Читать книгу Pyria - Elin Bedelis - Страница 4
ОглавлениеTante Evima
Es war nicht schwer, Geschichten über die Schatten und den schwarzen Fürsten zu hören. Tagsüber saßen die Bettler beieinander und manche von ihnen schienen nur darauf gewartet zu haben, nach Geschichten über die Beschützer der Bienen gefragt zu werden. Die größere Herausforderung war, nicht zu verhungern. Niemand hier hatte etwas zu verschenken und nicht einmal Abfälle waren leicht zu kriegen. Einzig Wasser war frei am Brunnen zugänglich und Leén konnte an ihrem zweiten Tag eine der raren Tagesrationen ergattern, die der schwarze Fürst für die Ärmsten seiner Bienen ausschenken ließ. Der Bedarf konnte damit nicht mal annähernd gedeckt werden und so war es ein Wunder, dass Leén eine Portion erhielt. Sie fiel darüber her wie ein ausgehungertes Tier und kümmerte sich auch nicht weiter darum, dass es noch schlechter schmeckte als der Hering im tropfenden Enterhaken. Sie lernte schnell, dass im Bienenstock das Recht des Stärkeren galt und dass man alles, was man hatte, gut beschützen musste, wenn man es behalten wollte. So musste sie sogar ihre Schuhe verteidigen, als sie in der zweiten Nacht unter ihrer Treppe davon wach wurde, dass ein Mädchen sie ihr von den Füßen zog. Hätte sie sich nicht aufgebäumt und auf die Kleine geworfen, wäre die auf und davon gewesen, aber so konnte sie ihre Schühchen den Kinderhänden entwinden und die Diebin verscheuchen. Mit ihrer Tasche hatte sie weniger Glück. Ein Verlust, den sie betrauerte, der aber unter dem Überlebenskampf in den Hintergrund rückte.
Es war frustrierend und unheimlich ermüdend, im Bienenstock zu leben. Außerdem musste sie feststellen, dass dies noch nicht die letzte Station auf dem Weg nach ganz unten war. Es gab noch die Irreninsel. Eine zweite, kleinere Insel vor der Stadt, zu der es keinen sichtbaren Zugang gab, auf der die Wahnsinnigen untergebracht waren, vor denen sich selbst die Bienen fürchteten. Auch darüber gab es unheimliche Geschichten. Leén verbrachte Tage damit, allen Erzählungen zu lauschen. So erfuhr sie mehr über den Bienenstock, seine Bewohner, die Schatten und den schwarzen Fürsten, der seinem Titel gerecht wurde. Der Bienenstock war sein Reich. König Thredian mischte sich nicht in seine Angelegenheiten ein, wenn es sich vermeiden ließ, und der Fürst sorgte für seine Bienen und fütterte die Geschichtenspinner mit dem Stoff für unzählige Mysterien. Niemand wusste, wie er aussah und es hieß, dass er schon über hundert Jahre den Bienenstock regierte. Ihm unterstanden die legendären Schatten, die den weißen Handschuh trugen und weit über die Grenzen des Bienenstocks und sogar der Stadt hinaus berühmt oder berüchtigt waren. Sie brachten das Geld ein, das für den Bienenstock ausgegeben wurde und sie verteidigten ihn auch. In mancher Darstellung waren sie strahlende Helden, in anderer hinterlistige Schurken.
Da war Dimios, der Henker, ein Albino, so sagte man, der schon mehr Soldaten der Stadtwache und reiche Kaufmänner auf dem Gewissen hatte als Haare auf dem Kopf und Grothia, die Faust, eine Frau, die jeden noch so starken Mann zu Fall bringen konnte. Es gab Kopton, den Schlitzer, der seinen Opfern ihre Sünden ins Gesicht ritzte und Agio, die Heilige, die immer etwas zu essen besorgen konnte und dann spurlos verschwand. Und dann war da Machairi. Der Messerdämon. Es hieß, er sei unheimlich schnell, unberechenbar und wie kein Zweiter mit dem Messer. Die anderen Schatten verkörperten ein beständiges Bild als Helfer, als Rächer oder als skrupellose Schlächter. Machairi war nichts davon und doch alles gleichzeitig. Niemand konnte voraussagen, wie er sich verhalten würde und angeblich bestand sein Gefolge nicht aus den üblichen Schlägern und Schlächtern. Manche behaupteten sogar, er könnte eines Tages die Nachfolge des schwarzen Fürsten antreten, falls der denn sterblich sein sollte und einen Nachfolger bräuchte. Leén wollte alles über ihn wissen. Er faszinierte sie und sie verstand, warum der Name immer diese Mischung aus Angst und Bewunderung hervorrief, die sie schon im tropfenden Enterhaken vernommen hatte. Wenn jemand ihr helfen konnte, dann musste er es sein. Hätte sie doch nur irgendetwas anzubieten gehabt, das für diese Menschen Gewicht haben konnte.
In ihrer zweiten Woche im Bienenstock machte sie Bekanntschaft mit Tante Evima und vielleicht war erst das der Anfang vom Ende. Evima war eine ältere Dame, zu der die Bienen gingen, wenn sie eine helfende Hand brauchten. Sie stand verzweifelten Bienen gerne mit Rat zur Seite und ganz selten händigte sie sogar Kekse oder kleine Gebäckstücke aus. Der einzige Nachteil war, dass sie weit im Westen wohnte und so die Irreninsel unangenehm nah war. Trotzdem entschied sich Leén dafür, die Dame aufzusuchen, denn allmählich schwanden ihre Kräfte. Die Harethi konnte guten Rat und regelmäßig etwas zu essen gebrauchen, ganz zu schweigen von einem Dach über dem Kopf. Außerdem sollte der Bienenstock eine Zwischenlösung bleiben, denn ihr Vater saß noch immer im Kerker und sie wollte gar nicht wissen, wie schlecht es ihm inzwischen ging.
Also hielt sie sich gen Westen, wo die Häuser noch kleiner und windschiefer wurden und sie die Leute lieber nicht zu genau ansah. Hier waren die Straßen schrecklich dreckig. Vor den Etablissements, die für die vergnügungssüchtigen Besucher gedacht waren, waren die Straßen einigermaßen sauber und wurden regelmäßig aufgeräumt. Im Vergleich zu den Straßen der Stadt waren auch die ärmlich, aber kein Vergleich zu diesem Drecksloch. Leén schluckte und sah sich unbehaglich um. Sie fühlte sich ständig beobachtet im Bienenstock, aber hier hatte sie das Gefühl, als stächen ihr fremde Blicke ein Loch in den Hinterkopf.
Zum Glück war das Haus, in dem Tante Evima lebte, gut zu erkennen, weil sich eine Gruppe Bienen davor versammelt hatte. Die Fenster waren mit bunten Stofffetzen in vielen Rot- und Gelbtönen verhängt und ein liebevoll verziertes Schild über der Tür verkündete in der verwirrenden Schrift der Cecilian, dass Tante Evima hier lebte. Seufzend kniete sich Leén zu den anderen Wartenden und musterte die Gestalten um sich herum, die am Boden kauerten, das Gesicht in den Armen vergraben hatten oder mit leeren Blicken ins Nichts starrten. Sie alle trugen ebenso dreckige Kleider wie Leén selbst und ihnen waren Leid und Verzweiflung ins Gesicht geschrieben. Einige litten zusätzlich unter eindeutigen Gebrechen. Ein alter Beinloser hockte auf einem Wagen und ein Mädchen, dass nur wenig älter sein konnte als Leén, war von Kopf bis Fuß von Brandnarben übersät. Auch Kinder waren dabei, mit ihren schmutzigen Fingerchen umklammerten sie abgenutzte Spielzeuge oder saßen ebenso schweigend wie die Erwachsenen. Es war ein trauriges Bild und nicht zum ersten Mal hatte Leén Mitleid mit den bedauernswerten Gestalten um sie herum, bis ihr auffiel, dass sie selbst eine von ihnen war. Ihr Kleid stockte inzwischen vor Dreck und war ohnehin völlig ungeeignet für ein Leben unter freiem Himmel. Die samtüberzogenen Schuhe waren längst abgeschabt und wenn sie sich nicht so geekelt hätte, barfuß zu laufen, hätte sie sie längst an eines der Kinder verschenkt oder wegeschmissen.
