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V.

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Es dauert noch eine gute halbe Stunde, bis Adolf wirklich in den Salon tritt. Melanie hat sich die Zeit mit dem Aufräumen der alten Briefschaften vertrieben. Sie sind alle am Vorabend des großen Tages der Vernichtung den Weg alles Irdischen gewandelt. Alle, alle, nicht einmal den einen hat sie zu wahren gewagt, der zuerst sprach von dem süßen Geheimnis zweier Herzen, die sich angesichts der rauen Wirklichkeit dieses brutalen Lebens nimmer angehören sollten. An der großen Wand des Salons befindet sich ein Marmorkamin, auf ihm steht eine Uhr aus vergoldeter Bronze. Die Frauengestalt auf dieser Uhr stellt das Glück dar, das wie die Zeit flüchtige, das dem Menschen auf geflügelten Füßen auf einer Weltenkugel entschwebt. Hier hat Melanie in dieser letzten halben Stunde vor dem Abschied gesessen, hier hat sie Brief um Brief noch einmal gelesen, hat Brief um Brief in kleine Fetzen zerrissen und diese in einem eigens zu solchem Zwecke angezündeten Feuerchen verbrannt. Die Briefe der Liebe nährten dieses Feuer, das jetzt langsam wie die Glut ihres eigenen Herzens erlischt, langsam und bescheiden. Sie hat ja niemals aufflammen dürfen, diese Glut!

Melanie hat einen Blick auf dieses Aschenhäuflein ihrer Vergangenheit geworfen, die im Anblick der blutig roten Gegenwart völlig versinkt. Dann hat sie sich wieder auf dem Klavierbock vor dem Steinway niedergelassen und wieder fahren ihre Finger wie liebkosend und suchend über die Tasten. Ein altes Lied, das englische Volkslied: Long, long ago. Da steht Adolf in Wirklichkeit hinter ihr. Er ist ein Mann von sechsunddreißig, in der Fülle seiner blonden Kraft, anders als der Major, so ganz anders als der, der der ihre geworden nach dem Willen des verschuldeten Vaters droben in Ostpreußen auf Falkenstein, eine halbe Stunde von der russischen Grenze. Eine Fülle nur halbgeschorenen, blonden, auch nicht an den Schläfen angegrauten Haares ziert Adolfs hohe Stirn. Wellig und weich ist dieses Haar. Melanie weiß das. Sie hat einst in seligen Stunden des Abschieds und des tiefsten Schmerzes tröstend über dieses Haar gestrichen. Zwei freundliche, blaue Augen, deren Farbe an Frühlingsveilchen gemahnen, sprechen aus diesem lieben Gesichte. Sie reden eine andere Sprache als die kalten, wasserblauen des Majors, vor deren prüfenden Blicken sie sich immer im Stillen gefürchtet hat. Und die schmale, aristokratische Hand mit den schlanken Fingern, die einer Lady zur Zierde gereichen könnten, ruhen auf der schwarzen Ebenholzplatte des Flügels, während seine Augen fragend die ihren suchen und sein Mund den Text des englischen Liedes zu wiederholen scheint: Long, long ago!

Überhaupt, Adolf hat etwas Englisches an sich, obwohl er preußischer Offizier ist.

Lächelnd stellt Melanie heute diese schon so oft erkannte Tatsache fest, heute, da alles Englische von Gottes und Rechts wegen als ihr Todfeind gelten sollte.

Sie stellt es fest und lächelt dabei.

Richtig, es fällt ihr ein, Adolf hatte es ja selbst gesagt, dass seine Mutter englischer Herkunft war, wie die Mutter dessen, der diese Mobilisation befohlen hat.

Die hohe und schlanke Gestalt des Offiziers beugt sich zu ihr nieder. Er erfasst ihre Hand und führt sie feierlich an seine Lippen. Wollen Sie mir ein Plauderstündchen gewähren, gnädige Frau? Ein letztes Plauderstündchen, ehe —

Ehe Sie ins Feld ziehen, Herr Adolf.

Er lächelt.

Ach nein, ehe der Herr Gemahl kommt, gnädige Frau.

Aber, das ist doch gewiss, Herr Adolf!

