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11 Warum geht der Dirigent so oft zum Friseur?
ОглавлениеTut er das? Ich persönlich habe dort noch nie einen angetroffen. Zweitens: Mit Musik hat diese Frage nun wirklich überhaupt nichts zu tun. Insofern, wegen nachweisbarer Unzuständigkeit, hatte ich die Frage, als sie das erste Mal gestellt wurde, sofort und spontan, allerdings glücklos, weiterreichen wollen an einen Kolumnistenkollegen, der sich mit Haaren oder vielmehr dem Problem ihrer Abwesenheit eventuell ein bisschen besser auskennt. Seltsamerweise tauchte sie seither immer wieder auf, hartnäckig und in vielerlei Gestalt.
Ganz ernsthaft, zum Beispiel, gestellt von Denis Scheck, vor knapp einem Jahr; dann, im Januar, von einer guten alten Hamburger Freundin, als wir friedlich in der Elbphilharmonie beisammensaßen und zusahen, wie fesch Maestro Kent Nagano wieder herein eilte, mit federndem Schritt und frisch geföhnter, wehender Indianerhäuptlingsmähne. Zuletzt, das gab den Ausschlag, kam es dazu vorvorgestern in Salzburg, wo aus Jubiläumsgründen zurzeit überall der markenzeichenhafte Schopf von Osterfestspielgründer Herbert von Karajan ins Auge fällt: im Prinzip ein klassischer Bürstenhaarschnitt mit Elvis-Tollen-Anmutung, zum Zeichen ewiger Jugend; nur ohne Pomade und interessant ergraut, mit weißen Strähnen darin, zum Zeichen reifer Autorität; schließlich etwa zwei Zentimeter länger, als Elvis selbst diese Frisur trug, was ein Kämmen der sturmwindmäßig fixierten Pracht mit fünf oder zehn Fingern erlaubt.
Karajan ist, auch in puncto Frisur, eindeutig ein Prototyp gewesen. Anfang der Dreißigerjahre, als Generalmusikdirektor in Ulm, trug er seine Bürste noch kurz. Das war vermutlich praktischer für einen ehrgeizigen, jungen Workaholic. Doch hätte Karajan mit einer so billigen Allerweltsfrisur jemals den rundum genial verstrubbelten, in der Mitte indes halbkahlen Wilhelm Furtwängler aus dem Felde schlagen und die Berliner Philharmoniker übernehmen können? Sicher nicht.
Friseur und Dirigent haben viel gemeinsam. Sie sind, wenn sie gut sind, ungeheuer gefragt: Figaro hier, Figaro dort. Sie sind, nicht alle, aber doch die allermeisten, klein von Statur und eine Führernatur mit Napoleon-Komplex. Und üben beide einen Dienstleistungsberuf aus, der auch individuelle künstlerische Spielräume impliziert, müssen auch beide in Ausübung ihres Berufs stundenlang stehen, während ihre Kundschaft sitzen darf. Im Unterschied zum Friseur wendet der Dirigent dabei den Kunden konsequent seinen Rücken zu, ja, er ist der einzige Entertainer, der sich dem Publikum nur kurz und ausnahmsweise von vorn zeigen kann, nämlich dann, wenn die Vorstellung vorbei ist oder noch nicht begonnen hat.
Dazu kommt das leidige Genderproblem. Sie können ja nichts dafür; doch Dirigenten sind bis heute, immer noch und in überwiegender Mehrzahl, männlichen Geschlechts, und jeder Mann, wirklich ein jeder, auch jeder Dirigent, trägt seine Achillesferse am Hinterkopf, dort, wo es kahl wird. Bei fast allen. Bei dem einen früher, bei dem anderen später. Das ist das Dirigententrauma: der Hinterkopf. Deshalb braucht jeder Dirigent einen guten Friseur.
Einige tragen sicherheitshalber luftig plüschige Dauerwelle, andere tun lässig so, als sei ihnen ihr Rückspiegel total egal. Wieder andere, etwa Thomas Hengelbrock, untersagen jedwede Veröffentlichung von Fotos, die sie von hinten zeigen. Sie bilden sich ein, vogelstraußartig, damit seien sie partiell quasi unsichtbar. Andere, die mit den napoleonischen Geheimratsecken, etwa Leopold Stokowski, haben sich grundsätzlich nur in linker Seitenansicht fotografieren lassen. Stokowski glaubte, er sähe von links besser aus. Glenn Gould beschreibt das so treffend, weil er Stokowski durchschaute. Auch Pianisten, üblicherweise dem Publikum rechtsseitig zugewandt, kennen Problemzonen.
Es gibt viele Dirigenten, die bis ins hohe Alter tätig sind und weiterdirigieren. Aber es gibt nur sehr wenige Männer, die bis ins hohe Alter keine Haare nachpflanzen lassen müssen, und selbst die sind traumatisiert allein von dem Gedanken, dass es eines Tages dazu kommen könnte. Und eben deshalb, nämlich aus Gründen der Traumatherapie, hatten und haben alle Dirigenten, auch die wenigen ausnahmsweise hochgewachsenen, reich behaarten, Frank Beermann, Leonard Bernstein, Bruno Walter, Otto Klemperer oder Christian Thielemann, einen wirklich guten Friseur, einen, der weiß, wo man den Scheitel zieht.
16. April 2017