Schweigend wartete sie mit den anderen und beobachtete die Personen, die das Haus von Tante Evima wieder verließen. Anders als Leén erwartet hatte, kamen sie nicht freudestrahlend zurück. Nach den großartigen Erzählungen war sie überzeugt gewesen, dass die alte Dame Wunder wirken konnte, aber vielleicht war es schon ein Wunder, dass die Bienen wieder etwas aufrechter gingen oder überhaupt ein Ziel zu haben schienen, wenn sie sich von dem Haus entfernten. Als Leén dran war, überkam sie eine gewisse Aufregung. Sie war hergekommen, weil sie nicht wusste, was sie sonst mit sich anfangen sollte, aber jetzt kam es ihr vor wie eine gewichtige Entscheidung.
Das Haus war nur ein einziger Raum. Ein Herdfeuer prasselte in einer Ecke und ein alter Tisch mit einigen Stühlen stand mitten im Zimmer. Hinter dem Vorhang, der die Hälfte des Raumes abdeckte, mussten sich das Bett und der private Bereich der alten Dame befinden. Auf dem Tisch war ein mitgenommenes Teeservice platziert und auf einem der Stühle saß die alte Dame selbst. Ihre grauen Haare waren strähnig und ihre faltige Haut hatte einen kränklichen Ton im rötlich gelben Licht, das durch die Stoffe vor dem Fenster fiel. Sie sah auf, als Leén den Raum betrat und etwas schüchtern dastand. Trotz des einfachen Kleides, das an vielen Stellen geflickt war und der leicht gebückten Haltung hatte diese Dame eine respekteinflößende Ausstrahlung.
Ein freundliches Lächeln warf tiefe Falten auf dem Gesicht der Frau und Leén war erleichtert, dass sie wenigstens keine starken Vorurteile gegen Harethi hatte. »Setz dich doch, Kind«, bot die Dame ihr an und ihre Stimme klang viel kräftiger und melodischer als Leén erwartet hatte. »Tee?«, schlug Tante Evima vor und dankend nahm Leén an, während sie sich an den Tisch sinken ließ. Eine ausgefranste Tischdecke verdeckte das alte Holz und es war erstaunlich gemütlich. Der Tee war herrlich warm und beruhigte Leéns gespannte Nerven. »Leén Kappa?«, fragte Tante Evima sanft und musterte Leén einmal von Kopf bis Fuß. Tante Evima schmunzelte und tätschelte ihre Hand, als sie ihre Überraschung bemerkte. Leén fühlte sich, als hätte jemand einen Vorhang beiseite gerissen, hinter dem sie sich versteckt hatte. Sie konnte sich nicht entsinnen, ihren Namen im Bienenstock genannt zu haben. »Es bleibt nie lange ein Geheimnis, wenn sich ein neues Gesicht im Bienenstock niederlässt. Schon gar nicht, wenn es so ein ungewöhnliches ist, wie das deine.«
Leén musste aufpassen, dass sie den Mund wieder schloss und starrte die alte Frau vor sich an. Nur bei den Behörden hatte sie ihren Namen genannt, wenn sie weit genug gekommen war, um ihr Anliegen überhaupt vortragen zu können. Woher kannte diese Frau sie? »Man sagte mir, Ihr könntet helfen, Probleme zu lösen«, brachte Leén hervor.
»Und du möchtest nun wissen, wie du ohne deinen Vater hier überleben kannst.« Die Frau lächelte wissend, und Leén war erneut so perplex darüber, dass sie tatsächlich zu wissen schien, wer sie war, dass sie nicht widersprach. Dabei war die Schlussfolgerung der alten Dame nur ungefähr korrekt. »Nun, ich würde vorschlagen, dass du mal versuchen könntest, im In Jicos Armen eine Anstellung zu bekommen.«
Jetzt stand ihr endgültig der Mund offen. »Das ist ein Freudenhaus!«, brachte sie ungläubig hervor.
»Du brauchst dir keine Sorgen machen. Die entscheidenden Leute werden sich nicht daran stören, ob ein hübsches Mädchen aus Hareth ist ... eher im Gegenteil.« Erneut tätschelte Tante Evima ihre Hand und sah sie vielsagend an.
Da machte sie sich keine Sorgen. »Ich verhure mich doch nicht in einem dieser ...« Ihr fiel so schnell keine Bezeichnung ein, die ihre Abscheu für die Freudenhäuser getroffen hätte.
»Du wirst sehr schnell feststellen, dass man nichts Furchtbares von dir verlangen wird«, versprach Tante Evima. »Und die Umstände sind wesentlich besser als in anderen Etablissements.«
Leén schüttelte den Kopf. Allein bei dem Gedanken hätte sie sich übergeben können. Das kam nicht in Frage. Nicht in diesem Leben und hoffentlich auch in keinem späteren. »Nein!«, sagte sie bestimmt, dann holte sie tief Luft. »Außerdem will ich auch gar keine Vorschläge, wo ich arbeiten kann.« Sie atmete einmal durch. »Ich möchte Machairi finden und ihn überzeugen mir zu helfen.«
Tante Evima legte die Stirn in Falten und das Lächeln verschwand von ihrem Gesicht. Immerhin wurde sie nicht wütend wie der Schläger am Tor vor einigen Tagen. »Nur der schwarze Fürst kann die Schatten befehligen ...«
»Ich will nicht befehlen ... ich möchte nur ... bitten.« Sie sah auf ihre Tasse. »Ich weiß inzwischen, dass das unüblich ist, aber ich weiß nicht, wer mir sonst helfen kann.« Der dunkle Tee kam ihr vor wie ein tiefes Loch, in das sie hinabsah. »Ich weiß nur nicht, wie ich ihn finden soll.«
»Gar nicht, wenn er nicht gefunden werden will«, erwiderte die alte Frau trocken, doch die Sorge wich nicht. »Er wird auf
dich zukommen, wenn er will. Vielleicht kannst du in der Zwischenzeit versuchen, eine Anstellung als ...«
»Ich will mir hier kein Leben aufbauen. Ich will meinen Vater zurück«, stellte Leén noch einmal klar.
Tante Evima schüttelte traurig den Kopf. »Hör mir doch zu, Leén.«
»Er ist meine letzte Hoffnung«, beharrte sie. Diese Frau musste mehr wissen, als sie preisgegeben hatte. Sie hatte es im Gefühl.
Tante Evima hielt Leéns Blick. »Es gibt ein Zimmer für dich im In Jicos Armen, dort wirst du am wenigsten Aufsehen erregen. Du musst dich bedeckt halten.«
Leén schnaubte. Bedeckt halten im Freudenhaus. Fiel ihr die Ironie auf? »Es ist mir egal, ob ich Aufsehen errege!«
»Es ist gefährlich«, sagte Evima und musterte sie besorgt. »Mit der richtigen Tarnung, bist du vorerst sicherer. Im In Jicos ...«
»Ich werde nicht in einem Freudenhaus arbeiten!«, wiederholte Leén und unterbrach die alte Frau erneut.
