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XI.

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Auf der Treppe, die von dem Hofe in das Gutshaus führt, kommt ihr der Freiherr entgegen. Er geht am Stock, seine Füße stecken in zwei großen Filzpantoffeln. Sie sind geschwollen, so sitzt ihm die Gicht in allen Gliedern.

Er hat gealtert, denkt Melanie, gealtert in den paar Monaten, die sie ihn nicht gesehen.

Wie eine Fremde betritt sie jetzt das alte, ihr doch von Jugend so vertraute Haus, als ob sie es in Jahren und Jahren nimmer betreten hätte. Und doch sind es erst ein paar Monate her, dass sie hier gewesen ist. Im Frühjahr, als die Schwalben wiederkamen und die Gänseblümchen draußen auf der Wiese zu blühen begannen. Aber freilich das Ungeheure, was in diesen letzten Tagen geschehen ist, mag diesen Eindruck hervorrufen, denn das trennt wie ein Abgrund das Gegenwärtige und das Kommende von aller Vergangenheit.

Hast du eine gute Fahrt gehabt, mein Kind?

Die Stimme des alten Freiherrn klingt müde.

Und Melanie antwortet, da sie doch antworten muss:

Soweit man in diesen furchtbaren Tagen von einer guten Fahrt reden kann, Vater.

Sie sind die Treppen zum ersten Stockwerk des Gutshauses emporgestiegen und stehen nun auf der behaglichen Diele, die der Alte mit seinen Jagdtrophäen ausgeschmückt hat und vor deren Kamin er den größten Teil seiner Tage verbringt. Denn mit dem Gehen ist es nun schon seit Jahren nichts mehr.

Mina, das Stubenmädchen, tritt an Melanie heran.

Darf ich die gnädige Frau in ihr Zimmer geleiten, fragt die. Die gnädige Frau wünschen gewiss, es sich bequem zu machen und haben meine Dienste nötig?

Tun Sie das, Mina! Auf ein halbes Stündchen, Vater, wir plaudern dann miteinander!

Der Baron hat sich wieder in den alten Sorgenstuhl fallen lassen, der jetzt ein solcher in des Wortes eigentlichstem Sinne ist. Er nimmt die lange Pfeife zur Hand, die dort wider den Kamin gelehnt steht und die er einen Moment ließ, um der Tochter bis vor das Haus entgegenzugehen. Melanie folgt dem Mädchen.

Schon auf der Treppe nach dem zweiten Stockwerk erkundigt sich Mina nach dem Major.

Ob der gnädigen Frau der Abschied schwer geworden sei, fragt sie treuherzig.

Da lächelt Melanie.

Schwer, schwer, warum schwer? . . . das denkt sie, aber sie findet nicht den Mut, das dem Mädchen gegenüber auszusprechen. Und die plaudert auch schon harmlos weiter. Es hat beinahe den Anschein, als höben diese letzten Stunden den doch sonst im Osten so streng gewahrten Standesunterschied zwischen Herren und Diener auf, denkt Melanie.

Sie habe so viel geweint, erzählt das Mädchen. Ihr Philipp habe doch auch mitgemusst. Er sei gleich eingezogen worden, bei der Artillerie in Königsberg! Und die Russen kämen bestimmt ins Land, jammert die Kleine.

Wenn schon, denkt Melanie... Aber das wagt sie der Kleinen denn doch nicht zu sagen und deshalb versucht sie zu trösten.

Die Russen kämen nicht, das sei ein Ding der Unmöglichkeit, versichert sie Mina hoch und heilig. Dafür ständen des Königs Grenadiere und hielten Wacht!

Sie lächelt, denn sie schenkt ja ihren eigenen Worten keinen Glauben, denn sie, Melanie von Berkersburg, glaubt nicht an die Unwiderstehlichkeit dieser Armee, der Rausch von der Reise ist schon wieder verflogen. Sie glaubt auch nicht an die Ohnmacht der Russen. In ihrer Ehe mit dem Major hat sie einen viel zu tiefen Einblick in die Charaktere gewonnen, hat sie allzu sehr die Kehrseite der Medaille kennen gelernt. Den Trotz und die Ruhmredigkeit, die Prahlerei und die Hohlheit. Taube Nüsse hat sie, wie oft in ihrem Inneren, diese Herren bei den Casinobällen und den Diners genannt, außer dem einen, der im Grunde genommen gar kein Offizier, sondern nur ein simpler Künstler von Gottes Gnaden war.

