Читать книгу Inferno - Edward Stilgebauer - Страница 10
VII.
ОглавлениеDer Vollmond steht über dem Rhein. Von Mainz nach Bieberich baut er silberne Brücken. Die murmelnden Wellen des Stromes singen ein Lied, das Melanie schon so oft gehört zu haben glaubt. Sie hört es auch jetzt wieder, da sie an Adolfs Seite hinaus auf die Altane tritt. Aber es ist so anders, als das Lied, das heute in den Lüften liegt, das heute durch ganz Deutschland zieht von dem Rhein bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt! Melanie von Berkersburg hört ein anderes Lied.
Was sie sonst immer so ängstlich vermieden hat, ist ihr in dieser herrlichen Sommernacht einerlei. Es berührt sie weiter nicht, dass sie der Major einfach mit dem scheidenden Freunde allein lässt. Im Gegenteil, sie ist froh und glücklich darüber. Die Angst schwindet, die Angst vor dem Gemahl und die vor sich selber, denn diese furchtbare Zeit prägt in einer einzigen Stunde neue Werte, Ewigkeitswerte, so will es Melanie bedünken, da sie jetzt die Hand des Freundes ergreift und zusammen mit diesem an die Brüstung tritt.
Aus der Richtung von Bingen tönt es den beiden entgegen:
Ich weiß nicht, was soll es bedeuten,
Dass ich so traurig bin.
Und fester drückt sie die Hand des Freundes, die sie immer noch in der ihren hält.
Nein, sie fürchtet sich nicht. In dieser Stunde nicht! Nicht einmal, wenn der Major jetzt auf die Veranda träte und sie wieder überraschte, wie er sie doch vorhin im Salon überrascht hat. Auch nicht vor Frau Hof fürchtet sie sich, obwohl sie doch weiß, dass diese Frau sie auf Schritt und Tritt beobachtet, und dass die ihrem Major alles hinterbringt. Wozu auch sich fürchten in einer Stunde, da man weiß, dass Zehn-, das Hunderttausende sterben werden, deren Namen man nach wenigen Stunden schon nicht mehr nennt.
Sterben! Sterben! überhaupt, was bedeutete denn heute das kleine Wörtchen sterben? Das Wörtchen, vor dem ihr einst, da sie noch ein törichtes Kind und ein furchtsames Weib gewesen, im Innersten gegraut. Was bedeutete wohl heute das kleine Wörtchen sterben?
Sie sieht Listen vor sich mit hunderten, mit tausenden gedruckter, ihr völlig fremder und gleichgültiger Namen. Sie sieht die Blätter vollgepfropft mit Todesanzeigen, die alle mit einem Eisernen Kreuze geziert sind. Weite Felder breiten sich vor ihren stahlgrauen Augen, die sie jetzt in seliger Berührung mit der Hand des Freundes schließt. Das sind Felder mit Kreuzen, Kreuz bei Kreuz, Heldengrab bei Heldengrab, und jedes dieser tausende von Gräbern birgt ein Menschenschicksal voll Freud’ und Leid, voll Lieb’ und Hass, voll Freundschaft und voll Hoffen, jedes, jedes — die Gräber der Tausende, die kein Mund mehr nennen wird . . . Und wären’s immer Gräber . . .
Melanie schaudert.
Was ist Ihnen, fragt da der Freund besorgt an ihrer Seite.
Nichts, nichts, mein Freund, ich denke, ich denke, ach ich denke, dass ich am Ende allein all’ das Schreckliche denken muss, während die Welt ein Taumel erfasst hat!
Sie allein und welches Schreckliche?
Es will mir das manchmal so scheinen, mein Freund, in diesen entsetzlichen Stunden, die ich hinter mir habe, in all’ den entsetzlichen, die ich sicher noch durchleben muss.
Was will Ihnen so scheinen, Melanie?
Dass ich etwas von der Kassandra in mir trage, mein Freund!
Wie meinen Sie das?
Wissend, schauend, unverwandt muss ich mein Geschick vollenden, sagt sie jetzt.
Ich verstehe Sie nicht!
Sie sind doch Musiker!
Der bin ich leider nicht.
Aber Sie wollten es doch werden.
Das allerdings!
