Читать книгу Warum geht der Dirigent so oft zum Friseur? - Eleonore Büning - Страница 15
10 Warum muss ein Wagner die Wagnerfestspiele leiten?
ОглавлениеErstens, weil die Mitglieder der Familie Wagner andernfalls auf Dauer arbeitslos wären. Das kann, ökonomisch und sozial, niemand verantworten. Sie haben nichts anderes gelernt. Sie können nur Festspiele leiten oder unglücklich sein. Richard Wagners verzweigte Nachkommenschaft ist ja schon seit Generationen nachhaltig traumatisiert durch die Tatsache, dass es kein Kreativitäts-Gen gibt. Dieser großartige Komponist hat zwar alle möglichen körperlichen und charakterlichen Merkmale sehr schön weitervererbt, darunter etwa die Liebe zum Hund (alle Wagners haben Hunde). Aber er gab nicht den kleinsten Funken Genie weiter. Bereits Karl Kraus bemerkte zu den dreizehn Opern, die Siegfried Wagner schrieb: »Nie erbt doch so ein Kerl das Talent, und immer die Nase.« Immerhin, der Sohn hatte es noch versucht! Die Enkel und Urenkel studierten dann Hauswirtschaft oder Fotografie oder Theaterwissenschaft und warfen einander anschließend Inkompetenz vor. Dass sie um ihr Unglück wissen, beweisen die alljährlich ab Mai, Juni aufflammenden Familienzerwürfnisse, deren Anlässe austauschbar sind. Mal geht es um ein angeblich übertätowiertes Hakenkreuz, mal um eine angeblich verschlossene Schublade in München, mal um ein angebliches Hügelverbot. In Wahrheit geht es immer um die Sinnlosigkeit des Daseins.
Zweitens wäre es juristisch natürlich denkbar, dass die Wagners eines Tages aus ihrem Albtraum erlöst werden könnten. Schon seit Gründung der gemeinnützigen Richard-Wagner-Stiftung Bayreuth im Mai 1973 kann sich grundsätzlich jeder um die künstlerische Leitung der Richard-Wagner-Festspiele bewerben. Laut § 8,2 der Stiftungsurkunde geht der Zuschlag an ein oder mehrere Mitglieder der Familie Wagner nur dann, wenn nicht »andere, besser geeignete Bewerber auftreten«. Wie Letzteres zu evaluieren ist, wurde nicht festgelegt. Die Latte liegt niedrig. Bewerber sollten die acht Hauptwerke Richard Wagners kennen und bereit sein, sechzig Tage im Jahr hart zu arbeiten, davon einen Tag am roten Teppich. Praktische Theatererfahrung und Kenntnisse im Regieführen, Kostümbilden, Buchhalten, Notenlesen, Singen, Klavierspielen, Dirigieren oder Telefonieren können zwar ebenso nützlich sein wie ein Führerschein Klasse drei oder ein goldenes Reitabzeichen, sind aber nicht zwingend notwendig. Es gibt historische Präzedenzfälle, Festspielleiter aus dem Familienkreis wie Cosima oder Winifred, die etliche dieser Qualifikationen nicht mitbrachten und trotzdem erfolgreiche Festspiele organisiert haben.
Der Pool von Festspielleiterkandidaten ist also, satzungsgemäß, erfreulich groß, sehr viel größer als in der öffentlichen Diskussion zurzeit bewusst. Fast alle vier- undzwanzigtausend Mitglieder der Richard-Wagner-Vereine kämen infrage, ideal zumal die älteren, die sämtliche Ring-Inszenierungen in und außerhalb Bayreuths seit Chéreau auf dem Schirm haben und alle Wagnerwerke auswendig zitieren und mitsingen können. Zum Beispiel: die vielbewunderte Margot Müller, Autohändlerin, Unternehmerin, Vorsitzende des Richard-Wagner-Verbands Würzburg, 93.* Sie sitzt im Kuratorium der Festspiele, sie kennt sich aus, hat einen Horizont, der über Wagners Welt weit hinausreicht, und ein großes Herz. Regelmäßig veranstaltet Müller mit ihrem Bus »Loge« kommentierte Opernreisen, beispielsweise zur Arena von Verona oder nach Stuttgart, zu Tschaikowskys Dornröschen. Warum hat sie sich nie um die Festspielleitung beworben? Siehe oben, Punkt 1.
14. Juni 2015
* Postskriptum: Inzwischen ist Margot Müller verstorben. Als Motto eines ihrer letzten Rundbriefe zitierte sie warnend Franz Schubert: »Wer die Musik liebt, kann nie ganz unglücklich werden.«