Читать книгу Inferno - Edward Stilgebauer - Страница 12
IX.
ОглавлениеEndlos ist die Fahrt vom Rhein nach Berlin in diesen Tagen. Kein Zug kann durch infolge der Militärtransporte, die in Windeseile aus dem Reich nach Westen geworfen werden, um durch Luxemburg und Belgien in Frankreich einzufallen und diesem Paris, sein zuckendes, lebendiges Herz, aus dem Leibe zu reißen. Volle vierundzwanzig Stunden ist Melanie schon unterwegs und sie hat erst Erfurt erreicht. Aber dieser Tag und diese Nacht, da sie langsam dahinfuhr mitten durch die deutschen Gaue, sie haben ihr doch einen Begriff gegeben von Deutschlands Größe und seinem Opfermute, von der unversieglichen Volkskraft, die das weite Reich immer wieder aufs Neue hervorzusprudeln vermag. Es ist unbesieglich dieses Reich! So musste auch sie nach den Worten des Majors in den qualvollen Stunden dieses Tages und dieser Nacht denken. Auch sie, auch sie!
Unter dem bezwingenden Eindruck dieser Massen, die die fauchenden Eisenbahnzüge unablässig von Osten nach Westen ausspeien, vergisst Melanie für Stunden des Taumels die russ- und kohlenbestäubten Scharen der belgischen Industriegebiete, vergisst sie die kraft- und saftstrotzende Jugend Frankreichs, die Menschenquellen Englands, die in Indien, Kanada, Australien und Afrika sprudeln, die Steppen Russlands, des unendlichen, das mit seinen Armen nach dem Stillen Meere greift, die kleinen, schielenden und gelben Gesellen, die die Sundainseln schon auf Fischerbooten umkreisten, ehe noch von einer okzidentalen Kultur, geschweige denn von einem Deutschen Reiche, die Rede war. Nein, dieses Reich ist unüberwindlich, denkt auch sie.
An allen Bahnhöfen auf der langen Strecke, in deren Hallen der Zug endlose Zeit hält, das gleiche Bild. Soldaten und immer wieder Soldaten, als ob sich Deutschland wie mit einem Zauberschlage in einer einzigen Nacht in ein Kriegslager gewandelt hätte. Es ist unglaublich, es muss gelingen. Melanies tiefgesunkener Mut gewinnt die Flügel der Morgenröte trotz Adolfs, von dem sie weiß, dass sie ihn nie mehr wieder sehen wird, und trotz des Majors!
Zug um Zug, Militärtransport um Militärtransport in den hohen rußgeschwärzten Hallen. Ein furchtbares Volk in Waffen hat dieses Deutschland ausgespien in einer einzigen Nacht. Schar auf Schar, zu Hunderten und zu Tausenden, zu Zehn- und zu Hunderttausenden sind sie den Fabriken entströmt, den Bergwerken und den Bauplätzen, der Enge der großen Städte und der Weite der lieblichen Dörfer. Vom Pulte des Kaufmanns, vom Katheder des Lehrers, aus den Schulstuben und den Magazinen, aus den Hörsälen der Universitäten, von den Stätten der Kunst, aus dem Palast des Fürsten und dem des Millionärs und aus der Hütte des Bettlers sind sie gekommen, ein nicht enden wollender, ein lebendiger Strom, der sich wie flüssig gewordenes Erz, von Waffen starrend, durch die deutschen Lande von Osten nach Westen und von Westen nach Osten ergießt.
Und wie dort vor ihrem Hause am Rhein jubeln sie auch hier alle, Blumen auf den Helmen, und wenn der Zug sich in Bewegung setzt, dann rauscht es durch die Hallen:
Es braust ein Ruf wie Donnerhall,
Wie Schwertgeklirr und Wogenprall,
Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein,
Wer will des Stromes Hüter sein?
