Читать книгу Inferno - Edward Stilgebauer - Страница 4
Erstes Buch I.
ОглавлениеDer Kaiser hat die Mobilmachung befohlen!
Aus zahnlosem Munde rief der Rheinschiffer Jobst seinem Genossen Mühlkell die folgenschwere Nachricht zu, als sich die Stämme ihrer beiden Flöße fast berührten.
Jobst kam weit her. In Schweinfurt am Main hatte er die schwere Arbeit angetreten, die auf den Höhen des Spessart gefällten und mit Stricken zusammengebundenen Tannen rheinabwärts zu steuern. Aschaffenburg, Frankfurt und Höchst hatte Jobst nun hinter sich und eben bog er in der Nähe von Gustavsburg aus den gelben Fluten des Mainstroms in die grünlich schillernden Wellen des Rhein.
Seit Tagen hatte er auf seiner Fahrt nichts von den Menschen der Ufer gehört und erst heute Morgen war ihm bei einer Frühstückspause in einem Rüsselsheimer Wirtshaus die Kunde geworden, die jetzt die Völker beider Hemisphären seit Tagen in Atem hielt.
So hat er? rief Mühlkell mit lauter Stimme von seinem Floße herüber. Er stand auf Stämmen, die in Rüdesheim gelegen hatten und die nun mittels eines Dampfschleppers stromauf gebracht wurden, weil es droben in Schwanheim an Bauholz mangelte und der große Wald, der sich hier längs des Maines ausbreitet, arm an verwendbaren Tannen war. Laut und deutlich, aber recht gleichgültig klang Mühlkells Stimme. Er kam aus Rotterdam, die harte Arbeit auf dem Strome hatte ihn schon lange abgestumpft. Er war müde. Die kalte holländische Tonpfeife hielt er zwischen den Zähnen.
Also hat er? wiederholte er noch einmal. Und dann glitten die Flöße lautlos aneinander vorüber, deren eines den Führer von der Küste des Meeres, deren anderes den aus den bayrischen Bergen trug.
Pfüat di Gott! tönte des Bayern Gruss über den im Glanze einer stammenden Augustsonne leuchtenden Strom, in dessen Wellen sich der uralte Dom der Kurfürsten- und Erzbischofsstadt spiegelte.
In deren Mauern war es lebendig!
Denn in ihr steht Kaserne bei Kaserne, und aus den Mauern dieser formt sich Bataillon um Bataillon. Unaufhaltsam formt es sich, ein Strom, der das nahe Frankreich, dessen Berge die Grenze beschützen, überfluten soll.
Ein ganzes Heer von waffentragenden Männern speit die Stadt am Rhein in knappen vierundzwanzig Stunden aus.
Aus den Mannschaftsstuben der Kasernen laufen unsichtbare Fäden in jedes Haus. Überall wird gepackt, gerüstet, Abschied genommen. In den Gassen und Häfen, die den alten Dom umgeben, in deren Gewinkel die Armut haust, in den Villen und stolzen Palästen der Rheinpromenaden und der Kaiserstraße, überall in der ganzen Stadt unsichtbare Fäden!
An der Rheinallee steht ein elegantes Haus. Vor ein paar Jahren hat man es im Stile englischer Billen erbaut. Ein Garten, leuchtend im Farbenschmucke des seiner Vollendung entgegenreifenden Sommers, umgibt es. Rosen an allen Stämmchen, wuchernde Klematis um Mauern und Balkone, Astern, Dahlien und Georginen in üppigstem Flor.
Major von Berkersburg hat dieses Haus vor drei Jahren von einem reichen Fabrikanten gekauft, der seinen Wohnsitz nach Berlin verlegt hat.
Vor drei Jahren hat er mit seiner jungen Frau Einzug in dieses Haus gehalten, als er zurückkam von der Hochzeitsreise, die ihn nach dem Lande der Mitternachtssonne geführt. Aber Melanie, geborene von Falkenstein, ist reichlich zwanzig Jahre jünger als der Gemahl.
