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I. Einleitung
ОглавлениеAktualität des Themas
Krieg und Frieden werden in der internationalen Forschung wieder intensiver diskutiert. Seit rund einem Jahrzehnt ist eine deutliche Ausweitung, Differenzierung und Pluralisierung auf dem Gebiet der Kriegs- und Militärgeschichte sowie der Historischen Friedensforschung zu beobachten. Die Wissenschaft hat sich in diesem Zusammenhang insgesamt den politik-, sozial-, kultur-, geschlechter- und mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen geöffnet. Mittlerweile sind die einzelnen Forschungsrichtungen, sind Literatur und Kontroversen so vielfältig und unübersichtlich geworden, dass eine Orientierungshilfe notwendig erscheint.
Auch in den Medien ist das Thema Krieg allgegenwärtig. Eine zeitnahe Berichterstattung über Massaker, Katastrophen und Krieg gehört zum Geschäft der Medien, und die Zuschauer erwarten dies. Von Friedenszeiten, die sich nicht so leicht in Bilder übersetzen lassen, erfahren wir relativ wenig und sind doch froh, dass Kriege aus der eigenen, unmittelbaren Erfahrung verschwunden sind. Es gibt offenbar eine Sehnsucht nach Frieden und ein Interesse an Krieg. Schon Goethe beschrieb dieses Spannungsverhältnis in seinem „Faust“ eindrucksvoll, als er einen Bürger selbstgerecht sinnieren ließ:
„Nichts besseres weiß ich mir an Sonn- und Feiertagen
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluss hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus
Und segnet Fried und Friedenszeiten.“
Über Jahrhunderte hinweg wurde der Krieg von den meisten Menschen als ein unabänderliches, ja naturhaftes Verhängnis und als Strafe Gottes begriffen, er galt, neben Hunger und Pest, als dritter apokalyptischer Reiter. Einige Statistiken, so zweifelhaft sie im Einzelnen auch sein mögen, besagen, dass im Verlauf von 3400 Jahren Menschheitsgeschichte lediglich 243 Jahre ohne Krieg verlaufen sind. Ist also nicht der Frieden, sondern der Krieg der „Normalzustand“ der bisherigen Geschichte?
Der Forschungsgegenstand Krieg und Frieden ist kompliziert und vieldeutig; nicht selten hat sich an ihm ein heftiger, auch weltanschaulich motivierter Streit entzündet. Allein die Frage, ob man bei der Analyse der Phänomene vom Zustand des Krieges oder vom Frieden auszugehen habe, spaltet die Meinungen bis heute. Hinzu kommt, dass befriedigende Antworten auf die Frage, was Krieg und was Frieden eigentlich seien, höchst schwierig zu geben sind.
Zentrale Fragen
In historischer Perspektive wirft das Thema grundlegende Probleme auf: Worin liegen gewaltsame Konflikte in Gesellschaften und zwischen Staaten begründet? Wie werden sie vorbereitet, wie ausgelöst und ausgetragen? Wie werden Kriege beendet? Wer handelt Friedensordnungen aus, was sichert den Frieden? Welche gesellschaftliche oder politische Ordnung verdient das Prädikat: „Frieden“? Wie bestimmt sich das jeweilige gesellschaftliche Verhältnis zu Militär und „Zivilität“? Gibt es eine „Kriegskultur“ bzw. eine „Friedenskultur“? Welche Erfahrungen und Erinnerungen werden von Generation zu Generation weitergegeben? Wie verändern sich Vorstellungen von Krieg und Frieden im Zeitverlauf?
Nach den Umbrüchen des Jahres 1989 ist weder das prophezeite Ende der Geschichte noch ein erhofftes neues goldenes Zeitalter des Friedens angebrochen. Vielmehr hat eine neue Friedlosigkeit begonnen. Aus der tiefsten Ächtung ist der Krieg in der westlichen Welt seit kurzem wieder zu starker Beachtung gelangt (1). Einige Autoren, wie beispielsweise der amerikanische Politikwissenschaftler Robert D. Kaplan, halten bereits den Frieden für eine gefährliche politische Utopie, deren Folgen Mittelmaß, Verweichlichung und politische Blindheit seien: „Krieg schärft den Sinn für Geschichte, Frieden neigt zu ahistorischem Denken.“ (2)
Clausewitz’ aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts stammende berühmte Definition des Krieges als eine „Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“ ist brüchig geworden. Denn sie hatte zur Voraussetzung, dass der Staat als Monopolist des Krieges auftritt. Heute jedoch sind oft staatliche Erosionen der Ursprung von Kriegen. Auf den ersten Blick könnte diese Erosion des Staates durchaus willkommen sein, denn historisch zeichnete er, besonders der Nationalstaat, für Kriege verantwortlich. Das Problem ist nur, dass der Staat eben nicht nur den Krieg, sondern auch den Frieden ermöglicht. Frieden ist die Ordnung, die, wie unvollkommen auch immer sie sein mag, aus Vereinbarungen zwischen Staaten hervorgeht und ihrerseits nur durch diese Vereinbarungen aufrechterhalten werden kann. Frieden erscheint mithin als keine für die Menschheit natürliche Ordnung. Einzig durch Politik, durch Vereinbarung und Verständigung, ist der Frieden zu gewinnen (5).
Entstaatlichung des Krieges
Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind wir indessen zunehmend mit einer Entstaatlichung von Krieg konfrontiert; das staatliche Gewaltmonopol scheint nicht mehr (überall) zu gelten. Was bedeutet dies für Krieg und Frieden? Der Krieg hat sein Gesicht verändert. Es gibt beunruhigende Erscheinungen, wie etwa diese: Während der Kabinettskriege des Absolutismus waren nahezu alle Verwundeten und Gefallenen Soldaten, nur ganz wenige waren Zivilisten, also Nonkombattanten. Am Ende des 20. Jahrhunderts hat sich die Relation dramatisch verschoben: Nur noch etwa zehn Prozent der in den Kriegen des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts Getöteten und Verwundeten waren erklärte Kombattanten, die restlichen 90 Prozent waren Nonkombattanten. Der Partisan, der gegen die Übermacht der Metropolen aufsteht, und der Terrorist, der im asymmetrischen Kampf alle Regeln der Zivilisation verletzt, sind Ausdruck neuer Erscheinungsformen von Gewalt. Die neuen Kriege scheinen keinen richtigen Anfang und vor allem kein Ende zu haben, kein Recht und keine Grenzen, die Verteidigung zielt oft ins Leere, und wie der Frieden zu gewinnen ist, verschwimmt. – Aus der historischen Forschung sind kaum tagesaktuelle Handlungsanleitungen zu erwarten, aber viele Zusammenhänge werden verständlicher, wenn man sich in zentralen Forschungskontroversen zu Krieg und Frieden auskennt.