Читать книгу Warum geht der Dirigent so oft zum Friseur? - Eleonore Büning - Страница 9

4 Wie lang darf eine Fermate sein?

Оглавление

Solange der Atem reicht. Hoffentlich noch die halbe Ewigkeit. Kann aber auch mit einem Wimpernschlag vorbei sein. Früher gab es verbindliche Regeln. Unsereins hat im Musikunterricht noch Merksprüche auswendig lernen müssen wie: »Der Punkt verlängert die Note um die Hälfte ihres Wertes« oder: »Die Fermate verdoppelt den Notenwert«. Heutzutage, lieber Leser, ist Ihre Frage schon fast philosophischer Natur, jeder Musiker, jede Musikerin darf sie sich selbst beantworten, von Fall zu Fall.

Für alle Nichtmusikerinnen und Nichtmusiker: Eine Fermate ist eine Art Haltestelle (von italienisch »fermare« für »anhalten«). In älteren musiktheoretischen Schriften wird sie auch Corona (»Kranz««, »Krone«) oder point d’orgue (»Orgelpunkt«) genannt. Das Zeichen dafür sieht aus wie ein umgedrehter Smiley mit nur einem Auge. Es kann über einer Note, einer Pause, über einem Taktstrich oder einfach nur am Anfang oder Ende einer Musik stehen, also praktisch überall. Wer dieses Signal erreicht hat, der muss aussteigen und pausieren. Manchmal erwischt es alle, dann handelt es sich um eine Generalpause. Steht der einäugige Smiley in einem Solistenkonzert über einem Quartsextakkord, steigt nur das Orchester aus und der Solist fährt allein weiter. Man nennt dies auch »Kadenz« (zu Deutsch Fall, fallend). Anders als in einem Gedicht gibt es in einem Konzert aber keine weiblichen oder männlichen Kadenzen. Stattdessen: Dominantseptakkorde. Findet der Solist nach einem Weilchen zu einem solchen, darf das Orchester wieder mit einsteigen. Wie lange dauert das Weilchen? Tja. Genau das ist die Frage.

Kochs Musikalisches Lexicon von 1807 unterscheidet noch ein Dutzend Möglichkeiten, wo und wie Fermaten angewendet werden sollten. Aber bereits 1832 möchte sich Johann H. Göroldt in seinem Handbuch der Musik, des Generalbasses und der Composition zum Selbstunterricht, Kapitel 16, § 6, nicht mehr festlegen. Er schreibt: »Wie lang man eine Fermate machen soll, lässt sich nicht genau bestimmen, dieß hängt von der Beschaffenheit und dem Charakter des Stücks, so wie auch von dem Gefühle des Componisten ab, und von dem Geschmacke des Spielers.« Auch Dommers Musikalisches Lexicon von 1865 beruft sich beim Stichwort »Fermate« auf Gefühl und Wellenschlag: »Verschiedene Ursachen können den Tonsetzer zu solcher Unterbrechung des Flusses der Taktbewegung veranlassen. Der Ausdruck der Verwunderung, des Erstaunens, eine plötzliche Hemmung des Gefühlsstromes, überhaupt Empfindungen, deren Bewegung selbst einen kurzen Stillstand zu machen scheint oder die gleichsam durch völlige Ergießung momentan sich erschöpft haben …«

Merkwürdige Koinzidenz: Als die Musiktheoretiker damit begannen, die Fermate in die Freiheit zu entlassen, war die Kadenz gerade von den Komponisten festgezurrt worden. Mozart und Beethoven hatten noch selbst am Flügel gesessen und, von der Fermate an, frei improvisiert. Mozart schrieb dann, um Eitelkeiten anderer zu unterbinden, zu einigen seiner Klavierkonzerte die Kadenzen auf. Beethoven schon zu allen.

Freilich, auch in Bach-Chorälen kommen Fermaten vor. Auch etliche alte Kirchengesangbücher notieren Fermaten, schließlich, die Gemeinde schleppt, jeder Laiensänger möchte am Ende der Verszeile ordentlich Luft holen. Der Dirigent Nikolaus Harnoncourt liebte es, auch Profisängern in Bach-Chorälen eine romantische Auszeit zum Einatmen zu gewähren. Der junge Harnoncourt war nämlich einmal Zeuge gewesen, wie der Münchner »Bach-Richter« (gemeint ist Karl Richter) im Wiener Musikverein bei der Aufführung der Matthäus-Passion auf einem erhöht postierten Neupert-Cembalo (»besonders scheußlicher Klang«) bei den Fermaten, ganz wie ein eitler Solopianist, ohne den Chor weiterzufahren pflegte; sein »Sortiment der Kadenzfloskeln« sei »unerschöpflich« gewesen, schreibt Harnoncourt, es reichte »vom Eintonschluß bis zur Tausendfüsslerkadenz«.

Kurzum: Frei ist die Fermate geboren, frei zu sein ihre Bestimmung. Im Ranking der bekanntesten Haltestellen der Musikgeschichte stehen zweifellos die drei Fermaten vom Anfang der Mozartschen Zauberflöten-Ouvertüre ganz oben. Ich nehme an, die meisten Pianisten würden eher die Fermate ganz am Ende der Es-Dur-Fuge kurz vor der letzten Beethovenschen Diabelli-Variation auf den ersten Platz wählen: Poco adagio. Ausgenommen Igor Levit. Seine Lieblingsfermate ist die vor dem Präludium zum Benedictus aus der Missa Solemnis.

10. Februar 2019

Warum geht der Dirigent so oft zum Friseur?

Подняться наверх