Читать книгу Pyria - Elin Bedelis - Страница 10
ОглавлениеVogelperspektive
Vica lag auf dem Rücken und streichelte Puki. Wenn sie die ganze Reise mit dieser Gruppe verbringen musste, würde sie wahrscheinlich früher oder später wahnsinnig werden. Seit Gwyn Mico und sie auseinandergezerrt hatte, hatte sie kein Wort mehr gesagt, aber der unsympathische Cecilian würde wohl noch lernen müssen, sich zu benehmen, sonst würde sie ihn irgendwann von Bord werfen. So wie er mit ihr umging, war es ein Wunder, dass sie es geschafft hatte, ihm noch nicht den Schädel einzuschlagen. Seine kleinen Sticheleien und wirklich boshaften Kommentare stützten sich auf die Beobachtungen von zwei Tagen und offenbar war er nicht gewillt, sie wie einen Menschen zu behandeln.
Beinahe hatte sie vergessen, wie schrecklich diese abfälligen Kommentare waren und wie sehr sie es hasste, als schwach, nutzlos und zurückgeblieben gesehen zu werden, nur weil sie nichts sehen konnte. Dabei glaubte sie, dass sie sich schon so manches Mal besser zurechtgefunden hatte als ihre Begleiter, die des Sehens mächtig waren. Gerade bei Nacht, wenn die Dunkelheit kein Hindernis für sie darstellte, war sie doch eindeutig im Vorteil. Außerdem konnten ihre Fähigkeiten unheimlich nützlich sein und sie dann retten, wenn sie wirklich ihr Augenlicht gebraucht hätte. Natürlich war sie eingeschränkt und benötigte in manchen Belangen Hilfe, aber dennoch war sie unersetzlich. M wusste das, deshalb hatte er sie mitnehmen wollen. Gwyn fürchtete sie vielleicht sogar und der kleinen Hatschi hatte sie sehr deutlich gezeigt, wie stark sie sein konnte. Nur Mico schien nicht zu sehen, wie nützlich Vica werden konnte. Wenn die blöde Hängematte nicht gewesen wäre, hätte sie ihm so fest eins mit dem Stab übergezogen, dass er vergessen hätte, wie er hieß. Leider hatte sie sich sehr unelegant darin verheddert und ihn nur angetrieben in seinem Spott. Sie waren bereits in einer handfesten Prügelei gewesen, als Gwyn sie getrennt hatte.
Jetzt tat ihre Seite und ihre linke Schläfe weh und sie starrte wütend ins endlose Nichts. Mico hatte zum Glück den Raum verlassen. Ursprünglich hatte sie sich einen fiesen Spitznamen für ihn ausdenken wollen, aber ihr war keine Veralberung von Mico eingefallen. Warum hatte er eigentlich einen so netten Namen? Den hatte er ganz sicher nicht verdient! Also lag sie jetzt in ihrer Koje und wünschte sich fort. Einfach fort. Nicht zurück auf die Irreninsel und ganz bestimmt nicht zurück in den Bienenstock, auch nicht nach Hareth oder an irgendeinen anderen Ort dieser Welt. Einfach nur fort.
Sie wusste nicht, wie lange es dauerte, bis sich die Tür öffnete. Sie hatte keine Schritte kommen hören, aber das Geräusch einer sich öffnenden Holztür war unverkennbar. Konzentriert achtete sie auf die Stimmung im Raum, lauschte auf die kleinsten Geräusche, um ausmachen zu können, wer eingetreten war. Die Person bewegte sich nahezu lautlos, nicht mal auf dem Holzboden knarrten die Schritte, jetzt, wo sie in unmittelbarer Nähe stehen musste. Das grenzte die Auswahl entschieden ein. Hinzu kam eine gewisse Anspannung, die inzwischen in der Luft lag, und ein Gefühl von Dunkelheit, das den Raum einfing. Machairi. Wer auch sonst? Niemand sonst würde sich an sie heranwagen, wenn sie in schlechter Stimmung war. Nicht Gwyn, nicht die Hatschi – wenn sie wusste, was gut für sie war – und auch Mico nicht, der mit Sicherheit ebenfalls irgendwo schmollend in einer Ecke hockte.
»Was willst du?«, fragte sie genervt und wusste, dass sie ihn ohnehin nicht zwingen konnte, zu gehen.
