Читать книгу Pyria - Elin Bedelis - Страница 2

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Für Mally,

meine Schwester des Schreibens,

Stimme der Vernunft,

und weltbeste Freundin.

Wir können alles, Hatschi

Der Gestank des Hafenbeckens hing immer penetranter in der Luft, je weiter Leén die Straßen der Hauptstadt Kefa hinunterlief. Allein der Hunger zog sie hinab zu den billigsten Gasthäusern am Wasser, die zwischen Brackwasser und ausgedienten Fischernetzen nur wenige Kunden anzogen. Ihr Geld war schon vor fast einer Woche so sehr zur Neige gegangen, dass sie die Nächte in der trockensten Ecke verbrachte, die sie finden konnte, statt in einem Gasthaus zu übernachten. Zwei Monate war sie bereits hier, in diesem gottverdammten Loch, das sich eine Stadt schimpfte. Zuerst war es ihr vorgekommen wie eine Offenbarung, wie der beeindruckendste Platz auf Erden, so viel ordentlicher und moderner als alles, was sie von zu Hause kannte. Doch da hatte sie nur auf die kunstvollen Gebäude und die geraden Gassen geachtet und auf den deftigen Duft unterschiedlichster fremder Speisen, der stärker wurde, je weiter man sich dem großen Marktplatz näherte und den Hafen hinter sich ließ. Die Glückseligkeit hatte nicht lange gehalten. Jetzt kannte sie die dreckigen Ecken von Kefa, die abgelegenen Pfade und die brutale Wahrheit dieser Stadt. Egal wie weit sie sich verkroch, wo auch immer sie sich versteckte, wenn sie nachts endgültig nicht mehr wach bleiben konnte – die Stadtwache fand sie. Sogar zwischen den fürchterlich stinkenden Färberkesseln hatten die Soldaten sie vertrieben. Es schien in den Mauern der Stadt keinen Ort zu geben, an dem sich die Obdachlosen aufhalten durften, dabei gab es von ihnen so viele.

Ihr Magen war leer und ihre Taschen waren es auch. Die Tage bei jeder erdenklichen Behörde der Stadt hatten nicht nur an ihren Nerven, sondern auch an ihrem Geldbeutel gezehrt. Das Geld ihres Vaters war ebenso unerreichbar wie er und Leén war fertig mit der Welt. Mit Kefa, ja, mit dem ganzen Kontinent Cecilia wollte sie nichts mehr zu tun haben. Eigentlich wollte sie nur zurück nach Hause, nach Hareth, wo ein gemütliches Haus und die Ruhe der Heimat auf sie warten würden. Nichts und Niemand wartet, schalt sie sich selbst in Gedanken und setzte ihren Weg hinunter zu den Docks fort. Die billigsten Spelunken lagen in den weniger belebten Ecken des Hafens, wo die ärmeren Seeleute ihre klägliche Heuer versaufen konnten. Dreckig, laut, gefährlich - und der einzige Ort, an dem sich Leén ein Abendessen leisten konnte, selbst wenn es aus stinkendem Hering bestand und einer Sauce, die sie lieber nicht genauer inspizierte. Es gab jeden Tag das Gleiche im tropfenden Enterhaken und inzwischen hatte sie den dringenden Verdacht, dass sich der Wirt nicht die Mühe machte, mehr als einmal die Woche zu kochen.

Missmutig musterte sie die Gassen, durch die sie lief. Heruntergewirtschaftete Warenhäuser, Tavernen, Fischerläden und sogar Werkstätten für Fischerboote reihten sich aneinander und mit jedem Meter wurden die Häuser schiefer und die Gassen schmaler. Sie war nicht gerne hier, schon gar nicht, wenn die Dämmerung hereinbrach. Es grenzte an ein Wunder, dass sie noch nicht überfallen worden war, wenn sie die Gestalten betrachtete, die sich in den dunklen Winkeln verkrochen und ihr skeptische Blicke zuwarfen. Vielleicht sieht es aus, als sei bei dir nichts zu holen, verhöhnte sie sich selbst in Gedanken und seufzte. Oder vielleicht sah sie aus, als wäre sie längst eine von ihnen – den Bienen, wie sie hier genannt wurden: die Bettler, die Obdach- und Arbeitslosen, die Diebe, Kriminellen und Ausgestoßenen und was sich nicht sonst noch alles an Abschaum durch die dunkelsten Straßen drückte. Je weiter ihr kleines Vermögen zuneige ging, desto mehr wurde sie eine von ihnen. Nein, dachte sie, so bin ich nicht, niemals.