Aber gleichviel!

Die Kleine plaudert weiter und Melanie hält es für ihre Pflicht, sie zu beruhigen.

In Königsberg, sagt sie, da sei Philipp so gut wie in Abrahams Schoß. Königsberg sei eine uneinnehmbare Festung und die Russen kämen nie und nimmer über die Grenze, beruhigt sie das Mädchen vom Lande, das bei den Worten der Frau Major, die es doch wissen muss, glückselig lächelt.

Ja, wenn die Frau Major mir das sagen, dann will ich es ja gerne glauben, versichert nun hoch und heilig das gute Kind. Jetzt steht Melanie in ihrem Mädchenzimmer und schaut sich um. Hier hat sich nichts geändert, hier ist alles so geblieben, wie es schon vor ihrer Heirat, wie es zu Zeiten der verstorbenen Mutter vor langen Jahren war. Was sollte sich auch auf ostpreußischen Gutshöfen im Laufe der Jahre viel ändern? Hier blieb alles beim Alten, hier war man konservativ bis auf die Knochen, hier brannte man seinen Korn und blieb königstreu bis ins Mark. Hier stand die Wacht noch fester und stärker als die am Rhein, denkt Melanie. Auch das alte Bild hängt noch über ihrem Bette, der Kupferstich aus längst versunkenen Tagen, den sie schon als Kind voll Mitleid betrachtet.

Die Königin Luise auf der Flucht nach Memel vor Napoleon. Es ist eine Episode aus der preußischen Geschichte, weiter nichts.

Nachdem sie sich von dem Reisestaub gesäubert, lässt sich Melanie von Mina die Haare zurechtstecken. Während dieser Arbeit unterhält sie sich mit dem Mädchen und fragt dieses, wo es denn seinen Philipp kennen gelernt habe? Minas Erzählung lässt die eigene, so sorglose und ungebundene, auf dem freien Lande verlebte Jugend wieder aufleben in Melanies Innerem. Die Jugend aus Falkenstein, ehe der Major kam! Im Krug ist es gewesen, an einem Sommer-Sonntagnachmittag, beim Tanze, als die Mädels und die Burschen weither kamen von den umliegenden Gütern und Höfen in den elenden Krug nach Wirballen. Musik hat es dort gegeben, dort hat Mina den Philipp kennen gelernt, den sie so fest in ihr jugendliches Herz geschlossen hat und der in diesen Tagen nach Königsberg musste, um gegen die Russen zu Felde zu ziehen.

Voll innerer Rührung hört Melanie die Erzählung des einfachen Mädchens vom Lande an. Ist es doch, als ob all’ die Frauen, arm und reich, hoch und niedrig, in diesen furchtbaren Tagen zusammengewachsen und ein Fleisch und Blut geworden wären. Auch sie bangt ja um den Freund in der Ferne, aber nicht um den Major!

Und plötzlich muss sie trotz allem lächeln. Wenn Frau Hof das wüsste, aber die weiß das ja doch, wie kann sie nur einen einzigen Augenblick daran zweifeln, dass die das weiß, die mit ihrer gottvollen Eifersucht auf den alten Major!

Und da vollzieht sich in Melanies Innerem plötzlich etwas ganz Seltsames. Es ist, als übten die Luft der Heimat, der Abschied von dem Gemahl und der Garnison, das Gutshaus und das Gefild von Falkenstein, wo sie geboren und erzogen wurde, eine befreiende Wirkung auf sie aus. Ihr kommt es vor, als ob in ihrem Inneren Ketten rasselten und von ihr abfielen, als ob sie mit einem Schlage wieder ledig sei und ungebunden, als ob sie hier, wo sich jenes erste, zarte Verhältnis mit Adolf entwickelte, wieder ganz in Herz und Sinnen dem Freunde gehören, als ob sie nur an ihn denken und nur um ihn sorgen dürfe, während sie doch dort in dem Hause des Majors eines Fremden Sklavin war.