»Sei doch vernünftig, Kind!« Sie sah sie eindringlich an und dann seufzte sie, als sich nichts an Leéns Entschlossenheit änderte. Auch Leén fühlte Resignation aufkommen. Sie hatte sich mehr von diesem Gespräch erhofft. »Ich habe es versucht«, seufzte Evima wie zu sich selbst, dann drehte sie den Kopf. »Gwydion, hör auf mein Bett in Flammen zu setzten und komm raus«, rief sie genervt nach hinten.
Zu Leéns Entsetzen bewegte sich der Vorhang und ein bekanntes Gesicht schob sich hindurch. Wie schon in der Nacht auf der Brücke sah er Leén freundlich an, als er durch den Vorhang trat. Spontan fand Leén, dass Gwyn sehr viel freundlicher klang als Gwydion. Die Bandage lag ihm lose in der Hand und er grinste, als er ihren Blick darauf bemerkte. »Jaja.« Hastig wickelte er sie wieder um die Hand. »Danke Evima.« Er stellte eine kleine Dose vor ihr auf den Tisch. Ein Dankeschön vielleicht? Oder gar eine Bezahlung? »Komm.« Auffordernd sah er Leén an.
Perplex sah sie zwischen Evima und der kleinen Torwache hin und her, bevor sie aufstand. Sie verstand nicht, was hier vorging und ob sie sich gerade eine Menge Ärger eingehandelt hatte oder einen Schritt weiterkam. Bevor sie genauer darüber nachdenken konnte, hatte Gwyn sie schon am Arm gepackt und zog sie hinter sich her nach draußen. Sie brachte keine Verabschiedung hervor und sah nur noch, wie Evima ihr mitleidig hinterher sah. Die Bienen, die vor dem Haus warteten, sahen etwas verwirrt aus, als zwei Personen das Gebäude verließen obwohl nur eine es betreten hatte, aber der Zhaki schien sich nicht weiter darum kümmern zu wollen. Er hielt nur weiter Leéns Arm fest und zog sie gen Westen. »Sieht nicht aus, als hättest du viel gelernt seit letztem Mal«, stellte er ohne jeden Unterton fest.
»Ich hab mein Versprechen gehalten«, schnappte sie trotzdem, weil sie sich angegriffen fühlte. Sein Griff war nicht zu fest, auch wenn es ihr unangenehm war, wie Vieh durch die Straßen gezerrt zu werden. Vermutlich hätte er sie unerbittlicher festgehalten, wenn sie sich gewehrt hätte.
»Heißt nicht, dass du dich schlau verhältst«, erinnerte er sie und grinste. Seine Augen blitzten grün. »Aber bei akutem Todeswunsch ...«
Leén spürte, wie ihr Magen einen unangenehmen Salto schlug und schnappte überrascht nach Luft. War das ein schlechter Witz gewesen? Sie stemmte die Füße in den Boden und versuchte, stehen zu bleiben, aber er zog sie weiter und sie stolperte unelegant hinter ihm her. Er war definitiv stärker als er aussah, obwohl er nur unmaßgeblich größer war als sie. Es war ihr, als zerre er sie absichtlich durch die dunkelsten und engsten Gassen, die er finden konnte. »Wohin gehen wir?«, fragte sie nach viel zu langem Schweigen. Für ihren Geschmack brachte er sie zu weit nach Westen. Irgendwo hier musste es zur Irreninsel gehen und schließlich war er es gewesen, der sie als Erster vor diesem Teil des Bienenstocks gewarnt hatte.
»Das musst du nach diesem Theater noch fragen?« Er grinste.
»Kannst du dann aufhören, mich hinter dir herzuzerren wie störrisches Vieh?«, zischte sie und fühlte sich schlecht ihn anzufahren, obwohl er eigentlich nett zu ihr war. Die Situation wurde stetig unheilvoller und sie begann ihren Wunsch zu überdenken.
»Ich kann dir auch die Arme auf den Rücken binden und dich vor mir herschieben, wenn dir das besser gefällt.« Jetzt war der fröhliche Unterton aus seiner Stimme verflogen, der zuvor darin mitgeschwungen war.
Wieder schnappte sie nach Luft. Es hatte sich nicht angefühlt wie eine Gefangennahme, aber es klang mehr und mehr danach. Sie versuchte, sich aus seinem Griff zu winden und suchte nach einer Möglichkeit, sich festzuhalten.
Der Zhaki ließ sie nicht los, blieb aber wenigstens stehen und sah sich zu ihr um. »Was soll das denn jetzt?«, seufzte Gwyn genervt. »Du wolltest doch unbedingt.«
»Ich wollte ganz sicher nicht entführt werden«, stieß sie hervor.
»Das ist keine Entführung. Wenn ich dich entführen sollte, hättest du jetzt einen Sack über‘m Kopf und ein Messer an der Kehle.« Er grinste wieder und das verwirrte sie. Meinte er das ernst?
»Was soll das ganze Spektakel denn dann?«, stieß sie hervor. »Warum warst du bei Tante Evima und wieso hast du so lange gewartet, bis du aufgetaucht bist? Und wohin gehen wir überhaupt?«
»Ich war nur die Rücksicherung, falls du das Versteck ablehnst.« Er seufzte und zog an ihrem Arm. »Können wir bitte weitergehen, bevor das hier noch unschön wird?«
»Was für ein Versteck?« Sie stemmte sich weiter gegen ihn, auch wenn sie kaum etwas hätte ausrichten können, wenn er gewaltsam versucht hätte, sie weiterzuzerren.
»In Jicos Armen?« Er seufzte. »Hast du die offensichtlichen Andeutungen wirklich nicht verstanden?« Immer wieder flog sein Blick an ihr vorbei auf die Querstraße und er trat von einem Fuß auf den anderen.
»Ich werde mich nicht verhuren und selbst wenn doch, was geht dich das an?«, stieß sie hervor, verwirrt von seiner Unruhe.
Gwyn stieß ein ungeduldiges Geräusch aus. »Können wir das unterwegs besprechen?«, fragte er und ohne eine Antwort abzuwarten, zog er sie weiter. »Du hast verdammtes Glück, weißt du das?«
»Gerade fühlt es sich eher an, als würde ich von einem Typ mit bandagierter Hand durch die dunkelsten Gassen gezerrt. Ihr habt nicht den besten Ruf!« Sie schnaubte und versuchte gleichzeitig, die Angst zu verbergen, die sich in ihr ausgebreitet hatte. Irgendetwas an seiner Rastlosigkeit machte sie gleich mit verrückt. Außerdem war ihr die Situation suspekt und der einzige Grund, dass sie sich nicht von ihm losriss und wegrannte, war, dass er immerhin einen kleinen Vertrauensvorschuss verdient hatte, nachdem er sie ins Viertel gelassen hatte.
Er schnaubte. »Was meinst du, warum dich bisher niemand ernsthaft angegriffen hat?«, fragte er und zog sie unerbittlich weiter, nicht ohne ständig über die Schulter zu schauen. Vielleicht hätte sie sich mehr gewehrt, wenn sie nicht in den letzten Tagen so viele Geschichten über die Handlanger der Schatten gehört hätte. Sie wollte lieber nicht herausfinden, ob der eigentlich freundliche Zhaki auch gewalttätig werden konnte, wenn er die Geduld vollends verlor.