Niemand hielt sie auf, bis sie vor der klapprigen Tür des tropfenden Enterhakens stand. Es war eine windschiefe Gastwirtschaft, als könnte sie im nächsten Moment in sich zusammenklappen wie ein instabiles Kartenhaus. Die Fassade hätte dringend einen Anstrich vertragen können ... oder einen Abrisshammer, wenn man ehrlich war. Das Holz der Fenster war brüchig und holzwurmzerfressen, der Schornstein schief und die Hausfront wurde von Rissen zerfurcht. Leén seufzte, straffte die schmalen Schultern und ließ ihren langen, zur Seite geflochtenen Zopf durch die rechte Hand gleiten, bevor sie die Tür aufdrückte. Mit ihren fast schwarzen Haaren und der bronzefarbenen Haut fiel sie unweigerlich auf, aber den Wirt, der dabei war, einer Gruppe abgehalfterter Seemänner wässriges Dünnbier auszuschenken, kannte sie bereits. Sie nickte ihm zu, warf ihm einen auffordernden Blick zu und ließ sich in einer ruhigen Ecke an einen Tisch sinken. Das letzte Licht des Tages fiel durch die verklebte Fensterscheibe auf den Tisch und malte das Muster der Risse im Glas auf die Tischplatte. Leén seufzte und tastete mit der linken Hand nach ihrem Geldbeutel, um ein weiteres Mal zu überprüfen, ob er noch da war. Nicht erst einmal hatte sie mitbekommen, wie jemand erst bei dem Versuch zu bezahlen bemerkte, dass man ihn seiner Ersparnisse beraubt hatte. Den Ärger wollte sie gerne vermeiden.

Nach einer Weile kam der dürre Wirt zu ihr hinüber und stellte ihr ein Dünnbier und einen Teller mit pelzigem Hering vor die Nase. Seine knochigen Finger waren von vernarbter Haut überspannt und ein übel aussehender Ausschlag zog sich seinen linken Arm hinauf. Er litt offensichtlich an einer Krankheit und Leén missfiel der Gedanke, dass er mit diesen Fingern das ohnehin schlechte Essen zubereitete. Außerdem wurde ihr übel beim ranzigen Geruch der Sauce. Trotzdem rang sie sich ein Lächeln ab und nickte dankend.

In diesem Moment schlug die Tür mit einem ohrenbetäubenden Knall gegen die Wand und ein breitschultriger Kerl trat in den Raum. Die wenigen Gäste im Schankraum verstummten und Blicke voller Furcht richteten sich auf den Neuankömmling. Dessen grobe Gesichtszüge wirkten seltsam entstellt, als hätte sie jemand willkürlich zusammengewürfelt. So war seine Nase viel zu groß für sein Gesicht und die Augen dafür umso kleiner. Suchend fuhren sie durch den Raum, über entsetzte Gesichter und erstarrte Gestalten. Der hühnenhafte Kerl zeigte keinerlei Reaktion auf die Totenstille, die er herbeigeführt hatte. Dann fokussierte er den Wirt und trat einen Schritt vor. Dicht hinter ihm folgten zwei weitere Schränke. Leén merkte, dass sie den Atem angehalten hatte und drehte den Kopf wie in Zeitlupe, um den Wirt anzusehen, dem der Schweiß auf der faltigen Stirn stand und dessen Anspannung sie neben sich fühlte. Ihr erster Impuls war, sich so weit von ihm zu entfernen wie nur möglich, wenn der Ärger, den diese Männer mitbrachten, sich auf den Gaststättenbesitzer konzentrierte. Aber sie wagte es nicht, sich zu sehr zu bewegen, als könnten die Kerle sie übersehen, wenn sie sich nicht regte, obwohl sie nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um den Wirt zu berühren. »Gut, Wirt«, begann der Erste nun mit einer Stimme, die ebenso misstönend war, wie es sein Aussehen vermuten ließ. »Sag uns, wo er sich versteckt, und wir lassen diese stinkende Hütte vielleicht stehen.« Ein hämisches Grinsen machte sich auf seinem entstellten Gesicht breit und ließ seine Augen noch kleiner wirken, als er auf den bedauernswerten Wirt zutrat, der sich an die Wand neben Leén drückte. Leén konnte seinen Atem unregelmäßig und flach pfeifen hören, während er angstvoll auf den Kerl vor sich starrte.

»I-Ich... w-w-w-weiß nicht«, brachte er winselnd hervor und selbst Leén glaubte ihm nicht.

Der Andere grinste nur noch etwas ekelhafter, schloss die rechte Hand, die in einem einzelnen weißen Handschuh steckte, um den Kragen des Wirtes und hob ihn ein Stück von den Füßen. »Der Fürst hat keine Gnade mit Verrätern«, schnurrte der Grobschlächtige und die Zähne des Wirtes klapperten so laut, dass es durch den ganzen Schankraum zu hören war. Die anderen beiden Männer an der Tür ließen die Gäste nicht aus den Augen. Auch sie hatten jeweils die rechte Hand in weiß gehüllt, selbst wenn es sich bei ihnen nur um Bandagen handelte, die sie lose um die Handfläche geschlungen hatten. Noch immer wagte Leén nicht sich zu bewegen, aber sie fragte sich unweigerlich, ob diese Männer für eine der berüchtigten kriminellen Organisationen der Stadt arbeiten, denn Cecilia wurde von einem König regiert und auch die Herzöge, die in seinem Namen einzelne Landstriche unterhielten, ließen sich sicher nicht als Fürsten bezeichnen. Außerdem sahen diese Männer nicht aus, als würde irgendein ehrbarer Mensch sich mit ihnen abgeben.

»Sp-Speisekammer«, stammelte der Wirt nun und seine Lippen bebten. »Unter ... dem Dünnbier.« Er schien sich Mühe zu geben, seine Worte herauszubringen, aber die Angst zeichnete seine Stimme so deutlich, dass er kaum zu verstehen war.