»Du hast eine Schramme im Gesicht und Mico humpelt«, stellte er fest und sie hätte ihn gerne geschlagen, weil er so belustigt klang.
»Hast du ein Problem damit?«, keifte sie ihn an und verschränkte die Arme, während Puki empört keckernd zur Seite hastete, um nicht von ihr zerquetscht zu werden.
»Reißt euch zusammen«, befahl er ruhig. Am liebsten hätte sie ihm gesagt, dass sie sich nicht von ihm befehligen lassen würde, aber sie wusste, dass sie das ohnehin tun würde, und deshalb schnaubte sie nur abfällig.
»Sag das lieber deinem dummen Schlossknacker!« Sie spürte, dass er sich durch den Raum bewegte, konnte fühlen, wie sich seine Präsenz auf sie auswirkte, als er weiter auf ihre Koje zukam. Wenn sie geglaubt hätte, dass sie aufstehen konnte, ohne sich in der Hängematte zu verheddern oder sich den Kopf zu stoßen, wäre ihr das lieber gewesen, als liegen zu bleiben.
»Du hast Wichtigeres zu tun, als dich zu prügeln.« Mal wieder konnte sie nicht anders, als ihn für seine Sachlichkeit und Ruhe zu bewundern. Er konnte fast alles nüchtern betrachten, nur wenn er dann tatsächlich die Fassung verlor, tat man gut daran, nicht in der Nähe zu sein.
»Zum Beispiel?«, murrte Vica und spannte sich an, als sie ihn direkt neben ihrer Koje stehen spürte. Ein unangenehmes Gefühl, da sie ihn weder sehen noch ihm entgehen konnte. »Möwen ausführen? Sicher. Das macht bestimmt Spaß.« Schnaubend tastete sie nach Puki, dessen Anwesenheit sie immer beruhigte.
»Ich brauche eine Karte«, antwortete er, als habe er ihren Sarkasmus nicht herausgehört.
»Von dem verdammten Schiff?« Sie drehte sich auf die Seite und ihm den Rücken zu, auch wenn das noch ein bisschen unangenehmer war. »Frag doch einfach den Kapitän.«
»Von der Wüste, der Hauptstadt und vom Palast in Om’falo.«
Ruckartig drehte sie sich ihm wieder zu. »Von hier aus? Weißt du wie weit das weg ist? Und so eine Wüste ist riesig? Das würde, wenn überhaupt, am besten vor Ort gehen … und was willst du mit einem Bild von einem Sandhaufen?« Verärgert über seine Vorstellungen vergaß sie seine Bedrohlichkeit etwas mehr.
»Wir werden nicht dort abwarten, bis du die Zeit dafür findest.« Jetzt schwang eine Spur Wut in der Kälte mit und Vica knirschte mit den Zähnen.
»Es geht nicht! Ich hab noch nie über eine so große Strecke ... und dann auch noch so eine riesige Fläche ...«, murmelte sie, bevor sie sich zwang, sich an ihre Wut zu erinnern. »Nur weil du das unbedingt willst, geht es nicht automatisch!« Wütend setzte sie sich auf, weil sie keine Lust mehr hatte, vor ihm zu liegen. Das Gefühl von Unterlegenheit war in seiner Gegenwart ohnehin schon unangenehm stark. Im nächsten Moment schoss gleißender Schmerz durch ihren Schädel. Natürlich hatte sie sich den Kopf gestoßen, an der viel zu niedrigen Kante über der Koje. Ihr Schädel brummte und unwillkürlich rieb sie sich die Stirn. »Ich müsste tagelang wach bleiben, um überhaupt dort anzukommen. Das schaff ich nicht. Und irgendein Tier erst recht nicht.«
»Versuch es«, verlangte M trotzdem, während sie mit den Füßen nach dem Stab tastete, der vor der Koje auf dem Boden liegen musste, auch wenn ihr Kopf noch immer dröhnte.
»Ich kann dir jetzt schon sagen, dass das nicht möglich ist.«
Vica wusste, wie er sie ansah, mit diesem herausfordernden, wissenden Blick und vielleicht auch einer Spur Belustigung. Er hatte ein Ich kann nicht noch nie akzeptiert, nicht beim Kämpfen, nicht beim Anwenden ihrer Fähigkeiten oder bei irgendetwas sonst.
»Versuch es«, wiederholte er und schritt dann auf die Tür zu. Die Spannung seiner Nähe verblasste und sie reckte das Kinn.