»Weil bei mir nichts zu holen ist.« Das war doch offensichtlich. Sie besaß nicht mehr als das, was sie direkt am Leibe trug. »Wohin gehen wir nun?«, versuchte sie es nochmal und gab ihre Gegenwehr mehr und mehr auf.
Sein Grinsen verblasste. »Ich denke vielen Kerlen würde schon etwas einfallen, was bei dir zu holen ist.« Er zog sie um eine weitere Ecke, ohne auf weiteren Widerstand zu treffen. »Du brauchst über kurz oder lang ein ordentliches Versteck. Der einzige Grund, dass du noch nicht im Hafenbecken treibst, ist, dass sich die richtigen Leute um dich gekümmert haben.«
»Du?«, tippte sie scharfsinnig und fragte sich, ob er sie tatsächlich verteidigt hatte. Wenn dem so war, musste sie sich fragen, wieso. Sie kannten sich doch kaum und der Bienenstock war kein Ort der Fürsorge. Was kümmerte es ihn, wenn sie überfallen wurde?
»Unter anderem.« Er schmunzelte, warf einen letzten Blick über die Schulter und zog sie um noch eine Ecke. »Endlich!«, stieß er aus und schob sie auf ein Haus zu, auf dessen Tür ein großes schwarzes X prangte.
»Pest?«, quietschte sie und blieb wieder stehen. Dann doch lieber Überfall!
»Natürlich. Ich schubse dich jetzt da rein, bis du dich angesteckt hast.« Er verdrehte die Augen. »Komm.« Er öffnete ohne zu zögern die Tür und Leén hielt die Luft an und ließ sich ins Haus zerren. Ängstlich sah sie sich um, erwartete schon, jemanden in einer Ecke liegen zu sehen, die Haut schwarz gefleckt und schwach, aber da war nichts als ausgetretener Teppich und ein leerer Raum.
Gwydion trat die Tür zu und ließ endlich ihren Arm los. Leén rieb sich die Stelle, wo er sie gehalten hatte, und sah sich in dem leeren Haus um. »Was ist das hier? Nach einem sonderlich guten Versteck sieht es nicht aus.« Sie beobachtete, wie er den Teppich beiseite rollte und eine Falltür im Boden öffnete.
»Nach Euch, Mylady.« Er verneigte sich grinsend und deutete auf eine Treppe, die hinab ins Innere der Insel führte. Ein abgestandener Geruch schlug ihr entgegen und sie schluckte.
»Was ist da unten?», fragte sie skeptisch und sah auf die dunkle Treppe, die Ansprache ignorierend. Ihr war nicht nach Spaßen zumute, denn mit jeder Sekunde geriet sie mehr und mehr in Versuchung, die Flucht zu ergreifen, den Bienenstock hinter sich zu lassen und sich doch nach einer klügeren Alternative umzusehen – oder zumindest nach einer, die sie möglicherweise überleben konnte.
»Während du darüber philosophierst, geh einfach schon mal runter«, gab Gwydion nicht besonders hilfreich zurück. Die Harethi nahm an, dass sie ohnehin keine Wahl hatte, und machte sich vorsichtig an den Abstieg. Es ging eine ganze Weile nach unten. Auf den Stufen hatte sie Angst zu fallen, weil der feuchte Stein unter ihren Schühchen kaum Halt bot. Sie hörte Schritte hinter sich und als sie sich umsah, blickte sie in das flackernde Feuer einer Fackel. Von Gwydion selbst war nur das Gesicht zu sehen, das im Schein der Flammen von Schatten gezeichnet wurde. Sie sah wieder nach vorn, auch wenn dort nur das leichte Glänzen der Stufen zu erkennen war.
Als sie das Ende der Treppe erreichten, trat sie viel zu fest auf, weil sie eine weitere Stufe erwartet hatte, und blieb stehen. Es war stockduster. Dann erhellte sich das Gewölbe und Leén kniff geblendet die Augen zu. Ein langer Gang erstreckte sich vor ihnen, der sich bald teilte, und mehrere Türen unterbrachen die Wände. Sie waren schmucklos und dunkel und vielleicht sogar nass, so sehr wie sie an manchen Stellen glänzten. Neben jeder Tür erhellten auf einmal Fackeln den Gang. Die mussten sich spontan selbst entzündet haben! Ungläubig ging Leén auf die erste zu, aber es war tatsächlich eine ganz normale Fackel. Fasziniert sah sie sich zu Gwyn um. Jetzt erst, im helleren Licht, konnte sie sehen, dass er gar keine Fackel bei sich trug. »Du bist Evlogi!«, verstand sie überrascht und musterte den Feuerspucker mit anderen Augen.
Gwyn schmunzelte und ein paar Funken tanzten um seine Finger. »Behalt‘s für dich«, bat er und schob die Hände in die Taschen. »Bin offiziell nur ein Gaukler, aber ich schätze, dass wir genug Zeit miteinander verbringen werden, dass du es auch ruhig jetzt schon wissen kannst.« Kurz lächelte er ihr zu, dann ging er an ihr vorbei den Gang hinunter.
Sie fühlte sich geschmeichelt, befürchtete jedoch, dass sein Vertrauen sie in Sicherheit wiegen sollte. »Sagst du mir jetzt, was dies für ein Ort ist?« Sie hastete ihm nach, aus Angst, ohne ihn und seine Magie im Dunkeln zu stehen und legte ihre Fluchtgedanken vorerst bei.
Gwydion hielt sich eine Hand unter das Gesicht und ließ es von einer winzigen Flamme in Licht tauchen. »Die Unterwelt!«, behauptete er mit dramatisch verstellter Stimme.
Leén verkniff sich ein Lachen und rollte mit den Augen. »Ja, klar.« Erneut sah sie sich um. »Hausen hier die Schatten?«
Zögernd nickte er. »Manche ... manchmal.« Er führte sie den linken Gang weiter hinunter und blieb schließlich vor einer Tür stehen. Den weiteren Gang hatte er nicht erleuchtet und die Fackeln hinter ihnen erloschen, sodass nur noch eine einzige den Flur erhellte. Plötzlich war es unheimlich düster. Gwydion schien das nicht als bedrohlich zu empfinden und öffnete die eisenbeschlagene Tür.
»Es sieht aus wie eine Zelle.« Es sollte eine nüchterne Feststellung sein, aber sie konnte nicht verhindern, dass Unbehagen in ihrer Stimme mitschwang. Sie hätte auf mehr Informationen beharren sollen. Was tat sie hier?
»Ist es nicht«, versprach Gwyn in beruhigendem Tonfall und deutete ihr an, hineinzugehen.
Sie hätte es tatsächlich in Betracht gezogen, aber in diesem Moment erklang eine weitere Stimme, klar und kalt und so überwältigend melodisch, dass sie kaum menschlich sein konnte. Sie kam aus der Dunkelheit irgendwo vor ihnen und fuhr Leén durch Mark und Bein.
»Es ist eine Zelle. Es liegt an dir, ob ich sie abschließe.»
Gwyn wirkte zwar angespannt, doch er grinste noch immer. Leén dagegen wich ein paar Schritte zurück und starrte in die Schwärze des Ganges. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und die Härchen auf ihren Armen hatten sich aufgestellt. Bewegung kam in die Schatten am Rande des Fackelscheins. Eine Gestalt hob sich dort von der Dunkelheit ab, bewegte sich fließend und das erste, was Leén mit Sicherheit erkennen konnte, war der weiße Handschuh, der ihr endgültig heillose Panik durch die Knochen jagte. Wenn ein Schatten sie einsperrte ... weiter dachte sie nicht, bevor der Fluchtinstinkt siegte. Sie rannte in die Dunkelheit, den Gang wieder hinab. Sie sah den Weg nicht und hielt die Arme vor sich. Wo waren die Wände? Wo die Treppe? War sie bereits entkommen? Sie sah nicht zurück, hörte nicht, ob Schritte ihr folgten. Bloß weg! Sie hätte niemals mitkommen dürfen!