»So ist es fein«, säuselte der Angreifer und tätschelte dem Wirt die bleiche Wange mit der freien Hand, bevor er die behandschuhten Finger von dessen Kragen löste und die beiden anderen Schränke nach hinten auf die Speisekammer zuhielten. »Und jetzt, die Einnahmen«, verlangte er im gleichen schnarrenden Tonfall und selbst Leén unterdrückte ein Zittern, weil ihr die beiden Männer so erschreckend nah waren.

»A-aber...«, setzte der Wirt an und schluckte. Seine Hand war zu seinem befreiten Kragen gefahren und er presste sich noch immer an die Wand, »... ich hab doch kooperiert«, schluchzte er und schien dafür all seinen Mut aufbringen zu müssen.

»Und du hast einen Feind des Fürsten versteckt.« Wie zur Bestätigung rissen seine beiden Kollegen einen jungen Mann aus der Hinterkammer, dessen Gesicht fast so blass war, wie das des Wirtes und dessen Lumpen weit um seinen ausgemergelten Körper hingen. Er sah nicht aus, als könne er irgendjemandes Feind sein. »Sei froh, wenn es bei den Einnahmen von heute bleibt«, ermahnte der Schläger kalt, was den bedauernswerten Wirt dazu veranlasste, hinter die Theke zu hasten, wobei Leén bemerkte, dass seine Hose nass war. Immerhin entfernte sich das Geschehen damit von ihr. Sie wagte es, sich zu entspannen und atmete auf. Sie würden gehen, wenn sie hatten, was sie wollten – oder etwa nicht? »Das ist alles?«, fragte der Anführer skeptisch, als der Wirt leicht gebückt zu ihm zurückgewatschelt kam und ihm mit zitternden Händen ein Säckchen in die weiße Hand fallen ließ.

»Bisher«, flüsterte der Wirt fast unhörbar und der Schrank warf einen Blick zu seinen beiden Kollegen, die noch immer den Gesuchten festhielten und bei der Tür auf ihn warteten. Dann glitt sein Blick weiter und er drehte sich langsam, bis seine Aufmerksamkeit an Leén hängen blieb, oder vielmehr an dem unangerührten Teller Hering.

»Hast du schon bezahlt, kleine Hatschi?«, fragte er herausfordernd und jagte Leén damit einen kalten Schauer über den Rücken. Zögernd schüttelte sie den Kopf, auch wenn sie normalerweise nicht reagierte, wenn jemand sie mit dem Spottnamen bedachte, den die Cecilian für die Harethi erdacht hatten. Unter dem hektischen Rasen ihres Herzens und angesichts der Furcht, die alle Gäste teilten, verzichtete sie jedoch auf ihren Stolz und die naheliegende Lüge und brachte ihren Gegenüber damit dazu, sein hässliches Gesicht zu einem Grinsen zu verziehen, als er die Hand aufhielt.

Leén seufzte unhörbar, schob eine Hand in ihren Mantel und suchte ihren eigenen Geldbeutel hervor. Es waren nicht mehr viele Drawken darin und sie bestanden hauptsächlich aus den halben und Viertelmünzen. Sie stieß mit den Fingern gegen die Ecken der durchgeschnittenen Münzen und versuchte, eine Viertelmünze zu ertasten. Vorsichtig fischte sie eine Münze mit zwei geraden Kanten heraus und legte sie auf den weißen Stoff des Handschuhs, aber der Mann regte sich nicht und hielt weiter die Hand auf. »Das ist, was es immer kostet«, versuchte sie möglichst akzentfrei herauszubringen. Sie würde ihr knappes Geld nicht einfach so an einen Typ mit nur einem Handschuh verschenken. Doch sie glaubte zu hören, wie der Wirt erschrocken Luft einsog.

»Heute kostet es das Doppelte.«

Leén musste ihren ganzen Mut zusammenkratzen, um zu widersprechen. »Das könnt ihr nicht machen!«, wollte sie ihn anfahren, aber zu ihrem Ärger klang es mehr wie ein empörtes Quieken und ihr Akzent klang stärker durch.

»Und nochmal das Doppelte.« Jetzt erschauderte sie unter seiner Drohung, aber das milderte ihre Empörung nicht. Trotzdem hatte sie verstanden, dass weiterer Widerspruch nichts besser machen würde, fummelte in ihrer Tasche herum und suchte eine weitere Viertelmünze und eine halbe Münze heraus und drückte sie ihm mit einem vernichtenden Blick in die Hand. Dieses Mal schloss er die Hand darum und ließ die Münzenteile in das Säckchen des Wirtes fallen. Für einen Moment sah es aus, als wollte er sich zum Gehen wenden, aber dann beugte er sich zu ihr hinunter. Sie spürte den rauen Stoff des Handschuhs an der Haut, als er ihr unters Kinn fasste und ihr so beängstigend nah kam, dass sie nicht wagte, zu atmen. »Wir können alles, Hatschi«, raunte er ihr zu und griff nach dem Geldbeutel in ihrer Tasche.

