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7 Warum ist ausgerechnet die klassische Musik so klassisch geworden?

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Der Begriff »Klassik« kann vieles bedeuten. Ihnen, werter Leser, der diese kluge Frage stellt, scheint das klar zu sein. Andere Leser, die vielleicht auch gern ab und zu klassische Musik hören, sich nur bis jetzt noch keine Gedanken gemacht haben darüber, warum sie heißt, wie sie heißt, werden vielleicht denken, dass Ihre Frage redundant und ein bisschen dumm ist. Es ist darum, denke ich, sinnvoll, zunächst die Begrifflichkeiten zu klären.

»Klassik« ist leider kein Homonym (vulgo: »Teekesselchen«). Vielmehr sind die diversen Bedeutungen enger oder weitläufiger miteinander verwandt. Außerdem spiegelt sich in dem Verständnis dessen, was »klassische Musik« ist oder sein sollte, die europäische Geistesgeschichte der letzten dreihundert Jahre mit ihren politischen, sozialen und ökonomischen Implikationen, als da sind Historismus, Nationalismus, Idealismus, Industrialisierung und technischer Fortschritt, um nur einige zu nennen. Daraus folgt:

1.)»Klassik« bezeichnet die Kunst und Kultur der griechisch-römischen Antike. (Epochenbegriff)

2.)»Klassik« bezeichnet jede Kunst- und Kulturleistung oder Kulturepoche, von der man annimmt, dass sie ähnlich vollkommen sei wie die unter 1.) genannte. (Wertungsbegriff)

3.)»Klassik« bezeichnet die europäische Kunstmusik, die zwischen etwa 1750 und 1850 vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, in Wien komponiert worden ist. (Stilbegriff)

4.)»Klassik« meint jede komponierte Kunstmusik, die seit dem Ende der Gregorianik entstanden ist, mit Unterrubriken wie Frühe Mehrstimmigkeit, Renaissancemusik, Frühbarock, Spätbarock, Vor- und Frühklassik, Wiener Klassik, Romantik, Spätromantik, Impressionismus, Dodekaphonie, Neoklassizismus, Serialismus, Neue Einfachheit, Minimalismus u.v.a.m. (ausgeleierter Stilbegriff, Alltagsbegriff)

5.)»Klassik« bezeichnet jede Musik ohne Beat und Verstärker, die entspannt, beruhigt und nicht länger als drei Minuten dauert. (KlassikRadio-Definition)

6.)»Klassik« bezeichnet E-Musik, i. e. »ernste Musik« im Unterschied zur U-Musik, i. e. »Unterhaltungsmusik«. (ARD-Abteilungsleiter-Definition)

7.)»Klassik« kann im Sinne von 2.) auch Musik klassifizieren, die nicht zur europäischen Kunstmusik gehört; man spricht, zum Beispiel, vom »klassischen Jazz« oder »klassisch chinesischer Musik«. (Umgangssprachlich)

Nun zu Ihrer Frage. Die beste Antwort lautet noch immer: Das erklärt sich von selbst. Hören Sie sich ein Klaviertrio von Beethoven oder eine Symphonie von Haydn oder ein Streichquartett von Schubert oder Schumanns Dichterliebe oder Mozarts Gran Partita an, live im Konzertsaal (nicht aus der Tonkonserve; Sie beurteilen ja auch einen Monet nicht nach der Reproduktion im Katalog). Sie werden wissen, warum diese »klassische Musik« (im Sinne des Stilbegriffs (3.)) so »klassisch« wurde (im Sinne des Wertungsbegriffs (2.)).

Diese Musiken sind vollkommen. Sie sind zeitlos. Sie greifen uns Menschen ins Gemüt. Sie können uns, bei jeder neuen Begegnung, auf immer wieder andere Weise Auskunft darüber geben, wer wir sind oder, besser gesagt, wer wir sein könnten. Das ist die vielleicht wichtigste Aufgabe klassischer Kunst, im Sinne von 1.) und 2.). Trifft aber natürlich auch auf viele andere Musikwerke zu, auch solche, die im Sinne des ausgeleierten Stilbegriffs (4.) »klassisch« zu nennen sind.

Zwischen etwa 1750 und 1850 sind so viele vollkommene und geniale Werke entstanden im Abendland wie nie zuvor oder danach. Warum es in einer so kurzen Zeitspanne auf so überschaubarem Raum zu diesem Output kommen konnte, weiß ich nicht. Es gibt aber jemanden, der es in nur sechs Minuten zu erklären versuchte: Leonard Bernstein, in seinen Norton-Lectures, in Harvard, 1973. Er selbst hat behauptet, es seien sogar nur zwei Minuten gewesen. Der YouTube-Beitrag dazu heißt: The greatest 5 min. in music education.

Bernstein führt am Klavier vor, wie sich das abendländische Harmoniesystem aus den Obertönen ableitet, parallel zur Entwicklung von der Einstimmigkeit zur Tonalität, bis hin zur diatonischen und chromatischen Harmonik. Wenn man ihm zugehört hat, denkt man, für ein paar Minuten wenigstens, man habe es kapiert: Wie bei einem Komposthaufen akkumulierte sich die Substanz, Schicht um Schicht. Eines Tages, als Bach noch ein kleiner Junge war, schlug Quantität um in Qualität. Zack. Aber das ist nur so eine Idee, nichts weiter.

23. September 2018

Warum geht der Dirigent so oft zum Friseur?

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