Und wenn Sie das wollten, dann haben Sie doch Phantasie, dann müssen Sie doch Phantasie haben!
Das sollte man meinen.
Und mir will es vorkommen, als ob all’ diese Menschen, die Tausende und die Hunderttausende, heute den letzten Rest von Phantasie verloren hätten. Können Sie sich denn das nicht vorstellen, mein Freund?
Was denn, Melanie? Ich fürchte im Ernste, Sie sind krank.
Das fürchte ich auch oder doch wenigstens, dass ich es werden könnte. Mit etwas, mit nur ein ganz wenig Phantasie, sehen Sie es denn nicht?
Was denn, Melanie?
Hinter uns, hinter den Bergen, mein Freund! Hinter den Bergen, die uns von Frankreich trennen, das Entsetzliche!
Was meinen Sie?
Das Massengrab, in das sie all’ das schaufeln werden zu Hunderten und zu Tausenden, all’ das umsonst geschaffene Elend, all’ das, o, es ist zu grässlich, mein Freund!
Aber so beruhigen Sie sich doch.
Das will ich ja auch. Und ich bin es ja auch, ich bin ja schon wieder beruhigt. Ihr seid es ja nicht, Ihr, Ihr alle, die Ihr dahinschreitet, Blumen in Euren Händen, über den weichen und blühenden Teppich dieser schönen Erde, als ob es zu einem Hochzeitsfeste ginge, mein Freund!
Zärtlich blickt er ihr jetzt in die stahlgrauen Augen.
Geht es das denn nicht, meine Freundin, mir wenigstens ist das so, seitdem Sie mir das vorhin gesagt haben, seitdem Sie mir die selige Gewissheit gaben, seitdem mein armer Kopf in ihrem Schoße geruht hat.
Wirklich, mein Freund?
Wahr und wahrhaftig!
So ist es dennoch so!
Was ist dennoch so?
Dass diese große Stunde wirklich neue Werte schafft, meine Freundin. Ihr Mann, an dem ich Jahre trug wie an einer Zentnerlast, ist von mir abgefallen in dieser Stunde. Meine Ketten haben sich gelöst. Ich fühle sie nicht mehr, seitdem Sie mir jenes sagten, dass er sie kaufte und dass Sie niemals sein Besitz sein konnten, denn was man kauft, das besitzt man nicht, meine Freundin, nur das eine besitzt man!
Welches Eine, mein Freund?
Was man sich erkämpfen muss, wie den Sieg, Melanie den Sieg, auf den wir alle heute hoffen!
Ja, den Sieg, mein Freund, den Sieg!
Leuchtenden Auges blickt sie ihn an.
Wie mich das eine Wort aus Ihrem Munde glücklich und selig macht, der Sieg, der Sieg. Dass Sie dieses Wort gefunden haben, ohne dass ich es sagen musste, der Sieg!
Sie hat seine Hand losgelassen. Nun steht sie im Rahmen der klematisumwucherten Veranda im Scheine des Mondes, der silbern ihre ganze Gestalt umflutet und breitet beide Arme aus über den Rhein.
Wissen Sie, was ich jetzt im Geiste sehe, mein Freund?
Was sehen Sie, Melanie?
Den Einzug der Sieger und nicht mehr die Gräber und ich sehe Sie reiten auf schneeweißem Rasse, den Lorbeer in den Händen, den blutgetränkten Lorbeer, und dennoch ist dieser Lorbeer so schön!
Sie hat in diesem Augenblick etwas Somnambules an sich, so dass er in der Tat vor ihr erschrickt. So hat er sie noch nie in seinem Leben gesehen, hätte sie auch nie einer solchen Ekstase für fähig gehalten, obwohl er doch ganz genau weiß, wie jeder Nerv ihres Wesens nachzittert unter den Tönen, den ihre Finger den Saiten des kostbaren Flügels drinnen im Salon entlocken.
Sie mit sanfter Hand zurückzuführen in die Wirklichkeit sagt er jetzt:
Es weht ein kühler Wind vom Rheine her, meine Freundin. Wollen wir nicht lieber in das Zimmer gehen, Sie frieren!
Ich empfinde das nicht! Aber, wenn S i e wollen, wenn S i e es für besser halten, dann gehen wir in das Zimmer!