»Ich habe nicht zugestimmt«, erinnerte sie und wusste gleichzeitig, dass sie das nicht musste. Er hatte sie bereits dazu gebracht, genauso wie er sie von der Irreninsel geholt hatte, ohne überhaupt selbst anwesend sein zu müssen. Sie hatte längst gelernt, dass es niemals von Erfolg gekrönt war, ihm zu widersprechen. Jedes Mal hatte er bisher einen Weg gefunden, sie dazu zu bringen, genau das zu tun, was er von ihr wollte. Es gefiel ihr nicht, vor allem, weil sie sich für gewöhnlich von niemandem sagen ließ, was sie zu tun hatte. Ändern konnte sie es dennoch nicht.
»Den Gang runter, die letzte Tür auf der rechten Seite«, war Ms einzige Antwort und dann hörte sie wieder die Tür. Entnervt warf sie die Hände in die Luft. Er hätte wenigstens so tun können, als machte es irgendeinen Unterschied, was sie sagte!
Puki huschte auf ihren Schoß und gab ein leises Keckern von sich. Seufzend fuhr sie durch sein Fell und hob ihn auf ihre Schulter. Ihre Füße fanden den Stab und vorsichtig tastete sie nach der Hängematte, um sich nicht schon wieder darin zu verhaken. »Na komm, Puki«, murmelte sie, während sie sich vorsichtig aufrichtete. »Sieht aus, als hätten wir zu tun.«
Vica verfluchte M, während sie sich mit einer Hand an der Wand den Gang hinuntertastete. »Na klar, schick das blinde Mädchen allein über den verdammt engen Flur«, murmelte sie ärgerlich vor sich hin. »Ist ja nicht dein Problem, wenn sie gegen vierhundert Wände rennt.« Reichlich unelegant fand sie schließlich die letzte Tür und schob sich hinein. Es roch nach Leder und altem Pergament. Außerdem war die Stille im Raum von ganz besonderer Art. Hier musste es Bücher oder zumindest eine Menge Pergament geben. Vielleicht war dies der Kartenraum?
»Hallo?«, fragte sie vorsichtshalber, obwohl sie niemanden im Raum wahrnahm. Normalerweise konnte sie in einer solchen Situation sogar den Atem einer Person hören. Außer Machairi konnte sich kaum jemand vor ihr verstecken.
Natürlich bekam sie keine Antwort. Also tastete sie sich vorsichtig in den Raum und erwartete, dass irgendwo ein Pergament für sie bereitlag. Tatsächlich stieß sie fast gegen den Tisch, der mitten im Raum zu stehen schien. Ihre Finger fanden eine Feder und einige Kohlegriffel und gleich mehrere Bögen Pergament, die übereinander auf der Tischplatte lagen.
Seufzend ließ sie Puki über ihren Arm auf den Tisch huschen und suchte nach dem Stuhl. Auch wenn sie sich hier genauso wenig auskannte wie im Gang zuvor, fand sie sich erheblich besser zurecht. Sie hatte eine recht genaue Vorstellung davon, was sie vor sich hatte, auch wenn sie nur vermuten konnte, dass sich an den Wänden Regale oder weitere Tische befanden, auf denen Bücher oder Ähnliches liegen mussten. Der Geruch war jedenfalls unverkennbar. Langsam ließ sie sich auf den Stuhl sinken und ertastete noch einmal den ganzen Tisch und vor allem die Ränder des Pergaments, damit sie wusste, wie viel Platz sie hatte.
Es war nicht einfach gewesen, zu lernen, wie man eine Karte zeichnete, wenn man nicht sehen konnte, aber über die Zeit hatte sie es mit Hilfe ihrer Fähigkeiten gelernt und perfektioniert. Machairi hatte diese Tatsache seither schon zahllose Male ausgenutzt, um sich einen entscheidenden Vorteil zu verschaffen, wenn er mal wieder einen wahnsinnigen Plan umsetzten wollte. Für gewöhnlich waren die Orte oder Gegenstände, die sie für ihn aufzeichnete, allerdings in passabler Reichweite und nie mehr als eine Tagesreise von ihr entfernt. Aber er hatte verlangt, dass sie es versuchte, also zog sie die Beine auf die Sitzfläche des Stuhls und verschränkte sie, bevor sie die blinden Augen schloss, um sich genau zu konzentrieren.