Er deutet mit dieser schlanken und aristokratischen Hand nach einem der Sessel, die in zwangloser Unordnung um den Bouletisch in der Mitte des Salons stehen. Sie hat diesen Tisch einst in Paris als Andenken an die große Zeit französischer Herrlichkeit gekauft. Sie folgt seinem Winke. Fast hat es den Anschein, als übe die Bewegung dieser Hand so etwas wie eine suggestive Gewalt auf Melanie aus.

Setzen wir uns, gnädige Frau!

Ja, setzen wir uns!

Eine Weile herrscht peinliche Stille.

Die Uhr auf dem Marmorkamin, deren Frauengestalt das entfliehende Glück auf einer rollenden Weltenkugel darstellt, holt zum Schlage aus. Drei helle, klare, silberne Töne. Dreiviertel auf acht. Noch fünfzehn Minuten, kommt es da von seinen Lippen. Und sie wiederholt resigniert, fast gottergeben:

Jawohl, noch fünfzehn Minuten!

Berkersburg ist gewöhnlich sehr pünktlich, sagt er dann. Ja, er ist die Pünktlichkeit selbst.

Sie haben mir niemals gesagt, Melanie, warum es eigentlich so kommen musste, stößt Adolf jetzt endlich hervor. Ich habe Sie auch nie danach gefragt, Melanie. Aber bald wird es Zeit, dass ich Sie danach frage. Das Regiment rückt morgen früh um fünf Uhr dreißig ins Feld.

Schon um fünf Uhr dreißig?

So sagt der Regimentsbefehl, der vor einer halben Stunde herausgekommen ist.

So . . .

Ja, Melanie, wir haben nicht mehr allzuviel Zeit.

Ein Zittern geht durch die Stimme Adolfs, ein Wehes durchzückt diese Stimme. Es ist wie der Ton einer zerrissenen Saite, die über dem Boden einer Meistergeige springt.

Es war Musik, Harmonie, Melanie — und nun doch — als ob die eine Saite da drinnen plötzlich gesprungen wäre.

Er legt die Hand auf die Brust und schaut Melanie eine Minute lang schmerzüberwältigt an.

Sie senkt das stahlgraue Auge unter seinem traurig fragenden Blicke.

Warum es so kommen musste, fragt er noch einmal.

Und sie ganz leise, mit unter Tränen brechender Stimme:

Sie meinen, damals auf Falkenstein, als Sie bei meinem Vater im Quartier lagen?

Das meine ich, Melanie!

Während des Manövers?

Ganz richtig, während des Manövers! An jenem Herbstabend im Parke, Melanie, an dem Schwanenweiher, wohin Sie mich bestellt hatten in der Stunde des Sonnenuntergangs, um mir die Wahrheit zu sagen, die Sie mir bis heute vorenthalten haben, Melanie, auf die ich aber heute vor dem Tage des ewigen Abschieds ein Anrecht zu haben glaube. Des ewigen Abschieds, mein Freund?

Sie haben mich richtig verstanden, meine Freundin, ich kehre nicht wieder.

Adolf!

Nein, ich kehre nicht wieder . . . und darum will, muss ich die Wahrheit wissen, darum musste ich noch einmal kommen. Berkersburg ist die Pünktlichkeit selbst, Sie sagten es vorhin. Wir haben also noch knapp zehn Minuten für uns, Melanie. Also an jenem Abend an dem Schwanenweiher auf Falkenstein in dem Parke Ihres Vaters. Sie sagten das Lied . . .

Welches Lied, Adolf?

Das Lied von Heine:

Es ist so kühl, so dunkel,

Verweht sind Blatt und Blüt’,

Der Stern ist knisternd zerstoben,

Verklungen das Schwanenlied!

Das sagten Sie damals, Melanie, und dann . . .

Und dann?

Und dann: es ist aus für immer, fragen Sie mich nicht nach den Gründen, aber es ist aus für immer, das sagten Sie schluchzend, und dann erhoben Sie sich, rannten durch den Park, dass ich Ihnen kaum zu folgen vermochte auf die Terrasse zu den andern, die lachten und Bowle tranken. Was war der Grund?

Fragen Sie mich nicht, fragen Sie mich auch heute nicht, Adolf! Sie quälen mich, und ich . . . ich schäme mich so.

Ich gehe in den Tod, Melanie, heute habe ich ein Recht auf diese Frage!