»Warte«, rief Gwydion und stöhnte genervt. Konnte es sein, dass ihr wirklich niemand folgte? Hatten sie jemanden positioniert, um sie aufzuhalten? Sollte sie versuchen, durch eine der Türen zu flüchten? Leéns Atem ging schnell und unregelmäßig, nicht nur von der Anstrengung. Die kalte Stimme klang noch immer in ihr nach und sie erschauderte, während sie viel zu langsam durch die Dunkelheit rannte. Einmal glaubte sie, neben sich die Wand zu spüren, und korrigierte ihren Kurs leicht nach links. Trotzdem stieß sie gegen etwas, aber es war wesentlich menschlicher als eine Wand. Mit einem panischen Quietschen stolperte sie einige Schritte zurück. Dann wich die Dunkelheit dem flackernden Licht der Fackeln. Ihr Blick blieb auf der Person vor ihr haften.
Unmöglich. Die Gestalt, gegen die sie in der Dunkelheit geprallt war, lehnte entspannt im Treppenaufgang und verstellte ihr den Weg nach oben. Er sah nicht aus, als habe er sich besonders angestrengt oder überhaupt in den letzten Minuten bewegt, obschon er durch die Dunkelheit an ihr vorbeigerannt sein musste. Ein Dämon, schoss es ihr durch den Kopf. Die weiß behandschuhte Hand hielt ein Messer und obwohl er es ihr nicht entgegenstreckte, sondern es entspannt durch die weißen Finger tanzen ließ, fühlte sie sich bedroht. Sie hatte davon gehört, was der Messerdämon mit so einer Klinge anfangen konnte und Leén erschauderte und wich noch einen Schritt zurück.
»Erst verbreitest du im ganzen Bienenstock, dass du mich unbedingt treffen möchtest, und dann läufst du vor mir weg«, stellte er fast beiläufig fest, doch da war etwas in seiner kalten Stimme, das ihr mit jedem Wort einen Schlag durch den Körper fahren ließ. »Sei vorsichtiger mit deinen Wünschen.« Erstmals wandte er den Blick von seinem Messer und richtete die Augen auf sie. Sie waren ebenso schwarz wie die perfekt geschnittenen Kleider und die Haare, die mit der Dunkelheit um ihn herum verschmolzen. Wahrhaftig ein Schatten. Leén wusste nicht, was sie sagen sollte, und selbst wenn sie es gewusst hätte, wären ihr die Worte ganz sicher im Hals stecken geblieben. Machairi strahlte eine bedrohliche Ruhe aus, die Leén die Luft aus den Lungen drückte.
Sie gab einen erstickten Schrei von sich, als etwas von hinten nach ihrem Arm griff. Die Panik in ihrer Brust bäumte sich auf, aber als sie herumwirbelte sah sie in Gwyns grüne Augen, die so viel beruhigender wirkten als das abgrundtiefe Schwarz der Augen des Dämons. Er schmunzelte und Leén stieß erleichtert Luft aus. Ihn fürchtete sie nicht – nicht, wenn hinter ihr ein Mann stand, der wirkte, als könne er sie mit einer einzigen Bewegung ins Jenseits befördern. Sie merkte erst jetzt, wie sehr sie zitterte. Gwyn hielt sie an beiden Schultern sanft fest, als wollte er verhindern, dass sie erneut die Flucht ergriff. »Hey, beruhig dich.« Er grinste. Anscheinend tat er selten etwas anderes.
Leén versuchte durchzuatmen, aber es wurde ein hektisches Hyperventilieren daraus, als sie sich zurückdrehte und ihr Blick erneut auf das Messer fiel, das dem Dämon über die Finger tanzte, als hätte es einen eigenen Willen. An seinem Gürtel unter dem schwarzen Mantel blitzten die Griffe zahlloser weiterer Klingen auf. Sie wimmerte und konnte die Augen nicht davon lassen.
Seufzend ließ Machairi das Messer mit einer beiläufigen Bewegung in den Ärmel gleiten und es war verschwunden. Obwohl Leén sich sicher war, dass er es in weniger als einem Wimpernschlag wieder in der Hand haben konnte, beruhigte sie das ungemein. Jetzt wagte sie es, ihre Aufmerksamkeit von seiner Hand zu lösen und als er einen Schritt weiter vor machte und im Lichtkegel der Fackel stehen blieb, konnte sie ihn eingehender betrachten. Er ist jung!, stellte sie überrascht fest. Irgendwie hatte sie an einen Mann um die dreißig gedacht, im Angesicht dessen, was er alles vollbracht haben musste. Tatsächlich war Machairi bestenfalls Mitte zwanzig und … niemand hatte ihr gesagt, dass er gut aussah. Mit den klaren Linien seiner Züge, die im flackernden Licht der Fackeln deutlich gezeichnet waren ... Er war nicht so breit wie die Schläger, die sie sonst im Dienst des schwarzen Fürsten gesehen hatte, sondern schlank und in jeder Bewegung, jeder Geste, jedem Augenblick elegant. Trotz seiner entspannten Haltung strahlte er unheimliche Überlegenheit aus und verfügte über geradezu königliches Charisma. Es dauerte einen Moment, bis sie bemerkte, dass sie ihn unverhohlen anstarrte.
Machairi musterte sie seinerseits genau, mit seinen tiefschwarzen Augen, die alles zu sehen schienen. Alles. Sie wurde sich ihres Aussehens bewusst: ein unordentlicher, verfilzter Zopf, ein fast schon zerlumptes Kleid, abgeschabte Schuhe und vor allem eine ganze Menge Dreck. Plötzlich schämte sie sich unheimlich und wich hastig und viel zu spät seinem Blick aus. Trotzdem sah sie, wie er Gwyn in einer knappen Geste zunickte, und ehe sie sich versah, führte der sie den Flur hinab. Noch immer hatte sie kein Wort gesagt und erst langsam fasste sie sich so weit wieder, dass überhaupt daran zu denken war. Ohne Gegenwehr ließ sie sich zurück zu der Zellentür bringen. Selbst wenn sie sich hätte losreißen können, hätte sie niemals gewagt, ein zweites Mal zu flüchten. Sie hörte keine Schritte hinter sich, aber sie hatte doch das Gefühl Machairis beängstigende Dunkelheit direkt im Nacken zu spüren.
Leén schluckte, ließ sich aber von Gwyn durch die Tür schieben und warf einen Blick durch den Raum, den die auflodernden Lampen in ein warmes Licht tauchten. Es sah eigentlich nicht aus wie eine grauenvolle Zelle. Es gab ein Bett und einen Tisch und einen kleinen Schrank, auf dem eine Waschschüssel stand. Karg eingerichtet war es allemal und ohne ein Fenster oder irgendeinen Schmuck an den Wänden wirkte es kühl, aber wie eine klassische Zelle sah es trotzdem nicht aus. Gwyn drückte sie zum Tisch und trat dann neben die Tür. Leén verstand die Aufforderung und ließ sich daran nieder. Nervös sah sie auf. Er lehnte im Türrahmen und plötzlich verspürte sie den irrwitzigen Wunsch nach einer Waffe. Als hätte sie dem Messerdämon irgendetwas entgegenzusetzten ...