Wut bäumte sich in ihr auf und Ekel überkam sie. Energisch drehte sie den Kopf weg und versuchte, sich eine bissige Antwort zu verkneifen. Fest biss sie sich auf die Zunge, weil sie nach ihrem Geld nicht auch noch ihr Leben verlieren wollte. Trotzdem brachte sie es nicht über sich, in der Nähe dieses Mannes zu bleiben und wandte sich ab. Er warf ihren Geldbeutel in die Luft, fing ihn wieder auf und wandte sich dann endlich zum Gehen. Selbstzufrieden verließ er den Schankraum, dicht gefolgt von seinen Kollegen mit dem bemitleidenswerten Gefangenen.

Sobald die Tür hinter ihnen zufiel, schwappte eine Welle der Erleichterung durch die Spelunke und der Wirt ließ sich schwer seufzend auf einen Stuhl sinken. Er fuhr sich über die wunde Haut und atmete tief durch. Langsam kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück, auch wenn er noch immer fürchterlich verschreckt wirkte. Leén dagegen war wütend und stieß unwirsch die Gabel in den viel zu teuren Hering. Ein paar Tage hätte sie noch durchgehalten mit dem Geld, das ihr geblieben war, und jetzt war es weg. Sie hasste Kefa. Sie hasste Cecilia. Sie hasste den Schweinegesichtigen und sie hasste den gammligen Hering. Da sie ohnehin niemand verstand, machte sie ihrem Ärger Luft, indem sie zwischen Bissen ekelhaften Herings und Schlucken Dünnbiers auf Hack vor sich hin schimpfte.

Der Wirt saß noch immer in ihrer Nähe und versuchte, sich zu beruhigen. Schließlich rückte er mit seinem Stuhl und seiner nassen Hose an ihren Tisch und sah sie an, noch immer leicht blass um die Nase. »Man streitet nicht mit den Schatten«, sagte er mit ernster Stimme und sah sie an, plötzlich scheinbar besorgt.

Sie hätte nicht gedacht, dass es ihn kümmerte, ob sie sich in Schwierigkeiten brachte. Vielleicht hatte er Angst, dass das auf ihn zurückfallen würde. Leén schnaubte. Natürlich verhielten die Idioten sich so, wenn jeder ihnen Respekt entgegenbrachte. »Er sah nicht aus wie ein Schatten«, knurrte sie und versuchte nicht zu sehr an den harten Konsonanten der Sprache hängen zu bleiben. »Eher wie ein ziemlich dämlicher Mensch«. Sie hatte Cizethi gelernt, als sie noch zu Hause gelebt hatte, aber das Meiste hatte sie in den letzten beiden Monaten auf den Straßen der Stadt und bei den zahllosen Behörden gelernt, bei denen sie um die Freilassung ihres Vaters gekämpft hatte.

Der Wirt schüttelte erschrocken den Kopf und sah sie entsetzt an. »Sei nicht dumm, Mädchen«, raunte er atemlos. »Der Fürst ist ein gefährlicher Mann und seine Vollstrecker ...« Er erschauderte.

»Was für ein Fürst überhaupt?« Sie schob den Teller von sich, weil sie es nicht über sich brachte, die ranzige Sauce ganz aufzuessen. Sie ärgerte sich noch immer, aber langsam wich die Wut der Sorge und bei dem Gedanken an die grobschlächtigen Männer wurde ihr unwohl (vielleicht lag das aber auch am Hering).

Der Wirt schüttelte den Kopf und murmelte etwas Unverständliches, bevor er zu seinem verschwörerischen Gehabe zurückfand. »Der schwarze Fürst. Der Bienenkönig. Der Herr der Schatten ...« Er erschauderte bei jedem Namen. »Er ist der mächtigste Mann der Stadt, manche sagen, dass er hier mächtiger ist als der König selbst.« Er zog die Schultern hoch und Leén konnte die Gänsehaut sehen, die über seine entzündeten Arme kroch.

Sie dachte an die Worte, die der Klotz ihr eben zugeraunt hatte. Wir können alles, Hatschi. »Und die Kerle eben...?«, fragte sie und wunderte sich, dass sie erst jetzt davon erfuhr.

»Einer seiner Vollstrecker... der einzelne weiße Handschuh ist ihr Zeichen.« Dramatisch hob der Wirt die eigene entstellte Hand und hielt sie in die Luft, während er sie mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.

»Warum nur einer?« Sie fühlte, dass sie nicht so beeindruckt war, wie sie es hätte sein sollen.

»Sie sind seine rechte Hand! Wenn es beide Hände wären …« Der Wirt hob auch die zweite Hand und starrte jetzt seine beiden Hände verängstigt an. Er senkte die Stimme. »Sie sind überall!« Jetzt mischte sich Panik in seine Stimme. »Die Schatten des schwarzen Fürsten kontrollieren die Stadt, das Geschick der Händler und doch zeigt sich der Fürst nie. Es heißt, sie werden vom Bienenstock selbst geboren!« Er nickte bekräftigend und fixierte Leén wieder. Sie konnte sich dem Eindruck nicht erwehren, dass er wahnsinnig geworden war. Gleichzeitig merkte sie, dass Unbehagen sie überkam und dachte an die weißen Finger an ihrem Kinn. Unwillkürlich schluckte sie, bevor sie versuchte, sich klarzumachen, dass das vermutlich alles Seemannsgarn war. Sie hatte schon häufiger gehört, dass Seeleute – und sicher auch einsame Wirte – sich Schauergeschichten über Monster erzählten. Die Cecilian waren für ihre Ignoranz gegenüber allem, was ihnen fremd war, bekannt und dass ihm bei dem Essen der Geist verwirrt war, konnte sie sich gut vorstellen. Trotzdem hatten alle Anwesenden eingeschüchtert reagiert und der Schatten und seine Handlanger waren aufgetreten, als erwarteten sie keinen Widerstand.