Sie wissen nicht, ob Sie in den Tod gehen, mein Freund! Zehn- und Hunderttausende ziehen mit Ihnen die gleiche Straße. Sie ziehen nicht alle in den Tod, Zehn- und Hunderttausende kehren glücklich und als Sieger in die Heimat wieder.

Aber nicht ich, nicht glücklich und nicht als Sieger! Damals verlor ich das Glück, damals ward ich besiegt, Melanie, da Sie Berkersburg Ihr Jawort gaben, damals, damals! Und aus diesem Grund kann ich nimmer als Sieger wiederkehren, aus diesem Grunde nimmer, Melanie! Warum taten Sie das? Sie schulden mir Rechenschaft, heute, wenn je, meine Freundin, schulden Sie mir solche, denn ich ziehe in den Tod!

Fassungslos starrt sie ihn an.

Seine leuchtenden Augen sind fragend und voll unendlicher Liebe auf ihr tiefbleiches Gesicht gerichtet, dessen Züge das sanfte Licht der elektrischen Krone mild überflutet, während seine Lippen nervös eine Melodie vor sich hin pfeifen. Es ist das Reiterlied von Wilhelm Hauff.

Der Text des Liedes schwebt wie auf den Fittichen des Todes durch ihren gequälten Kopf:

Morgenrot, Morgenrot,

Leuchtest mir zum frühen Tod!

Bald wird die Trompete blasen,

Dann muss ich mein Leben lassen,

Ich und mancher Kamerad!

Da rafft sie sich empor.

Ich will Ihnen alles sagen, Adolf!

Das ist lieb und gut von Ihnen, Melanie! Kann ich ohne Groll vom grünen Rhein und aus dem Leben scheiden?

Das können Sie, mein Freund!

Nun?

Ich musste so handeln, wie ich gehandelt habe, Herr Adolf.

Ich verstehe Sie nicht!

Mein Vater wäre verloren gewesen, wenn ich Herrn von Berkersburg einen Korb gegeben hätte. Das ist alles!

Das ist alles?

Ja, das ist alles!

Erklären Sie mir!

Die Gläubiger saßen meinem Vater im Nacken. Ich war in dem Zimmer meines Vaters, ehe ich Sie an den Schwanenweiher bat. Und . . .

Und?

Und der Revolver lag auf dem Schreibtisch meines Vaters. Die Wechsel waren wieder einmal fällig, die Niemand einlösen konnte, als Herr von Berkersburg, um diesen Preis, ich konnte nicht anders!

Ist das wahr?

So wahr mir Gott im Himmel einmal helfe, mein Freund! Das könnt‘ ich nicht, dieses Opfer war zu groß, ich liebte auch meinen Vater! Zürnen Sie mir darum?

Ich habe Ihnen nie gezürnt, Melanie!

Nun wissen Sie alles! Bei diesem Geständnis Melanies geht ein konvulsivisches Zucken durch die hohe Gestalt des Offiziers. Dann liegt er zu ihren Füßen und vergräbt das blonde Haupt in ihrem Schoße. Und sie fährt wieder wie damals, wie jenes einzige Mal, durch sein reiches, dunkelblondes Haar mit zitternden Fingern und vergisst ganz, wer und wo sie ist. Sie glaubt sich im väterlichen Parke, am Rande des Schwanenweihers an einem Abend des Herbstes, da die Herren auf Falkenstein im Quartier lagen und da man auf der Terrasse die Pfirsichbowle trank.

Und plötzlich nimmt sie seinen Kopf in beide Hände und berührt seine Lippen in einem langen und heißen Kusse. Dann fahren die beiden rasch wie zwei ertappte Sünder auseinander. Die Uhr auf dem Kamin holt zum Schlage aus. Acht harte Töne. Der Major tritt über die Schwelle. Er wirft einen Blick auf die beiden und sagt kein weiteres Wort. Dann geht er wieder nach der Tür und ruft:

Frau Hof!

Die Stimme der Alten dringt aus der Küche herauf:

Herr Major!

Es ist acht, ich pflege pünktlich zu sein. Ist das Essen bereit?

Sofort, Herr Major!

Stellen Sie Wein kalt!

Mosel?

Jawohl, Mosel, Elfer. Vier Flaschen. Ich sterbe vor Durst.

Schön, Herr Major!

Berkersburg deutet mit einer herrischen Bewegung nach der Tür des Speisezimmers und die Beiden folgen seinem Winke, als sei der ein Befehl.

Inferno

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