Schweigen. Wortlos sah er Gwyn an und der Blick reichte aus, um den Zhaki aus dem Raum zu scheuchen. Dann wandte er sich wieder Leén zu und die hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, sich unter dem Tisch zu verstecken. Sie ärgerte sich trotzdem, dass sie vor ihm davongelaufen war. Es war ein dummer Reflex gewesen und jetzt kam sie sich noch lächerlicher und unsicherer vor, als sie erwartet hatte. Abwartend sah er sie an und sie frage sich, was er hören wollte. Sie schluckte. Warum hatte sie sich nie eine echte Taktik überlegt, wie sie ihn überzeugen sollte? Sollte sie ihm einfach von ihrem Vater erzählen und auf Mitleid hoffen?
»Du sprichst Hack«, durchbrach seine unmenschlich schöne Stimme das Schweigen schließlich. Wieder durchfuhr der Klang sie und sie setzte sich automatisch gerader hin.
»Ich spreche auch Cizethi«, versuchte sie möglichst gefasst und möglichst akzentfrei herauszubringen und dabei nicht zu verschreckt auszusehen. Er flößte ihr Respekt ein … und Angst. Sie tat ihr Bestes, es zu verbergen.
»Ich brauche jemanden, der Hack spricht.« Mit fließenden Bewegungen stieß er sich vom Türrahmen ab und kam auf den Tisch zu. Sie spürte die Anspannung in sich wachsen.
»Wofür?«, wagte sie trotzdem zu fragen und versuchte, ihn nicht allzu sehr anzustarren.
Einen Moment schwieg er. Er sah sie forschend an, als suche er nach etwas in ihrem Gesicht. Dabei fiel ihr auf, dass auch seine linke Hand in einem Handschuh saß. Hatte der Wirt nicht gesagt, dass die Schatten keine zwei Handschuhe tragen durften? Auf der anderen Seite hatte er vielleicht weiße Handschuhe gemeint. Dieser Zweite war schwarz. Er folgte ihrem Blick auf seine Hände und seine Mundwinkel zuckten. »Unerheblich«, antwortete er knapp auf ihre Frage und beobachtete sie weiter.
Unerheblich hätte sie es nicht genannt, aber Leén sah eine Chance. Immerhin wollte er etwas von ihr. Damit konnte sie eine Gegenleistung fordern. »Na gut, ich spiele die Übersetzerin, wenn ...«
Er schnitt ihr mit einer raschen Geste das Wort ab. »Es gibt eine Liste von Leuten, die ich aus diesen Kerkern holen soll und dein Vater steht nicht zuoberst.«
Sie wunderte sich nicht einmal, dass er wusste, was sie hatte sagen wollen. »Kannst du es?«, fragte sie, möglichst seine Kälte imitierend. Es gelang nicht, weil er sie mit jedem Moment weiter einschüchterte, aber sie wollte sich einreden, dass für einen Wimpernschlag Spuren eines überraschten Glimmens über die gleichmäßigen Züge zuckten, als sie ihm herausfordernd begegnete. Machairi hob eine Augenbraue und ein Hauch von Spott mischte sich in seinen sachlichen Ausdruck. »Dann spiele ich auch nicht den Übersetzer, bevor du ihn befreist, egal wie lange du mich hier einsperrst.« Trotzig schob sie das Kinn vor, während sie versuchte, sich für die respektlose Ansprache nicht schlecht zu fühlen und sah ihm nun doch in die Augen. Der abgrundtiefen Schwärze war sie nicht gewachsen und als er ihren Blick hielt, musste sie den Kopf abwenden. Wut machte sich in ihr breit. Wut auf sich selbst. Warum war dieser Kerl so furchtbar einschüchternd? Er hatte schließlich nichts tatsächlich Bedrohliches getan. Warum fühlte sie sich so unsicher, wenn er nur dastand und sie sachlich musterte? »Solange mein Vater in diesem Kerker bleiben muss, übersetzte ich kein Wort für dich!«, wiederholte sie um mehr Nachdruck bemüht, auch wenn ihr für einen kurzen Augenblick die Gedanken an die Geschichten, die sie über ihn gehört hatte, durch den Kopf rasten.
»Wenn du ablehnst, werde ich dich zurück in die Straßen schicken.« Noch immer war er vollkommen neutral, als hätte ihn ihre Unterhaltung nicht weniger kümmern können. »Ich gebe dir keinen Tag, ohne meinen Schutz.«
Schutz? Sie dachte zurück an Gwyns Worte und schluckte. Konnte es tatsächlich sein, dass sie deshalb bisher über die Runden gekommen war, weil jemand sie beschützt hatte? Unwillkürlich kauerte sie sich zusammen, bevor sie sich zwang, sich zusammenzureißen und die Schultern straffte. So hilflos war sie sich gar nicht vorgekommen und andere lebten doch auch allein auf den Straßen – warum sollte ausgerechnet sie für irgendjemanden von Interesse sein? Dann stieß sie jedoch auf einen anderen Gedanken. »Heißt das, du würdest mich hier einsperren, wenn ich Ja sagen würde?!«, stieß sie ungläubig hervor. Was für eine Übereinkunft hätte das denn bedeutet? »Warum?«
»Du kannst gehen. Ich bin sicher, dass du bereits erwartet wirst.« Er zupfte den weißen Handschuh zurecht und warf ihr einen Blick zu, der sie zurückzucken ließ.
»Von wem denn?« Sie hatte herausfordernd klingen, ihre Skepsis ausdrücken wollen. Stattdessen klang ihre Stimme lächerlich eingeschüchtert und kraftlos im Vergleich zu seiner perfekten Melodie. Leén sah mit wachsendem Unbehagen, dass er die Augen beinahe unmerklich verengte, sie forschend ansah und ansonsten schwieg. Glaubte er etwa, sie müsste die Antwort darauf kennen? Das tat sie nicht.
»Gut, was verlangst du von mir?«, wollte sie wissen, während sie überlegte, was wohl der schlauste Schachzug war. Sein Schutz konnte nicht schaden, wenn er denn tatsächlich existierte. Er hatte keinen Grund, ihr etwas vorzuspielen, außer vielleicht, dass er einen Übersetzer zu brauchen schien. Aber auch wenn Harethi eine Rarität in Cecilia zu sein schienen, hieß das nicht, dass sie unersetzlich war. Außerdem konnte es viel Gutes mit sich bringen, sich mit dem Messerdämon gut zu stellen. Sie hatte es noch nicht aufgegeben, ihn zu überzeugen.
»Wenn du kein Wort übersetzt, brauche ich einen anderen Übersetzer«, stellte er in ihren Worten fest und musterte sie eisig. Damit wandte er sich zum Gehen. »Gwyn wird dich nach oben bringen.«
»Warte!«, stieß sie hervor und sprang auf die Beine. Leén wusste, dass er sie manipulierte, dass er die Fäden in der Hand hielt und sie tat was er wollte, aber was hatte sie denn für eine Alternative? Selbst wenn er gelogen hatte und in der Stadt keine direkte Gefahr auf sie wartete, kam sie ohne ihn nicht weiter. »Ich mach›s!« Eilig machte sie ihm einen Schritt hinterher. »Solange es meinen Vater nicht das Leben kostet, bin ich dabei.« Sie reckte das Kinn und machte sich gerade. Hätte sie doch nur länger Zeit gehabt, um darüber nachzudenken. Sie musste mehr Vorsicht walten lassen.
Machairi hielt in der Tür inne. Die schwarz behandschuhte Hand ruhte auf dem Türknauf und sie fragte sich, ob er wohl lächelte oder die Tür mit seinem bohrenden Blick bedachte ... oder beides. »Was soll ich mit einer Übersetzerin, die nicht zu ihren Worten steht?« Wieder jagte seine Stimme einen Schauer über ihren Rücken.
