hunger und Armut bewirkt. Hier hat also ein Verhalten, das beim besten Willen nicht als Gewalt bezeichnet werden kann, Folgen, die auf der Adressatenseite zu Recht als gewaltsam angesehen werden.“ (10, S. 49f.)
Positiver und negativer Frieden
Weite Verbreitung hat in der Folge dieser heftigen Debatte um einen neuen Friedensbegriff vor allem die Unterscheidung zwischen „positivem“ und „negativem“ Frieden gefunden. Unter einem negativ bestimmten Frieden wird die Abwesenheit von Krieg verstanden („negativer Frieden“ erscheint allerdings als unglücklich gewählter Begriff, suggeriert er doch zunächst, es handele sich um eine schlechte Sache). Unter einem positiven Frieden wird die höchst variabel interpretierbare Realisierung sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit, die Entfaltung menschlicher Fähigkeiten und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten gefasst. Von „organisierter Friedlosigkeit“ – Frieden als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln – sprach Dieter Senghaas (30). Frieden erhält bei ihm den Charakter eines historisch erstmals zu schaffenden dauerhaften oder „ewigen Friedens“ und wird zu einem utopischen Zielbegriff.
Die Unterscheidung von positivem und negativem Frieden hat das Augenmerk der Forschung darauf gelenkt, wie wichtig es ist, verschiedene Analyseebenen und Handlungsniveaus zu beachten. Mittlerweile werden vier solcher Untersuchungsebenen unterschieden: Individuum, Gesellschaft, Staat, internationales System (10). Als Konsequenz hieraus folgt, dass ein anspruchsvolles Modell „negativen“ Friedens Anregungen des „positiven“ Friedens aufzunehmen im Stande sein muss. Frieden erscheint somit nicht allein als Nicht-Krieg, sondern als eine dauerhafte Abwesenheit von Kriegen und Kriegsvorbereitung. Er erscheint als eine Art höherer Systemzustand auf allen genannten vier Ebenen, der gewaltsame Konfliktbearbeitung durch andere, gewaltfreie Konzepte ersetzt und diese Gewaltfreiheit institutionalisiert. Dafür wäre allerdings ein Paradigmenwechsel der Politik notwendig (10).
Kriege sind keine Naturereignisse, sondern Folgeerscheinungen von Politik – manche begreifen sie gar als die Logik politischer Ohnmacht (15). Sieht man den Krieg als künstliches Machwerk, so bedeutet dies, ihn als vermeidbar zu denken. Frieden braucht eine entsprechend ausgerichtete Politik; soll er den Menschen, den Parteien, den Klassen, den Völkern, den Staaten und den Systemen möglich sein, so muss er, wie Dolf Sternberger betonte, auf einer Grundlage beruhen: der Vereinbarung. Sternberger schlug diesen Begriff vor, weil er eine ganze Skala von möglichen Verfahren umfasst, „vom stillschweigenden Einverständnis bis zum förmlichen Vertrag und der Annahme gemeinsamer Kampfregeln bis zur Aufstellung einer dauerhaften Verfassung (denn auch eine Verfassung lässt sich als eine friedliche Vereinbarung konkurrierender Gewalten verstehen)“ (5, S. 126).
Dem Krieg mit seiner destruktiven Kraft wird gemeinhin Dynamik zugeschrieben; Frieden hingegen kennzeichnet offenbar ein statischer Zustand. Aber dieser Eindruck täuscht: Frieden ist einer der schwierigsten dynamischen Zustände überhaupt. Wenn man Krieg definieren kann als die Anwendung organisierter militärischer Gewalt in den Beziehungen zwischen zwei oder mehreren politischen Einheiten, so lässt sich Frieden zunächst als das Fehlen dieser Gewaltanwendung bezeichnen.
Senghaas: Frieden als Prozess
Auf dieser Überlegung aufbauend entwickelten Dieter und Eva Senghaas 1992 ein „zeitgemäßes Friedenskonzept“, in dem sie vier notwendige Bausteine einer Friedensstruktur beschrieben: Rechtsstaatlichkeit (Schutz der Freiheit), Erwartungsverlässlichkeit (Schutz vor Gewalt), ökonomischer Ausgleich (Schutz vor Not) und Empathie (Schutz vor Chauvinismus). Si vis pacem, para bellum (Wenn du Frieden willst, rüste zum Krieg), lautet die Maxime für Friedenssicherung im engen militärischen Sinn; Dieter und Eva Senghaas formulierten nun aber Si vis pacem, para pacem (Wenn du Frieden willst, rüste zum Frieden) und begründeten dies so: Gegenüber der para-bellum-Maxime reflektiere die para-pacem-Maxime die gewaltträchtigen Problemlagen, aus denen heraus es immer wieder zur Erschütterung des inneren und des zwischenstaatlichen Friedens gekommen sei – Machtbesessenheit und Expansionismus, politische Diskriminierung und Missachtung von Menschenrechten, ökonomische Disparitäten, Chancenungleichheit und Feindbildprojektionen.
Was ihre Überlegungen vor allem auszeichnet ist, dass sie erstens den Prozesscharakter von Frieden betonen und somit Frieden als das Produkt gelungener Zivilisierung zu begreifen versuchen, zweitens dessen verfassungspolitische, institutionelle, materielle und emotionale Voraussetzungen reflektieren sowie drittens den zwischenstaatlichen mit dem inneren Frieden verklammern.