»Was ist mit den anderen beiden ... die hatten nur …« Bescheuerte Vokabellücken! Sie kannte das Wort … »Bandagen ... sind die auch Schatten?« Sie verdrehte die Augen und versuchte trotzdem nicht durchklingen zu lassen, dass sie glaubte, der Wirt könnte nicht mehr alle Ruder an Bord haben. Auch wenn sie zugeben musste, dass sie plötzlich ein nervöses Kribbeln unter der Haut spürte.

»Sie folgen den Schatten!« Er riss die Augen, wenn möglich, noch weiter auf. »Gerade erst aus den Schatten der Insel entstiegen! Handlanger der Vollstrecker!«

»Ja, genau … davon hab ich auch schon gehört.« Der sarkastische Unterton schien an dem Wirt vorbeizugehen. Sie trank den letzten Schluck des viel zu teuren Dünnbiers und seufzte.

»Warum passt du dann nicht besser auf?!«, stieß der Wirt hervor. »Der Schlitzer wird dich holen, oder Grothia, die Faust oder Dimios, der Henker oder ...« Er machte eine Pause und flüsterte: »Machairi.« Er hauchte das Wort und Leén konnte nicht anders als die Luft anzuhalten, bei der Furcht, die dem Mann anhaftete. Aber da war noch etwas anderes, ein weiteres Gefühl hinter Angst und Respekt. Bewunderung, begriff sie.

»Machairi«, wiederholte sie und dieses Mal brachte sie keinen Spott zustande. Das Wort hallte durch den Raum und Köpfe drehten sich zu ihnen.

»Die Klinge«, hauchte der Wirt.

»Der Messerdämon«, sagte ein anderer in die gespannte Stille im Raum hinein und jetzt sah Leén bei ihnen allen die gleiche Mischung aus Furcht und Bewunderung.

Sie schluckte erneut, aber ihr Mund war trocken geworden. Einen Moment lang wusste sie nicht, was sie sagen sollte. »Und das eben ...?«, fragte sie dann, als die Spannung verklungen war und ärgerte sich, als ihre Stimme rau klang.

»Aroura.« Jetzt war es mehr Abscheu als Respekt, die dem Wirt auf die Züge geschrieben stand. »Die Ratte.«

Wer dachte sich diese Namen aus? Fingen die einfachen Menschen der Stadt an sich Namen auszusuchen, oder nannten sich die Kerle etwa gegenseitig so? Denn auch wenn sie zugeben musste, dass die Erwähnung dieser Menschen die Anwesenden zu gebanntem Schweigen bringen konnte, war sie sich doch recht sicher, dass es bloß Menschen waren. Wir können alles, Hatschi. Sie dachte an ihren Vater und an die hundert Behörden, die sie abgelaufen hatte und die hundert Türen, die man ihr vor der Nase zugeschlagen hatte. Offenbar war der schwarze Fürst der König des Abschaums. Bienenkönig. Wenn sie an die Männer zurückdachte, die eben hier gewesen waren, dann kam seine Macht durch die Furcht, die er säte. Die Schatten öffneten sich ihre Türen mit Gewalt, Drohungen und Erpressung. Wir können alles, Hatschi. Alles. Auch einen unschuldigen Mann aus den Kerkern der Festung befreien? Leén zupfte am Ende ihres Zopfes und starrte auf die Tischplatte, auf der sich längst kein Licht mehr sammelte. Die Stadt lag im Dunkeln. Die Zeit der Schatten hatte begonnen. Sie schmunzelte. Sie hatte kein Geld mehr, kein Zuhause. Sie war eine der Bienen geworden, die Ratte hatte sie soeben zu einer gemacht. Wie sollte es noch schlimmer werden?

»Die Insel vor der Stadt ... der... der Bienenstock ... kann ich sie da finden?« Die Entscheidung war gefallen, bevor sie den Gedanken beendet hatte.

»Finden?« Die Stimme des Wirtes überschlug sich vor Entsetzen. »Hatschi, hast du nicht zugehört?« Er erschauderte. »Komm niemals den Schatten in die Quere. Der Stachel der Bienen sticht härter als ein kleines Mädchen überleben kann!« Er legte eine wunde Hand auf ihren Arm. »Hör auf meinen Rat, Hatschi, bleib diesen Wesen fern!«

Zum zweiten Mal heute ignorierte sie die Ansprache. »Es sind Menschen«, korrigierte sie und schob seine Hand von ihrem Arm. »Und ich habe nichts zu verlieren.«

Er schüttelte den Kopf. »Sei nicht dumm, Mädchen!«

Sie war nicht dumm. Sie war verzweifelt. Vielleicht ist das das Gleiche, dachte sie. »Vielen Dank für den Rat.« Leén stand auf und sah auf die Dunkelheit jenseits des schmierigen Fensters. Vielleicht war es wahnsinnig, Leute um Hilfe zu fragen, die Menschen in Angst und Schrecken versetzten, aber ihr Vater saß in einem unerreichbaren Kerker und sie hatte weder Mittel noch Möglichkeit, ihn da rauszuholen. Wir können alles, Hatschi. Der Blick des Wirtes folgte ihr, als sie zur Tür trat. Beweist es, dachte sie und trat hinaus in die Nacht, die gespannte Stimmung der Spelunke hinter sich lassend. Holt mir meinen Vater zurück!