Hilflos klappte Leén den Mund auf und wieder zu. Was sollte sie darauf erwidern? Nervös starrte sie seinen schwarzen Mantel an und suchte nach einer guten Antwort. »Da wusste ich noch nicht, dass ich dir bereits etwas schulde.« Etwas Besseres fiel ihr so schnell nicht ein. Nervös nestelten ihre Finger an ihrem Zopf, während sie auf eine Reaktion von ihm bangte. »Was muss ich tun?«
Langsam drehte er sich zurück. Es war der bohrende Blick und sie musste aufpassen, dass ihr Selbstbewusstsein nicht augenblicklich zu Staub zerfiel. Einen kurzen Moment lang hielt sie seinen Blick, auch wenn es ihr schwerfiel und ein dummer Teil ihres Selbst sich in einer Ecke vergraben wollte, um ihm keinesfalls in die Quere zu kommen. »Du hast eine Anstellung im In Jicos Armen, Rish.«
Ärger wallte in ihr auf, durchsetzt von einer Spur von Angst, als sie an das Etablissement dachte. »Mein Name ist Leén und das klingt nicht nach Übersetzungsarbeiten. Ich will nicht mit irgendwelchen Fremden schlafen.« Hätte sie sich in einer besseren Verhandlungsposition befunden, hätte sie vehementer widersprochen. So wurde ihr nur unangenehm vor Augen geführt, dass er die volle Kontrolle hatte.
»Die Gruppe braucht einen weniger auffälligen Namen für dich«, bemerkte er kühl. »Und ich habe von einer Anstellung gesprochen. Nicht, dass du dort arbeiten sollst.« Hätte sie ahnen müssen, dass er da einen Unterschied sah?
Sie hasste seinen belehrenden Tonfall. Er sorgte dafür, dass sie sich dumm fühlte, wie ein kleines Kind und sie wollte sich dagegen wehren. »Und wie nennen sie dich dann? Oder versteckst du dich immer hinter einem auffälligen Pseudonym?«
Leén fuhr heftig unter der Härte zusammen, die plötzlich seine Züge verzog. Jetzt war ihr größter Wunsch plötzlich, ihn anzuflehen, ihr ihre Unverschämtheit nicht nachzutragen. Es war lächerlich und erniedrigend, aber diesem Blick hielt sie keine Sekunde stand. Beschämt senkte sie den Kopf und dachte plötzlich wieder an das Messer, das in seinem Ärmel verschwunden war. Was, wenn er es jetzt an ihr benutzte und sich einen anderen Übersetzer besorgte? Sie wagte kaum zu atmen, doch er wandte ihr den Rücken zu und ging. Sie verlor ihre Spannung und ließ sich auf den Stuhl zurücksinken. Was tat sie hier bloß? Ihr Herzschlag hatte sich kaum etwas beruhigt, da bewegte sich die Tür, und ihr Puls schoss wieder in die Höhe. Sie hatte keine Zeit mehr, um sich zu fragen, weshalb er zurückkam, aber es war ohnehin nur Gwyn, der grinsend den Kopf durch die Tür schob. »Du möchtest dich waschen ... Rish«, klärte er sie auf und sein Grinsen wurde noch etwas breiter, als er vielsagend eine Augenbraue hob und ihr verschwörerisch zuzwinkerte.
Langsam wagte sie es, sich zu entspannen. Obwohl er sie durch den ganzen Bienenstock hierhergeführt hatte, vertraute sie ihm. Zumindest wesentlich mehr als irgendjemandem, dem sie sonst in dieser Stadt begegnet war. Um sich selbst zu beruhigen, atmete sie einmal durch, spürte, wie die kühle Luft ihre Lungen füllte, und zwang sich zur Ruhe. Dann nickte sie möglichst gefasst und stand auf. Sie hatte zugestimmt. Vorerst würde sie sich wohl oder übel in das fügen, was der Messerdämon vorschrieb. Wenn sie ehrlich war, hatte sie außerdem nichts dagegen einzuwenden, den Dreck loszuwerden, den ihre Tage im Bienenstock an ihr hinterlassen hatten. Also gab sie sich einen Ruck und stand auf. »Dann möchte ich das wohl.«
Gwyn nickte und öffnete die Tür ein Stück weiter. »Gut, dann komm.« Kurz musterte er sie, als sie auf ihn zuging. »Du hast dich also darauf eingelassen.« Es war eine Feststellung. Es war undenkbar, dass sie sich dem Willen des Messerdämons nicht gefügt hatte.
»Ja, es klang nicht, als hätte ich eine Alternative.« Sie schnaubte und trat an ihm vorbei aus der Tür. »Ich kenne mich hier nicht aus, habe kein Geld mehr und kämpfen kann ich auch nicht ... Hat er mich wirklich beschützt?«
Gwyn drehte ihr den Rücken zu und schloss die Tür hinter ihnen, bevor er sie wieder den Gang entlangführte. Sein Gesicht lag wie zufällig im Schatten, sodass sie seinen Ausdruck nicht sehen konnte. »Ja, das hat er wohl«, antwortete er schließlich und klang dabei viel ernster, als sie es sonst von ihm erlebt hatte. »Aber niemand versteht wieso.«
Sie hob die Augenbrauen und folgte ihm durch den dunklen Flur. Ihre Schritte hallten von den nackten Wänden wider und erneut flackerten die Fackeln an den Wänden auf, wenn sie an ihnen vorbei gingen. Gespenstige Stille lag über den Gängen, durch die Gwyn sie führte, und ein weiterer Schauer überlief sie. »Ich verstehe nicht, weshalb überhaupt jemand Interesse an mir haben soll.« Sie sah Gwydion schräg von der Seite an, und versuchte, eine Antwort bei ihm zu finden. Auf diese, und auch auf die hundert anderen Fragen, die sich in ihrem Kopf sammelten. »Mein Vater ist verhaftet worden, als wir kaum ein paar Minuten im Hafen lagen. Er hat nur mit ein paar Männern im Hafen gesprochen und dann waren da plötzlich Soldaten. Ich weiß nicht einmal wieso. Es verbindet uns nichts mit dieser Stadt oder den Menschen.« Sie spürte die Traurigkeit wieder hochkommen, die sie befiel, wann immer sie an ihren Vater dachte. Schon viel zu lange war er in diesem Kerker und wer wusste, ob ihm nicht die Zeit davonlief.
»Bist du dir da ganz sicher?« Jetzt sah Gwyn sie seinerseits von der Seite an. »Offenbar ist die verbreitetste Meinung, dass du wertvolle Informationen hast.« Mit forschendem Blick schien er zu versuchen, die Wahrheit direkt von ihrer Stirn abzulesen.