Sie stammt aus einem mit der Zeit verarmten und verschuldeten Rittergutsbesitzer-Geschlechte, dessen Besitzung dicht bei Wirballen an der russischen Grenze gelegen ist. Und der Major, fast ein Jugendfreund und Kamerad ihres Vaters, ward durch glückliche Spekulationen mit Berliner Vorortsgrundstücken Millionär.
Im hellen Glanze einer strahlenden Augustsonne, der man von den Wolken, die nun die ganze Welt verhüllen, nichts anmerkt, steht Melanie von Berkersburg auf der Altane des im englischen Stile erbauten Landhauses und blickt hinüber über den von Millionen Funken des Lichts flimmernden Rhein.
Eben breitet sie beide Arme weit aus, die waldbewachsenen Höhen des Taunus zu umfassen, in einer Bewegung, als ob sie die an die Brust drücken wollte, Bieberich, Rauenthal, Eltville, Rüdesheim, Aßmannshausen fährt es ihr durch den Sinn. Wie oft ist man nicht dort unten, dort drüben gewesen, des Abends mit dem Dampfer in fröhlicher Gesellschaft, eine Kapelle an Bord, die heimische Lieder, Walzer von der Donau, den Cakewalk und französische Kapriolen zum besten gegeben hat!
In diesen Gedanken fährt sich Melanie von Berkersburg über die hohe, weiße Stirn, als wenn sie einen bösen Traum wegwischen möchte. Französische Kapriolen, gespielt von einer deutschen Militärkapelle, auf einem Dampfer des Rheins! Wie ein Spuk erscheint ihr alles, was sie gesehen, was sich in den letzten Tagen ereignet hat, von den Vorgängen in Serajewo zu Ende des Juni bis zu dem Ultimatum an Belgrad und dem, was der Telegraph gestern aus Berlin verkündet.
Und doch ist dem so!
Französische Kapriolen!
Wüsste sie es nicht, die Wagen würden sie davon überzeugen, die eben drunten in der Rheinallee, vorbei an ihrem Hause, mit lautem Lärm vorüberholpern. Von Soldaten eskortierte und gelenkte Wagen. Sie kommen aus dem Depot, sie bringen Munition in die Kasernen, Infanteriegeschosse, Patronen zu Tausenden und Hunderttausenden, ganze Wagen voll Patronen!
Französische Capriolen!
Eine Melodie des Débussy zieht bei diesem Anblick leise durch ihren Kopf.
Als Siebzehnjährige ist Melanie in Lausanne in Pension gewesen und hat sich dort mit französischer Sprache, Literatur und Musik geplagt. Im Hause der Madame Chevalier war das, drunten am See, in Ouchy, an der Avenue Rosemont!
O, wie war man dort glücklich vor ein paar Jahren, ehe das Schicksal in Gestalt des Herrn von Berkersburg in ihr junges Leben trat. Sie und ihre Freundin Berta von Amthor! über Pontarlier und Dijon führte sie dann der Weg in die vielbewunderte Stadt an den Ufern der Seine. Und Berta, das Töchterchen eines von Seiner Majestät geadelten Großfabrikanten der Rheingegend, hatte die Tasche voll funkelnagelneuer Hundertfrankennoten der Banque de France.
Das war damals ein Leben in dem eleganten Hotel der Champs Elysees. Dass der Pater das den beiden jungen Dingern erlaubt hatte! Freilich, Fräulein von Horst Waldau, eine vermögenslose Adelige, die sie mit ihren losen Streichen zum Besten hielten, hatte sie ja nach Paris und in das Hotel der Champs Elysees begleitet. Die machte dort in dem verschrienen Seinebabel die Dame d’honneur.
Paris, die Place de la Concorde, der Tuileriengarten, die Champs Elysees!
Während drunten die Wagen mit den hundert und hunderttausend Patronen vorüberrollen, taucht das wunderbare Bild der Stadt des Glanzes und der Lebensfreude wieder auf vor den Blicken Melanies.
Und dazwischen tönen französische Kapriolen.