Im Hafen war sogar zu dieser Zeit noch Betrieb, auch wenn die Sonne lange untergegangen war und sich die respektablen Bürger in ihre Häuser zurückgezogen hatten. Immer schien irgendwo eine Lampe zu brennen und Menschen arbeiteten spät an Deck der Schiffe, die im Hafen vor Anker lagen. Hinter dem Hafen erstreckte sich die einzige Brücke, die auf die Insel führte. Leén hatte sie schon gesehen, als sie in den Hafen eingelaufen waren. Bereits von dort hatte man sehen können, dass sich hinter dem hohen hölzernen Bollwerk kein Reichtum befand.

Der Geruch des Hafens hing ihr noch in der Nase, als sie endlich die steinerne Brücke erreichte. Die Pflastersteine waren unregelmäßig und Löcher klafften an manchen Stellen, aber im Grunde sah sie noch recht stabil aus und soweit die junge Harethi das sehen konnte, musste sie ständig benutzt werden. Trotzdem fühlte sie sich nicht wohl, als sie die Füße auf die Brücke setzte. Vorsichtig schritt sie über das grobe Pflaster, an dem sie sich die vollkommen ungeeigneten Schühchen aufstieß und fühlte ihren Mut sinken. Vielleicht sollte sie bis zum Tagesanbruch warten, bis sie sich in die fremden Straßen wagte? Bis dahin konnte sie allerdings nach wie vor nichts tun, außer sich in eine Ecke zu verkriechen, bis die Garde sie fand. Vielleicht schlief sie besser in einer ähnlichen Ecke im Bienenstock.

Das schwarze Wasser plätscherte unheilvoll unter der schier endlosen Brücke. Die erleuchtete Insel war ein verwunschener Fremdkörper jenseits der Dunkelheit. Es fühlte sich an, als würden die Häuser gar nicht näherkommen, doch schließlich trat sie in den Lichtkegel einer Laterne, die an einer Seite der Brücke stand und den Anfang des eigentlichen Bienenstocks markierte. In ihrem Licht konnte Leén die Holzpalisade sehen, die sich um die Insel zog und sie vom Meer abschirmte. Langsam näherte sie sich dem Bollwerk und plötzlich verstand sie, woher der seltsame Name kam: Es summte wie ein Bienenstock. Ein ständiges Durcheinander von Geräuschen drang durch den unversperrten Durchgang. Musik und Stimmen füllten die Luft neben anderen Geräuschen, die sie nicht ganz zuordnen konnte und vermischten sich zu einem fröhlichen Brummen. Hinter der Balustrade konnte sie kleine Häuschen und Hütten erkennen, die sich noch schräger aneinander lehnten als die verfallensten Häuser in der Stadt. Schmale Gassen wanden sich in alle Richtungen. Aus vielen Fenstern drang noch Licht, einzelne Laternen erhellten den breitesten Weg und es war, als schaue man nicht durch einen kleinen Durchgang zu einer Insel, sondern durch ein Tor in eine andere Welt. Niemand auf dieser Insel schlief. Es war nicht halb so furchteinflößend, wie sie erwartet hatte. Neugierig trat sie durch den Durchgang.

»He, Hatschi.« Eine Stimme klang aus der Dunkelheit neben der Umzäunung. Konnte es angehen, dass der Eingang tatsächlich bewacht war? Waren doch Gardisten hier positioniert? Ein junger Mann löste sich aus den Schatten und machte einen Schritt vor. Er war gerade dabei, sich eine weiße Bandage um die rechte Hand zu wickeln, und musterte sie einmal von Kopf bis Fuß. Er war kaum größer als sie, was eigentlich ein Kunststück war, so klein wie sie war. »Absicht, Einladung oder Name«, zählte er ihr ihre Möglichkeiten auf und grinste.

Obwohl er augenscheinlich auch zu den berüchtigten Handlangern gehörte, wirkte er nicht besonders furchteinflößend. Er trug die Tracht eines Gauklers, genauer gesagt eines Feuerspuckers, wenn sie die gelben und roten Färbungen, die sich von den Säumen über das Oberteil zogen, korrekt als Flammen identifizierte. Außerdem waren seine Züge keine wütende Grimasse. Genau genommen lächelte er sie an. Sie hob die Augenbrauen ein Stück. »Ich hatte keine Eingangskontrolle erwartet.« Sie fand, dass er eigentlich nicht nach Ärger aussah und riskierte deshalb eine unvorsichtige Antwort.