Als sei sie wirklich ein großes Kind, wie der Major sie immer nennt, nimmt er sie an der Hand und sie folgt ihm willenlos wie ein solches.
In der Helle des Salons starrt sie ihn entgeistert an.
Er betrachtet sie völlig fassungslos.
Da stürzt sie nach dem Schreibtisch, öffnet eine Schublade, aus der sie vorhin die jetzt zu einem Häuflein Asche verbrannten Briefe genommen hat, und holt aus dieser einen Gegenstand, über den er sich zuerst keine Rechenschaft zu geben vermag, weil er ihn in seiner grenzenlosen Verwirrung gar nicht betrachtet.
Nehmen Sie, nehmen Sie, stammeln jetzt ihre Lippen, bitte, bitte, nehmen Sie. Was ich damals für Sie machen ließ und was ich Ihnen damals nicht mehr geben durfte, für Sie, mein Freund, damals!
Und jetzt erkennt er das Bild, nach dem er sich immer sehnte, um das er sie damals in einem seiner Briefe bat, das Bild von damals! Ja, so war sie in jenen Tagen, ehe sich der leise Schein untilgbarer Schwermut auf ihre schöne weiße Stirn gesenkt, so war sie ihm damals erschienen, zuerst in Berlin und dann in dem herbstgefärbten Parke von Falkenstein. So war sie damals!
Er führt das Bild an seine Lippen und steckt es in die Innentasche seines Waffenrockes.
Heute durfte, heute musste ich es Ihnen geben, mein Freund, heute, heute, es könnte ein Talisman werden, dass Sie als Sieger kehren, das könnte es werden — ein Schutz, meinen Sie nicht auch?
Mit diesen Worten wirft sie sich in einem seligen Aufschluchzen in seine Arme und birgt den Kopf an seiner Brust.
Ein Schutz, ein Schutz, wiederholt sie noch einmal, heute, heute, mein Freund, wo alle Maße versagen, wo alle aufs Neue gewogen und zu leicht befunden werden, heute, heute!
Und er voll tiefen Ernstes, in heiliger Überzeugung: Ja, das könnte es werden, meine Freundin!
Da klingt aus der nahe gelegenen Kaserne ein schmetterndes Trompetensignal an das Ohr der Beiden.
Sie fährt zusammen.
Was ist das?
Reveille, sagt er ernst.
Reveille, des Abends gegen elf?
Die Leute haben ein paar Stunden des Nachmittags geschlafen, sagt er jetzt, nun weckt man sie; die Nacht gilt der Vorbereitung. Um fünf Uhr dreißig fährt der Zug.
Nun weckt man sie — zum letzten Male weckt man sie — wiederholt sie seine Worte. Reveille, mein Freund!
Sie mahnt auch mich. Reveille!
Zum letzten Morgen. Um fünf Uhr dreißig fährt der Zug.
Eben will er sie noch einmal in seine Arme schließen, da tritt Frau Hof wie ein Schatten in das Zimmer.
Was wollen Sie, Frau Hof, fragt Melanie gereizt.
Und die mit ihrem süßesten Lächeln: Die gnädige Frau entschuldigen, wenn ich störe, aber das Haus wird um elf geschlossen und der Herr Hauptmann haben, so viel mir bekannt ist, keinen Schlüssel.
Brennend heiß steigt es bei diesen Worten der Unverfrorenen in Melanies Gesicht empor.
Wie sie das vorbringt, diese Unverschämte: so viel mir bekannt ist, und wie sie dabei lächelt.
Doch heute ist das ja einerlei, morgen sind sie alle, alle in die vier Winde zerstreut, die und sie selber und der Freund und der Major.
Adolf sagt in eisiger Ruhe:
Ich danke Ihnen, Frau Hof, es wäre mir in der Tat peinlich, wenn das Haus schon geschlossen wäre und ich Sie bemühen musste!
Der Herr Major hat Befehl erteilt, das Haus punkt elf zu verschließen, entschuldigt sich die jetzt.
Adolf achtet nicht weiter auf ihre Worte. Er wendet sich noch einmal an Melanie und mit einer förmlichen Verbeugung, die Haken zusammennehmend, als gälte es den Abschied von einer Abendgesellschaft, sagt er:
Leben Sie wohl, meine Gnädigste!