Sie fühlte den seichten Wellengang unter dem Schiff und die Bewegungen der Menschen über ihr. Sie hörte das leise Knarren des Schiffes und die gemütliche Stille des Raumes. Sie sah das Meer vor ihrem inneren Auge und dann streckte sich etwas in ihr aus, um die Möwen zu erreichen, die irgendwo hier sein mussten. Das Gefühl von Schwindel, das sich ausbreitete, solange sie kein Ziel gefunden hatte, war bekannt, ebenso wie der plötzliche Schlag in den Magen, wenn sie in den Geist des Tieres eindrang. Als sie klein gewesen war, hatte es ihr schreckliche Angst gemacht und es hatte lange gedauert, bis sie es über sich gebracht hatte, ihre Fähigkeiten zu nutzen. Heute war das unangenehme Gefühl kaum einen Gedanken wert und sie konzentrierte sich lieber darauf, die praktisch orientierten Instinkte des Vogels zu überstimmen und langsam die vornehmliche Kontrolle über das Tier zu übernehmen. Je nach Tier und Charakter war es mal einfacher, mal schwieriger, sie zu überzeugen, ihrer Bitte Folge zu leisten. Diese Möwe war ein leichter zu beherrschendes Wesen. Ihr vornehmliches Interesse lag im Fressen und da sie gerade nicht unter enormem Hunger litt, konnte Vica das Tier schnell dazu bewegen, höher zu kreisen, und sie konnte auf das Schiff hinabblicken.
Es war immer seltsam, plötzlich zu sehen. Meistens war nur ein bestimmter Teil des Blickfeldes scharf und gut zu sehen und bei manchen Tieren war es unheimlich schwer, die Augen zu koordinieren, um überhaupt ein sinnvolles Bild zu empfangen. Auch eine Möwe war unkompliziert. Vica konnte Gwyn sehen, der mit der Hatschi sprach und Mico, der vorne an der Reling stand und anklagend aufs Meer hinaussah. Vielleicht konnte sie ihm auf den Kopf kacken? Sie verwarf den Gedanken, als sie Machairi sah, der neben dem Steuer stand und sich mit dem Kapitän unterhielt. Am liebsten hätte sie das Gespräch belauscht, aber hören konnte sie nur mit ihren eigenen Ohren und sie wollte nicht riskieren, dass er bemerkte, dass sie ihm seine Worte von den Lippen ablas. Seufzend widmete sie sich also der undankbaren Aufgabe und dirigierte die Möwe in die Richtung, in die sich auch das Schiff bewegte.
So hoch sie sich traute, flog sie gen Himmel und sah das Schiff hinter sich immer kleiner werden, bis es kaum mehr als ein dunkler Punkt in der Ferne war. Die Kondition dieser Möwe hätte besser sein können, aber es würde reichen müssen. Wenn sie die Küste nicht erreichte, bis einer von ihnen vor Erschöpfung einschlief, würde die Möwe draußen auf dem Meer ihr Ende finden. Vica wusste nicht genau, was mit ihr geschah, wenn ein Teil ihres Bewusstseins so weit entfernt von dem anderen war. Sie konnte ihren eigenen Körper noch wahrnehmen, wenn sie es versuchte, konnte hören und sich bewegen und konnte sogar sprechen, wenn sie sich anstrengte. So malte sie ihre Karten normalerweise. Sie hatte allerdings nie getestet, wie weit die Verbindung reichte. Innerhalb der Stadtgrenzen und ein Stück darüber hinaus war sie noch nie auf Probleme gestoßen. Es war allerdings nicht ausgeschlossen, dass es irgendeine Einschränkung gab. Sie kannte niemanden, der ihre Fähigkeiten teilte und alles, was sie über ihre Kräfte wusste, beruhte auf teils schmerzvollen Erfahrungen und eigenen Beobachtungen.
Geschmeidig glitt die Möwe dahin und flog so gut ihre Flügel sie trugen mit dem Wind auf die Küste von Hareth zu. Der Vogel hatte einen guten inneren Kompass und so glaubte sie, immerhin in die richtige Richtung zu fliegen, auch wenn um sie herum weit und breit nichts war als endloses Blau. Nicht einmal das Schiff war mehr zu sehen, auf dem ihr Körper zurückgeblieben war. Eigentlich war die weite Freiheit des Meeres wunderschön, aber sie konnte sie nicht recht genießen, weil sie jeden Moment erwartete, die Verbindung mit dem Tier zu verlieren und dann brutal in den Kartenraum des Schiffes zurückgerissen zu werden - wenn sie Glück hatte. Doch diese Sorge schien unbegründet, denn die Möwe flog weiter und weiter und Vica kam zur Ruhe.