Ihre Definition lautet: „Friede sowohl in inner- als auch zwischenstaatlicher Hinsicht sollte verstanden werden als ein gewaltfreier und auf die Verhütung von Gewaltanwendung gerichteter politischer Prozess, in dem durch Verständigungen und Kompromisse solche Bedingungen des Zusammenlebens von gesellschaftlichen Gruppen bzw. Staaten und Völkern geschaffen werden, die nicht ihre Existenz gefährden und nicht das Gerechtigkeitsempfinden oder die Lebensinteressen einzelner oder mehrerer von ihnen so schwer wiegend verletzen, dass sie nach Erschöpfung aller friedlichen Abhilfeverfahren Gewalt anwenden zu müssen glauben. Um Frieden zu erreichen, sind deshalb anhaltende Bemühungen um Rechtsstaatlichkeit, Erwartungsverlässlichkeit, ökonomischen Ausgleich und Empathie erforderlich.“ (31, S. 239)
„Zivilisierung“ als übergeordnete Kategorie
Als übergreifende friedenswissenschaftliche Basiskategorie hat sich in den letzten Jahren der Begriff der „Zivilisierung“ herausgebildet. Er meint das komplizierte Geflecht jener Bedingungen und Entwicklungen, die im Sinne friedensfördernder Kompetenzen und Qualitäten dazu beitragen, erstens Gewalt zu minimieren, zweitens eine zivile Konfliktbearbeitung auszubauen und drittens institutionelle Bedingungen für die Gestaltung eines stabilen, gerechten und nachhaltigen Friedens herzustellen, zu erhalten und ständig zu verbessern. Die UNESCO und mit ihr die historischempirische, soziologische und politologische Friedens- und Konfliktforschung diskutieren verstärkt eine solche „Friedenskultur“ als Zielpunkt gesellschaftlicher Entwicklung (21, S. 14ff.).
Aggressionstrieb als Kriegsursache?
Eine weitere Kontroverse zum Thema Gewalt und Krieg muss abschließend noch erwähnt werden. Sie durchzog das gesamte 20. Jahrhundert und dauert nach wie vor an. Ihr Ursprung lag in der Psychoanalyse und der Verhaltensforschung: Äußerst umstritten ist Sigmund Freuds These, die er nach dem Ersten Weltkrieg entwickelte, wonach dem Sexualtrieb des Menschen gleichgewichtig ein Todestrieb gegenüberstehe. Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz variierte diese These ab den 1960er-Jahren: In allen höheren Lebewesen gebe es, wenn schon nicht einen Aggressionstrieb, so doch einen aggressionsauslösenden Instinkt (22; 25).
Große Verbreitung findet überdies seit den 1940er-Jahren die Frustrations-Aggressions-Hypothese, also die Annahme, dass aggressives Verhalten aus Enttäuschungen und einem Gefühl der Ausweglosigkeit entspringe. Ist der Krieg gar ein angeborenes Verhaltensmuster? Aus psychoanalytischer Sicht ist der menschliche Aggressionstrieb Movens zum Krieg, er vermag Massaker, Exzesse und ‘Heldentum’ zu erklären. Aber ist er auch auslösender Impuls für die Entfesselung von Kriegen? Hier gehen die Expertenmeinungen innerhalb der Psychoanalyse weit auseinander – die einen bejahen die eben gestellte Frage, die anderen meinen, kriegerische Auseinandersetzungen würden „gebraucht“, um narzisstische Bedürfnisse und Defizite zu kompensieren (als Überblick und mit weiterer Literatur: 24). Erst wenn diese Zusammenhänge verstanden würden, ließe sich eine erfolgreiche Kriegsprävention denken. Denn obwohl Kriege gewaltsame Lösungsversuche von realen, machtpolitischen und ökonomischen Interessenkonflikten darstellten, die man nicht „wegpsychologisieren“ könne, beharren einige Fachleute darauf, dass diese Faktoren allein Konflikte nicht hinreichend erklären könnten. „Vielmehr wird die Bereitschaft, einen Konflikt kriegerisch und somit nicht auf dem Verhandlungsweg zu lösen, im gleichen Maß auch durch psychologische Prozesse erzeugt.“ (24, S. 12)
Zweifel an der Fruchtbarkeit solcher Aggressionstheorien für die Kriegsursachenforschung sind vielfach vorgebracht worden. So wurde argumentiert, dass die Gründe, die eine Staatsführung zum Krieg bewegen, sich wesentlich von jenen Gründen unterscheiden, die für eine individuelle Gewaltbereitschaft maßgeblich sind. Nicht aggressive oder animalische Instinkte hätten im Wesentlichen die Urheber von Kriegen bestimmt, sondern abwägende und kalkulierende Machtpolitik (20). Andererseits wurde auch gefragt, inwieweit aggressives Verhalten gesellschaftlich erst erlernt werde. Gerade die neue Geschlechtergeschichte versucht, die gesellschaftlichen Mechanismen aufzudecken, die vor allem bei Männern immer neue Aggressivität erzeugen. Gleichfalls umstritten ist schließlich die Frage, ob die westliche Zivilisation ein aus ihrer Geschichte zu erklärendes besonders hohes Potenzial an Aggressivität enthalte.
Nicht allein im Verlauf der Geschichte – so muss man festhalten – sind mit den Begriffen Krieg und Frieden unterschiedliche Vorstellungen, Wünsche und Projektionen verknüpft worden. Vielmehr leiden auch heutige Diskussionen häufig daran, dass nicht alle mit diesen Begriffen – und vor allem auch mit dem Begriff der Gewalt – das Gleiche meinen und das Gleiche verbinden.