Ein tiefes Gefühl seligsten Glückes beschleicht in diesen befreienden Gedanken Melanies Herz. Hier dicht an der russischen Grenze, die der Feind, sie zweifelt keinen Moment daran, in kurzer Zeit überschreiten wird, fühlt sie sich geborgen, geborgen vor dem, den sie ziehen ließ fast ohne Abschied, fühlt sie sich frei von den lauernden Blicken der Frau Hof, ist sie, am Ende wenige Tage vor dem Untergange, restlos glücklich. Denn wie Ketten fiel es schon in dieser ersten Stunde von ihr ab. Was war das überhaupt? Woher der frische Wind, der eben durch das geöffnete Fenster fährt und ihre heiße Stirn wie eine kühle Hand des Segens erfrischt? War das der Krieg, der kommende, der drohende, der befreiende, der neue Werte formende? War er es, der die Begriffe des Alltags versenkte in ein Nebelmeer des Wahns, aus dem sich jetzt in der Sonne leuchtend nur noch Alpengipfel erhoben?

Machte er sie frei und rein und groß, dass sie denken konnte und denken durfte an den Freund in der Ferne, den sie liebte, und nicht mehr das Gefühl hatte, dass sie an sich selbst und dem Major, ihrem Sklavenhalter, ein Unrecht tat?

Gab’s noch Recht, gab’s noch Unrecht in einem kleinen, armen und doch so unendlich reichem Frauenleben, wenn Städte brennen würden und Dörfer, Kirchen im Schutte zusammenbrechen und Kathedralen um eines höheren Zweckes willen? Gab es noch Recht und Unrecht, wenn Hunderttausende fliehen würden aus der liebgewordenen Heimat, wenn der Krieg Mann von Weib, Bräutigam von Braut, Vater und Mutter von Sohn und Kind trennen würde, gab es dann in dem armseligen Leben des Einzelnen überhaupt noch so was wie Recht und Unrecht? Rollte nicht das Gesetz in diesen Tagen unter aller Füße, da der Krieg, der allgewaltige, neue und ungekannte Normen schrieb?

Was war man im Begriffe zu tun, tausende hinzuschlachten um eines Wahnes willen. Und für sie blieb da noch ein Gesetz? Ein Fetzen Papier, den sie einst sinnlos und ein törichtes Kind unterschrieben auf dem Standesamte nach des Vaters Willen, um den vor dem Revolver zu retten aus kindlicher Liebe, das war alles, was sie an ihren Sklavenhalter band.

Rauschten nicht in der Tiefe ihrer Seele auch in dieser großen Stunde die brausenden Orgeltöne eines großen, gigantischen, alle befreienden oder alle zermalmenden Schicksals in dem einen Worte: Mein Freund, mein Freund!

Mein Freund in der Ferne, dir gehören mein Herz und meine Seele, dein sind meine Reize und meine Gedanken, dein ganz allein! Zerrissen ist der Fetzen unseres Vertrages, verrauscht das alte Lied von Pflicht und Gehorsam, denn der Lenzsturm rast in diesen Tagen des reisenden Sommers dahin über die nach Blut und Tränen lechzende Erde und kündet den Krieg! Und wie ein heiliger Entschluss reift es in dieser ersten Stunde auf Falkenstein in Melanies Innerem. Die Schlaken sind von ihr abgefallen, die Sklavenketten drücken sie nicht mehr. Sie ist frei. Adolfs will sie gedenken und nur Adolfs, dem sie angehört mit Leib und Seele, dem sie stets und ewig angehört hat und angehören wird, trotz aller papierenen Verträge, die sie willenlos und ein Kind nach dem Wunsche ihres am Rande des Abgrunds angelangten Vaters unterschrieb.

Sei groß, sei frei, sei kühn . . . zieht es da durch den Sinn Melanies. Groß wie die weite, die grüne Fläche der wogenden Wiesen und Felder, die sich dehnen unter ihren Blicken hinter dem Hofgut Falkenstein bis zum Rande der Wälder! Kühn wie die Jugend dieser Tage, die hinauszieht den Russen an der Grenze entgegen und frei wie der Vogel, der sich) eben vor ihren entzückten Blicken draußen in dem blauen Meere des unendlichen Äthers wiegt!

Frei und groß und kühn . . . das will sie sein! Im Gedanken an den entschwundenen Freund, der die Rose ihrer Hände, die blutig-rote, an der Spitze seines Säbels trägt!

Mit diesem Vorsatz entlässt sie Mina und steigt hinunter zu dem Vater.

Inferno

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