Irgendwann gönnte sie sich und der Möwe eine Pause. Auf den endlosen Weiten treibend entspannte das Tier seine Flügel und fing sogar einen Fisch, den Vica angeekelt mitverschlang. Eine Weile dösten sie gemeinsam auf den Wellen, wobei Vica dafür sorgte, dass keiner von ihnen einschlief. Irgendwann wurde der Wellengang etwas stärker und der kleine Vogelkörper dümpelte nicht mehr so entspannt über die Wellen, sondern wurde unangenehm auf und ab geschaukelt. Eilig beschloss Vica, dass die Pause lang genug gewesen war und brachte die Möwe dazu, sich wieder in die Lüfte zu erheben. Der Wind war aufgefrischt. Mehr und mehr überließ sie dem Tier die Kontrolle, das genau zu wissen schien, wie es die Luftströme zu seinem Vorteil nutzen konnte, anstatt dagegen zu kämpfen. Sie flog immer höher und wurde getragen, ohne großartig mit den Flügeln schlagen zu müssen. Der Gleitflug war spannend und gleichzeitig viel ruhiger als der gleichmäßige Flügelschlag zuvor. Zuverlässig glitten sie weiter durch die Luft, während das Wasser unter ihnen immer aufgewühlter wurde. Aus dem ruhigen, gleichmäßigen blauen Spiegel war eine schäumende Hügellandschaft geworden und dunkle Wolken türmten sich über ihnen auf. Innerhalb weniger Flügelschläge wurden aus leichten Winden stürmische Böen und das Flattern der Möwe wurde zum gekonnten Gleiten über die scheinbar willkürlich wechselnden Winde. Kurz konzentrierte Vica sich auf ihren eigenen Körper, in der Hoffnung, die Verbindung nicht zu verlieren, um zu spüren, ob sich das Schiff auch mehr bewegte als zuvor. Vielleicht war es so weit zurück, dass es gar keine Schwierigkeiten hatte, vielleicht war es aber auch schon inmitten eines tobenden Unwetters.
Die Planken unter ihr wirkten still, während die Möwe weiter über die Windböen ritt. Vorsichtig griff sie nach einem der Kreidegriffel und schrieb auf das Pergament: Unwetter voraus! Dann streckte sie suchend eine Hand nach Puki aus und strich über den kleinen Kopf. Sie rollte das Pergament zusammen, in langsamen Bewegungen, um die Verbindung mit der Möwe nicht zu riskieren, und als sie ihr zu entgleiten drohte, hielt sie inne und konzentrierte sich wieder aufs Fliegen, kehrte zurück zu der Möwe, die nun mehr und mehr mit der Macht des Wetterumschwungs zu kämpfen hatte. Dann, als sie hoffte, einen Moment entbehren zu können, rollte sie das Pergament weiter und machte einen Falz, damit Puki es möglichst würde tragen können. »Bring das zu M«, flüsterte sie, auch wenn es sie alles an Konzentration kostete.
Sie konnte nicht überprüfen, ob ihr kleiner Begleiter sie verstanden hatte, ohne dass sie ihm deutlicher machte, was er zu tun hatte, denn die Möwe forderte nun ihre volle Aufmerksamkeit. Aus den härteren Böen waren unregelmäßige Stürme geworden, die die See unter ihnen aufwühlten und in eine gigantische schwarze Masse verwandelt hatten. Aus riesigen schwarzen Wolken prasselte starker Regen und der kleine Vogel kam kaum mehr voran. Ohne Aussicht auf eine Flugpause oder auf Besserung war das kleine Wesen den Wettermachten schutzlos ausgeliefert und Vica konnte nur hoffen, dass sie diesen Sturm gemeinsam überstehen würden, denn sonst hätte sie ein unschuldiges Wesen in den Tod geführt. Außerdem hatte sie nun doch der Ehrgeiz gepackt, die Küste zu erreichen. Hätte sie nur gewusst, wie weit der Weg für eine Möwe war, und was sie gegen das schier unbezwingbare Naturspektakel tun konnte, das um sie herum ausgebrochen war. Durchhalten, sagte sie sich und der Möwe, während sie gemeinsam kämpften.