»Und du dachtest, ein einsames Mädchen aus Hareth fällt nicht auf?« Er grinste und lehnte sich wieder an das Holz. Offenbar hatte er nicht vor sie einzuschüchtern, aber aus den Augen ließ er sie trotzdem nicht.

Jetzt fiel ihr auf, dass seine Haut nicht so blass war, wie die der Cecilian. Zwar war sie nicht so bronzefarben wie ihre, aber er hatte definitiv einen dunkleren Hauttyp als hierzulande üblich und die braunen Haare, die ihm in die Stirn fielen, waren auch dicker als typisch für einen Cecilian. Zhaki, dachte sie und entspannte sich mehr. Die Zhaki lebten friedlich auf beiden Kontinenten und waren – zumindest in Hareth – für ihre Gastfreundschaft bekannt. Deshalb rechnete sie sich eine Chance aus, bei diesem Jungen auf weniger Vorurteile zu stoßen. »Ich wollte nur in Ruhe irgendwo schlafen.« Immerhin beinhaltete das die Wahrheit, auch wenn es nicht so aussah, als könnte man hier irgendwo ruhig schlafen, wenn sie den Geräuschpegel bedachte.

Auch der Junge lachte auf. »Da bist du ja an den richtigen Ort gekommen!« Er grinste und warf sich die Locken aus der Stirn, während er sie weiter musterte und die Finger der bandagierten Hand streckte, als würde der Stoff ihn stören.

»Sie lügt«, erklang eine weitere Stimme. Sie klang weit weniger freundlich und der zweite Kerl, dem sie zu gehören schien, erfüllte das stereotypische Aussehen eines Cecilian schon viel eher. Er war ein gutes Stück größer als Leén und sein blonder Schopf war kurz geschnitten. Aus blassblauen Augen musterte er sie und ihre Zuversicht schwand, als sie die Abfälligkeit darin sah. »Was willst du wirklich hier, Hatschi?«, fragte er kühl.

Leén straffte die Schultern und reckte das Kinn, um sich nicht ganz so klein zu fühlen. Kurz nahm sie auch an seiner Rechten die Bandage zur Kenntnis und dann verkündete sie: »Ich will mit dem schwarzen Fürsten sprechen.« Die Bezeichnung schien ihr noch die Tauglichste von denen, die der Wirt ihr genannt hatte.

Der Blick des blonden Jungen wurde noch eine Spur ablehnender und sogar der Zhaki hatte aufgehört zu lächeln. »Nimm das besser zurück«, riet er ihr mit hochgezogenen Augenbrauen und auch wenn er nach wie vor nicht bedrohlich aussah, hörte sie die Warnung daraus.

»Warum?«, fragte sie, auch wenn sie unter dem Blick des großen Cecilian am liebsten sofort gehorcht hätte.

»Warum?!«, wiederholte der Blonde und machte noch einen Schritt auf sie zu. »Willst du mich verarschen?!«

»Niemand bekommt eine Audienz beim Fürsten, ganz sicher keine kleine Harethi«, erklärte der Zhaki und hielt seinen Kollegen am Ärmel fest, bevor er anfangen konnte, auf sie einzuschlagen. »Und wenn dir deine Gesundheit gefällt, verlangst du so was Unverschämtes besser nicht.«

Das hatte sie nicht gewusst. »Na gut, dann eben einen der Schatten.« Sie versuchte sich an die Namen zu erinnern, die der Wirt geflüstert hatte. »Schlitzer ... ähm Dimios ...« Sie dachte wieder an das plötzliche Schweigen. »Machairi.«

Auch dieses Mal verfehlte der Name seine Wirkung nicht. Die beiden Männer tauschten einen Blick, den sie nicht deuten konnte. Sie waren etwa in ihrem Alter, aber es kam ihr vor, als sei sie ein kleines Kind, das sich vor seinen älteren Brüdern fürchtet. Als der blonde Cecilian sich ihr wieder zuwandte, war sein Gesicht rot vor Wut und sie machte automatisch einen Schritt zurück, als er ausholte. Sie wusste, dass sie das Falsche gesagt hatte und sie dachte nicht einmal daran, auszuweichen. Trotzdem blieb der erwartete Schmerz aus. Erneut hatte der Zhaki seinen Kameraden zurückgehalten. »Ist kein verbotener Wunsch«, erinnerte er ihn, aber als er Leén wieder ansah, lag fast etwas wie Sorge in seinem Blick. »Auch wenn du Gefahr wirklich zu mögen scheinst; das sind keine Namen, die du mal eben hier über die Straße schreien und erwarten kannst, dass du zum Kaffeekränzchen eingeladen wirst.«

»Es ist aber wichtig!« Sie senkte den Kopf. »Ich will niemanden verärgern, ich will nur ...«

»Hast du aber«, fiel ihr der Blonde ins Wort und ließ die Knöchel knacken. Erneut zog der Zhaki ihn zurück und der Schläger knurrte. »Weil sie keine Ahnung hat. Nur weil sie keine Ahnung hat«, zischte er dem Zhaki zu. »Verschwinde zurück ins hübsche Nest.« Grob stieß er das Mädchen zurück auf die Brücke.