Hinter Erfurt dämmert der Tag. Von Müdigkeit ganz überwältigt, ist Melanie endlich im Kupee ein wenig eingeschlafen. Sie weiß nichts mehr von all’ dem Großen und Grässlichen, das sich in dieser Stunde in ihrer nächsten Umgebung und im weiten deutschen Reiche vollzieht. Sie sieht auch nichts von den beiden blutjungen Offizieren, die das Kupee mit ihr teilen, um das Regiment in Berlin, dem sie eben erst zugeteilt worden sind, zu erreichen, das vielleicht schon in ein paar Tagen im Donner der Kanonen vor Lüttich oder Ramur steht.
Könnte sie die Beiden sehen, ihr blaues Wunder würde sie an diesen jungen Leuten erleben! Unfassbar wäre ihr das, was sie hier sehen würde. Aber der Schlaf bannt Melanies Auge in undurchdringliche Nacht.
Die Gesichter der beiden jungen Leute strahlen von heller Freude. Der Taumel hat ihre Seelen erfasst, der Fanatismus loht aus ihren Blicken.
Wie sie jetzt die Flasche blutig roten Weines entkorken, die die Mutter des einen ihnen noch mit auf den Weg des Todes gegeben und wie sie selbander jetzt aus dem Reisebecher trinken, von dem sie gar nicht zu ahnen scheinen, dass er die Schale für die Reise in die Ewigkeit ist!
Wie sie trinken und lachen und plaudern und sich freuen, wie ihre Augen leuchten und strahlen — wieder als ob es zum Tanze ginge — wenn Melanie das sehen könnte, ihr Mut wüchse in der Tat ins Ungeheure.
Blond ist der eine und braun der andere, und alle Beide sind sie noch nicht zwanzig und haben noch nichts von des Lebens Bitternis erfahren. Reicher Eltern Söhne, die den vollen Beutel in der Tasche das Leben des einzigen Berlin in vollen Zügen genossen haben, ehe sie der Befehl ihres Königs zum frühen Tode in der Blüte ihrer Jahre rief.
Dem fahren sie nun entgegen, geschmückt wie die Opferstiere an Trojas Freudenfeste, und lachen!
O Mut! O Jugend! O Begeisterung!
Lieb Vaterland, magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht, die Wacht am Rhein!
Ich werd’ mir es holen, sagt da der Eine.
Was, fragt der Andere.
Das Eiserne doch natürlich!
Die werden Augen machen in der Heimat, wenn du mit dem Eisernen kommst!
Und glücklich lächelt der, der die Frage nach dem Eisernen angeschnitten. Mit seinen Zwanzig sieht er sich schon wieder in der Heimat, ein Held, beneidet, angestaunt, bewundert und begehrt, begehrt von allem, was Schürzen und lange Zöpfe trägt, als ob es keine Massengräber gäbe in dem schönen Frankreich und keine Feldartillerie, die die Jugend Deutschlands dahinmähen wird, als sei sie ein Acker voll reifer Weizenhalme!
Aber Melanie schläft tief und fest. So hört sie das fröhliche Geplauder der beiden seligen Jungens nicht!
Nur der Irrtum ist das Leben,
Und das Wissen ist der Tod!
Wie Melanie erwacht, liegt draußen die Sonne des strahlenden Augusttages über der sandigen Ebene der Mark.
Sie reibt sich die Augen. Hat sie denn wirklich so lange geschlafen? Die Berge Thüringens sind versunken und die Kiefernwälder der eintönigen Ebene tanzen jetzt an dem Kupeefenster des Zuges vorüber, der nun in rascherer Fahrt Berlin, die Ungeheure, sucht. Die Ungeheure! Heute findet Melanie von Berkersburg kein anderes Wort für diese Stadt, vor der sie sich im Grunde genommen immer gefürchtet hat.
Sie öffnet das Fenster und lehnt sich hinaus, denn trotz allem ihre Blicke suchen Berlin. Es lockt und lockt, heute mehr denn je in ihrem Leben. Denn heute ist es ja das Herz, der Pulsschlag, das Gehirn dieser großen Bewegung, die sie und all‘ die anderen wie ein tosender Meeresstrudel in den Abgrund reißt.
Die Worte aus Schillers „Taucher“ fahren ihr durch den Kopf.
Und das wallet und siedet und brauset und zischt,
Wie wenn Wasser mit Feuer sich menget!
