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1 Darf ich im Konzert einschlafen?

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Selbstverständlich. Wo sonst? Mehr als die Hälfte der Menschen in der westlichen Welt leidet unter Schlafstörungen, Tendenz steigend. Eine Volkskrankheit. Wir leben, so nennt es der Schlafexperte Peter Spork, in einer »chronisch unausgeschlafenen Gesellschaft«, was extrem ungesund ist, für jeden Einzelnen, aber auch für Wirtschaft und Politik. Zurückzuführen ist dies auf die Erfindung der Elektrizität im neunzehnten Jahrhundert, was die Arbeitswelt veränderte, inzwischen aber auch die Tierwelt tangiert: Selbst die Amseln und Füchse in der Großstadt sind akut schlafgestört. Das nur nebenbei.

Die gleichfalls aus dem vorvorigen Jahrhundert überlieferte klassische Konzertform stellt eine archaisch-ritualisierte, vorindustrielle Situation her, wie geschaffen für die erste Einschlafphase: Eine Gruppe/Sippe trifft sich zu kontemplativem Nichtstun im Schutze einer abgedunkelten Höhle. Dabei wird, wohl nicht zufällig, episch-ausgedehnten Symphonien und lyrischen Sonaten, anders als rhythmusgeprägten Popmusiktiteln, eine beruhigende, wenn nicht sedierende Wirkung zugeschrieben. Also: Schlafen Sie! Der Musik macht das nichts aus. Die Musiker spielen eh weiter. Wenn Sie aufwachen, spielen sie, mit etwas Glück, wunderbarerweise immer noch. Allerdings sollten Sie nicht in den Tiefschlaf (»Delta-Phase«) und Ihrer Sitznachbarin auf den Schoß sinken. Auch Schnarchen, Schlafwandeln und dergleichen sind unerwünscht.

Das gilt gleichermaßen für den qualifizierten Theater- und Kinoschlaf. Aber es gilt nicht daheim für das Herdfeuer der Moderne, den Fernseher: Hier kann jeder nach Lust und Laune seine fünf Schlafphasen durchwandern, mit und ohne Nebengeräusch und auch mehrmals hintereinander, bis zum Morgengrauen. Noch gibt es gebührenpflichtige Schlafsender, die nicht von selbst abschalten, anders als beispielsweise, aus Kostengründen, Netflix und Co. Noch immer schauen viele beim individuellen Einschlafritual in ein Buch oder in die Zeitung von gestern. Und einige wenige beherrschen die Kulturtechnik des Konferenzschlafs.

Letzterer ist offenen Auges auszuführen, kurz vor Eintritt in die sogenannte »Alpha-Phase« der Schlafkurve, die auch zuständig ist für den Sekundenschlaf am Steuer. Das Erstaunlichste am Konferenzschlaf aber, der wiederum in aller Öffentlichkeit ausgeübt wird, ist, dass er in der Regel folgenlos bleibt.

Wieso fährt der Sekundenschläfer an die Leitplanke, aber der Konferenzschläfer wacht im richtigen Moment auf und sagt genau den Satz, auf den alle gewartet haben? Das Gehirn arbeitet weiter im Schlaf, so viel ist bekannt. Aber es arbeitet quasi auf eigene Rechnung. Wie überhaupt eine der interessantesten, noch ungelösten Fragen in der Schlafforschung lautet: Für wen schlafen wir eigentlich? Und wie viel kriegt der Schläfer noch mit von dem Schlafmittel, das ihn einschläferte? Im Falle des Konzertschläfers ist festzuhalten: Er kriegt viel mit. Manchmal mehr als die Wachenden. Denn das unbewusste Hören ist dem kognitiv gesteuerten, womöglich gar von einer Taschenpartitur auf den Knien unterstützten allemal hundertfach überlegen.

»Unbewusst« bedeutet freilich nicht »unwissend«. Es geht, ganz im Gegenteil, um einen Zustand oder vielmehr eine Haltung, einen momentweise offenen Durchgang: »Man gibt sich hin, man gibt sich auf, man lässt sich fallen« – so sagte es einmal der Filmkritiker Michael Althen, dem auch das schöne Zitat zugeschrieben wird: »Im Kino schlafen heißt dem Film vertrauen«. Andere Quellen nennen Jean-Luc Godard als Urheber dieses Satzes, der in Wahrheit aus einem Liebesfilm von Rudolf Thome aus den Achtzigerjahren stammt, in dem es noch Zigarettenautomaten gab und Hanns Zischler im Kino einschlief. Drei ungleiche Söhne hat Hypnos, der Gott des Schlafes, sie heißen Morpheus (Gestalt), Phobetor (Schrecken) und Phantasos (Einbildung). Er bringt sie alle drei mit, zum dritten Akt von Jean-Baptiste Lullys Oper Atys, damit sie gemeinsam in Terzen die allerherrlichste Einschlafmusik singen, die je komponiert worden ist. Der Fehler passiert dann erst später, beim Aufwachen.

27. Oktober 2019

Warum geht der Dirigent so oft zum Friseur?

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