Leén spürte, wie ihre Lippen bebten. Plötzlich überkam sie schiere Verzweiflung. Wenn sie nicht einmal im Bienenstock sein konnte ... Wo sollte sie hin? Auf den Straßen der Stadt war sie nicht erwünscht, selbst die Ausgestoßenen ließen sie nicht auf ihre Insel, und zurück nach Hareth konnte sie auch nicht … ohne Geld und ohne ihren Vater. Sie presste die Lippen aufeinander und versuchte, keine Tränen zuzulassen.

»Worauf wartest du?«, fuhr der Cecilian sie erneut an. »Marsch, nach Hause!«

»Hab ich nicht!«, stieß sie hervor und kämpfte verbissen gegen die Tränen. Sie würde nicht vor diesen Männern weinen. »Ich dachte, hier kann jeder hinkommen«, brachte sie hervor. Ihre Stimme bebte und ihre Zunge tat sich schwerer mit den fremden Lauten.

Der Zhaki raunte dem Blonden etwas zu und der verschränkte schnaubend die Arme. Dann rollte er mit den Augen. »Tu, was du nicht lassen kannst. Du übernimmst die Verantwortung dafür, Gwyn!«, knurrte er und wandte sich ab.

Seufzend gab der Zhaki ihr einen Wink und zögernd trat sie wieder durch das Tor. »Versprich mir, dass du nie wieder verlangst, zum Fürsten gelassen zu werden«, sagte er ernst und sah sie direkt an. »Dann darfst du rein, weil du das nicht wissen konntest.«

Sie nickte und fühlte sich schrecklich dumm. Schuldbewusst kaute sie auf ihrer Unterlippe und schlang die Arme um sich selbst. »Danke ... Gwyn«, murmelte sie, weil sie durchaus verstanden hatte, dass er den Kopf für sie hinhielt.

»Wenn du noch eine halbe Drawke hast, kann ich dir empfehlen, geradeaus am anderen Ende nach einer Unterkunft zu schauen«, riet er ihr und als sie den Kopf schüttelte, fügte er hinzu: »Dann halt dich lieber nach links und schau, ob du nah der Kanäle einen leeren Unterschlupf findest.« Er musterte sie und seufzte. »Pass auf im Westen. Nah der Irreninsel ist viel Gesindel unterwegs.« Er schenkte ihr ein zaghaftes Lächeln und nickte nach links, in die entgegengesetzte Richtung.

»Danke«, wiederholte sie und senkte den Kopf, bevor sie in die Richtung tapste, die er ihr gewiesen hatte. Sie spürte seinen Blick im Nacken und wäre fast noch einmal stehen geblieben, um ihn um mehr Ratschläge zu bitten. Sie hatte sich das einfacher vorgestellt, hatte gar nicht darüber nachgedacht, dass es ein Problem sein könnte, überhaupt zu den Schatten vorzudringen. Jetzt war ihr klar, dass sie, ohne eine Bezahlung anzubieten, keine Chance auf die Hilfe dieser Leute hatte, selbst wenn sie es schaffte, sie zu finden. Offensichtlich reichten die Märchen eines Wirtes nicht aus, um sich hier zurechtzufinden. Sie saß hier fest ohne ihren Vater. Sie hatte kein Zuhause ohne ihn, keine Familie, keine Zukunft. Vielleicht, wenn sie verstand, wie der Bienenstock funktionierte, würde sie doch noch einen Weg finden, ihm und damit auch sich selbst zu helfen, denn sonst blieb ihr nichts zu tun.

Leén hatte kaum einen Blick übrig für die Spiel- und Wetthallen und die Freudenhäuser, an denen sie vorbeikam, auch wenn einige davon, gerade für die Gegend, spektakulär aufgemacht waren und es sicher eine Menge zu sehen gab. Müdigkeit und Ernüchterung drückten sie herab und sie suchte nur noch nach einem Platz, an dem sie vielleicht durchschlafen konnte. Sie hielt sich abseits von den Straßen, die belebt waren und vor Menschen nur so brummten, welche sich den örtlichen Vergnügungen hingaben. Die meisten würden den Bienenstock allerdings verlassen, sobald sie genug hatten, und in ihr ehrbares Haus und ihr noch viel ehrbareres Leben zurückkehren, während die Bienen hierblieben und ihnen ihre teuren Freuden bereiteten. Leén entschied nicht darüber nachzudenken und fand, dass sie ohnehin zu müde dafür war.

Schließlich blieb sie in einer Gasse nah eines der schmalen Rinnsale, die sich Kanal schimpften, stehen und kauerte sich im Schatten einer zerfallenen Treppe zusammen. Sie bot wenig Schutz. Wenn es regnete, würde sie trotzdem durchnässt werden, aber es war besser als nichts. Seufzend rollte sie sich zu einem kleinen Paket zusammen und fühlte sich elendig. Niedergeschlagen lauschte sie dem Summen des Bienenstocks und schloss die Augen, als die Tränen zu fließen begannen. Sie war allein. Heiße Tropfen rannen über ihr Gesicht und die Müdigkeit schlug über ihr zusammen und begrub sie unter sich. Den Mut, den sie verspürt hatte, als sie beschlossen hatte, die Hilfe der Schatten zu ersuchen, war verflogen, zerschmettert von der Realität. Wimmernd kauerte Leén unter der Treppe und weinte sich in den Schlaf.

Pyria

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