Eine Melodie, die sie damals von einer italienischen Zufallskapelle vor einem der großen Cafés des Boulevard des Italiens gehört hat, in warmer Frühlingsnacht!
Paris im Frühling!
Wenn die Mädchen und die Burschen hinausfahren aus den dumpfen Gassen des Quartier des Montmartre an die Ufer der Seine, wo die Schlösser versunkener Könige auf den grünen Hügeln stehen.
Paris im Frühling!
Die Stimme ihres Mannes zerreißt Melanies Traum.
Aber nur in der Phantasie. Denn der Major weilt schon seit Stunden und Stunden in der Kaserne, die letzten Vorbereitungen für den Transport seines Bataillons zu überwachen. Morgen in aller Frühe wird das Bataillon nach der Grenze verladen.
Berta von Amthor! Wie waren sie damals glücklich, fröhlich und guter Dinge, zwei Backfische unter Fräulein von Horst Waldaus Aufsicht, in dem herrlichen Paris!
Die Freundin ist in der gleichen Lage wie sie selbst, und doch nicht ganz in der gleichen. Sie liebt den Gatten, sie betet ihn an, den sie erst vor einem halben Jahre geheiratet und von dem sie jetzt bald ihr erstes Kindchen erwartet. Er steht in Bonn bei den Königshusaren, was Wunder, wenn der Schwiegeralte Millionen zu Millionen gehäuft und von Seiner Majestät den erblichen Adel erhalten hat! Was Wunder. Aber jetzt!
Ihr geht es so, Berta geht es so, Tausenden, Zehn-, Hunderttausenden geht es heute nicht anders. Das ist das alle verbindende und alle nivellierende Schicksal, das sie alle trifft und alle hebt. Sie alle, alle. . . das gleichmachende Schicksal!
Paris, die Schöne, die Herrliche, die Verführerin an beiden Ufern der Seine!
Drunten zieht ein Bataillon in strammem Schritt über die Allee. Die Leute sind feldmarschmäßig. Mit klingendem Spiel kommt es vorüber an dem Landhause im englischen Geschmack. Blumen tragen die Leute in den Läufen ihrer Gewehre, aus denen der Tod in tausendfacher Gestalt den Feind grüßen soll . . . den Feind. . . Paris. . . Paris . . . zieht es durch Melanies Kopf.
Französische Kapriolen!
Vor der Altane draußen im Garten steht ein Aprikosenbaum. Reife, dunkelgelbe Früchte hängen zwischen den schon falbenden Blättern. Ein Strauß rosenroter Blüten war der Baum in den ersten warmen Tagen des April, da man das Ungeheure, das sich nun unaufhaltsam vorbereitet, noch nicht ahnte. So denkt Melanie. Er trägt so reich in diesem seltsamen Jahre, als besinne er sich darauf, noch einmal seine Pflicht zu tun, die er in den anderen Sommern, da sie mitsamt dem Major in diesem Garten wohnte, verabsäumt hat.
Melanie lächelt. Ein Gedanke fährt ihr blitzschnell durch den Kopf.
Er liebt die Aprikosen, für sein Leben gern isst er sie. Nicht der Major, nicht der Gemahl, der Freund, der einzig wahre Freund, den sie hier in der Stadt hat, der um ihretwillen, sie weiß es ja, Junggeselle geblieben ist, Adolf, der Hauptmann von der achten Kompagnie!
Richtig, auch er, ja, auch er!
Sie will die Aprikosen rasch abnehmen lassen, sie sollen den leuchtenden Nachtisch auf der Abendtafel bilden, denn er hat sich für heute zum letzten Nachtmahl in der Villa „Melanie“ angesagt. Leuchtende Aprikosen vom Rheine, die dieser Herbst am Rheine in ihrem Garten gereift hat, sollen heute den Abschluss des letzten Nachtmahls mit dem Freunde bilden . . . ja, ja! Deshalb geht Melanie nach der Tür und klingelt der alten Frau Hof, die dem Major schon als Junggesellen jahrelang die Wirtschaft geführt hat und die nach seiner Anordnung auch bei ihr im Hause geblieben ist.