Diese Worte, wie sie sich jetzt weit aus dem Fenster hinaus lehnt und das ungeheure Berlin schon am fernen Horizonte zu erspähen glaubt.
Das Herz der Welt, der Herd dieses fürchterlichen Krieges, das Hirn dieser Bewegung, das ist Melanie in dieser Stunde ihrer Einfahrt Berlin!
Immer rasender fährt der Zug. Es hat den Anschein, als wolle er in dieser letzten Stunde alles einholen, was er in den vergangenen vierundzwanzig verabsäumt hat.
Draußen fliegt es vorüber: Zahna, Jüterbogk, Teltow, Groß-Lichter-felde, Papestraße . . . Dann bremst es — und in wenigen Minuten: Anhalter Bahnhof!
Wie im Traume schreitet Melanie die große Freitreppe hinunter. Drunten die Halle gleicht einem Lager, Soldaten und immer wieder Soldaten, die der Züge warten, die sie an die Westgrenze bringen sollen. Und zwischen den Soldaten Tücher schwenkende, Abschied nehmende, johlende und schreiende und singende Männer und Weiber, Frauen, Mütter und Bräute, alle wie besessen von dem einen einzigen Gefühle unüberwindlicher Größe und Kraft.
Wenn es fest zum Schutz und Trutze
Brüderlich zusammenhält!
Durch dieses brandende Meer von Stimmen gewinnt Melanie die Königgrätzerstraße. Auch die ist schwarz von Menschen. Denn das Erste Garderegiment zu Fuß kommt gerade klingenden Spieles zum Ausmarsch fertig seines Weges! Die anno siebzig auf den Schlachtfeldern Frankreichs zerschossene Fahne weht in dem lauen Morgenwinde des unvergleichlich schönen Sommertages.
Menschen an allen Fenstern, Menschen auf den Dächern, Menschen, die sich an den Stangen der Reklameschilder halten und schauen und gaffen und hören, wie das Unfassbare, das Ungeheure, das stets und nie Gewollte zur grausigen Wahrheit wird.
In gleichem Schritt und Tritt drunten das Erste Garderegiment zu Fuß und darüber hin das Schmettern der Trompeten, die schon zur Schlacht zu rufen scheinen, das dumpfe Wirbeln der Trommeln, der kreischende Paukenschlag, das Zeichen, dass eine neue fürchterliche Welt zu entsetzensvollem Leben erwacht.
Am Potsdamerplatz staut sich die Menge.
Hüte fliegen in die blaue Luft, Tücher winken, ein vielhundertstimmiger Ruf aus allen Kehlen wird laut und dringt schneidend an Melanies Ohr:
Hurra, hurra, hurra!
Als ob die Entscheidungsschlacht schon gewonnen wäre.
Ein offenes Automobil rast über den Platz. Alle Wagen halten wie durch unsichtbare und magische Gewalt.
Der Ruf dieses Automobils hallt, hallt, hallt . . .
Wie Fanfarengeschmetter des Sieges:
Ta—tü . . Ta . . ta . . .
Der Kaiser!
Melanies Auge trifft sein Gesicht. Das ist aschgrau, wie aus Erz gegossen, keine Fiber regt sich in diesen marmorenen Zügen, unergründlich, schrecklich, furchtbar — wie die Zukunft . . .
Wie ein Pfeil entfliegt das Automobil, windet sich unter der geschickten Hand des kaiserlichen Chauffeurs durch die Königgrätzerstraße, entschwindet wie ein Spuk der Todesnacht.
Melanie taucht unter in dem Menschenstrom der Leipzigerstraße. Sie hat sich entschlossen, zu Fuß nach dem Bahnhof Friedrichstraße zu gehen, um von dort die lange Fahrt an die russische Grenze anzutreten.
Die frische Luft wird ihr gut tun und bei Bauer Unter den Linden, wo sie früher so oft und gern gesessen, möchte sie eine Tasse Kaffee trinken.
Ein Regenguss aus Felsenrissen,
Er kommt mit Donnersungestüm . . .
stammelt sie im Gehen vor sich hin.