Leén versuchte sich zu erinnern, ob sie vielleicht etwas von zuhause kannte, was für einen Cecilian von Bedeutung sein konnte. Ihr Vater hatte ihr immer viele Geschichten erzählt, als sie noch zu Hause gelebt hatten und als ihre Mutter noch nicht krank gewesen war. Sie hatten viel Zeit damit verbracht, das Meer zu betrachten, und waren stundenlang an der Küste entlanggewandert. Nichts von dem, was er ihr beigebracht oder erzählt hatte, schien wichtig genug, um irgendwas von all dem hier zu rechtfertigen. Außerdem fragte sie sich, warum man noch irgendein Interesse an ihr hatte, wenn doch ihr Vater schon in Gewahrsam genommen worden war. Und warum hatte man sie dann nicht gleich mitverhaftet? Egal wie sie es auch drehte und wendete, nichts ergab Sinn und sie seufzte frustriert auf. Wie hatte sie nur in diese Misere geraten können? »Ich weiß nichts«, sagte sie so genervt, wie sie sich fühlte. »Irgendjemand hat einen gewaltigen Fehler gemacht.«
Gwyn schmunzelte und wandte den Blick wieder nach vorne, führte sie um eine Ecke und brachte sie sicher weiter durch dieses schiere Labyrinth. »Das werden viele Leute nicht gerne hören und noch viel mehr werden es nicht glauben.« Er wirkte amüsiert darüber, auch wenn sie glaubte, Sorge in seiner Stimme mitschwingen zu hören. Es schmeichelte ihr und verwirrte sie gleichermaßen. Warum sollte er sich Sorgen um sie machen? »Aber immerhin hast du ja den besten Verbündeten für deine Situation.«
»Den besten?«, fragte sie. Sie dachte an die plötzliche Kälte, die Unnahbarkeit und die nicht abzustreitende Arroganz des Mannes, der nicht unbedingt für seine Sanftmut bekannt war. Außerdem verstand sie die Anstellung und den Namen nicht, die er ihr zugewiesen hatte und darüber fiel ihr die Frage wieder ein, auf die sie ganz dringend eine Antwort haben wollte. »Wie nennst du ihn eigentlich?«
Gwyn zögerte kurz. »Reed.«
»Reed?« Sie hob die Augenbrauen. »Ist irgendetwas schlecht daran? Warum hat er ein Problem damit, mir einfach seinen Namen zu sagen?«
»Weil es nicht sein Name ist, schätze ich.«
Leén war verwirrt. »Was ist dann sein Name?« Warum nannten ihn seine Freunde oder Kollegen oder Handlanger oder was auch immer sie waren nicht bei seinem Namen?
Gwyn zuckte mit den Schultern und grinste. »Keine Ahnung?« Das alte Amüsement war zurück und er blieb vor einer Tür stehen. »Wir sind da. Ich schätze, du wünschst dir keine Gesellschaft?« Es war ein Spaß, ohne Zweifel.
Vielleicht hätte sie das sogar lustig gefunden, aber sie hörte ihm kaum zu. »Du weißt nicht, wie er wirklich heißt? Woher weißt du denn, dass er nicht wirklich Reed heißt?«
»Weil Reed meine Kreation ist. Wir hatten auch schon viele andere Namen für ihn mit und ohne Bedeutung.« Er lehnte sich an die Wand neben der Tür, vor der er stehen geblieben war, während sie ihn ungläubig ansah. Sie konnte nicht begreifen, dass er es tatsächlich nicht wusste und als ganz normal wahrzunehmen schien. »Soweit ich weiß, liegen neue Kleider für dich bereit.« Er grinste ihr zu und sah sie abwartend an.
Leén schüttelte den Kopf in dem verzweifelten Versuch, zu verstehen, was er ihr zu sagen versuchte. »Ihr denkt euch einfach Namen für ihn aus, weil er euch nicht sagen will, wie er wirklich heißt?«, stieß sie ungläubig hervor. »Und ihr findet das normal?«
Gwyn zuckte nur mit den Schultern. »Ich sehe nicht, was die Information über einen Vornamen besser oder schlechter machen würde.«
»Er vertraut dir nicht einmal genug, um dir seinen Namen zu verraten und du bist trotzdem zufrieden damit?« Sie konnte nicht begreifen, wie normal er das zu finden schien. Ihr dagegen wurde der berüchtigte Mann nur noch unheimlicher. Was verbarg er alles vor seinen Leuten, wenn er ihnen nicht einmal seinen Namen nennen konnte? Außerdem beschlich sie dabei unweigerlich das Gefühl, dass er etwas Großes plante … und dass es nichts Gutes war.
»Er vertraut mir genug, um mir Aufgaben zu geben, die erledigt werden müssen. Ich denke, dass das mehr wert ist.« Gwyn schien unbeeindruckt und rieb die Finger etwas aneinander, dass die Funken stoben. »Du solltest dich vielleicht wenigstens ein bisschen beeilen«, riet er ihr dann, und führte das Gespräch damit erneut weg vom Thema. Dieses Mal gab Leén nach.
In der Kammer war es angenehm warm. Anders als im Rest des unterirdischen Tunnelsystems verfügte dieser Raum über ein Heizsystem. Das Wasser in dem übergroßen Holzzuber dampfte verheißungsvoll. Auf einer Bank an der Tür entdeckte sie außerdem tatsächlich ein Bündel Kleider, das bereitlag. Zu ihrer großen Erleichterung war sie allein und niemand konnte sie in Verlegenheit bringen oder sie gar beobachten. Sie hatte kaltes Wasser erwartet, vielleicht nur eine Schale, um sich notdürftig zu waschen. Das hier war ein richtiges Badezimmer und ein Luxus, der nicht in dieses Viertel passen wollte. Vorfreude machte sich in ihr breit, als sie sich aus den Resten ihrer Kleider schälte. Auch wenn sie ein Stück Zuhause waren, war sie froh, sie los zu sein.
Vorsichtig kletterte sie die kleine Stiege hinauf, die den Einstieg in das warme Wasser erleichtern sollte. Das Holz war glatt und eben und ungefährlich für nackte Füße. Leén tauchte zunächst nur vorsichtig eine Hand ins Wasser, um die Temperatur zu prüfen, bevor sie sich zufrieden seufzend hineingleiten ließ. Es war angenehm warm und trotz oder gerade wegen des fahlen Lampenlichts, das den Raum nur in einen sehr dürftigen Schein tauchte, war es richtig gemütlich hier. Sie fand sogar ein Stück Seife auf einer Ablage und hatte das erste Mal seit Langem die Möglichkeit, sich ausführlich zu waschen. Ihre langen Haare umspielten ihren Körper und lagen ihr nass über den Schultern, während die Längen schwerelos im Wasser zu schweben schienen. Viel zu lange hielt sie sich auf, tauchte immer wieder unter und genoss die Wärme und den Frieden in dem Waschzuber, bis ihr irgendwann einfiel, dass Gwyn vor der Tür wartete und sie nicht ewig hier bleiben konnte. Bei dem Gedanken wollte sie sich einmal mehr im Wasser verstecken. Die friedliche Wärme hatte den Gedanken an die Zukunft und ihre Aufgabe und auch an den Dämon selbst vorläufig aus ihren Gedanken verbannt. Jetzt brach die volle Tragweite ihrer Situation wieder über sie hinein und erfüllte ihr Herz mit Angst. Leén erschauderte trotz des warmen Wassers und hoffte inständig, dass wenigstens der Schutz des Messerdämons ihr helfen würde. Seine unnatürliche Makellosigkeit und die endlosen schwarzen Augen gingen ihr nicht aus dem Kopf. Sie verfolgten sie, jagten sie heim.
Immer wieder sah sie sich um, vor allem, als sie das Wasser verließ, nur von ihren langen Haaren bedeckt, und erwartete fast, ihn in irgendeiner Ecke stehen zu sehen. Lautlos wie zuvor mit dieser kalten Neutralität, unter der sie sich dumm und klein fühlte. Zu hastig hielt sie auf die sauberen Kleider zu und rutschte fast auf dem Wasser aus, das von ihrem Körper auf den glatten Stein tropfte. Plötzlich war ihr kalt und die Stille, die sie zuvor als angenehm empfunden hatte, wog viel schwerer. Es war albern, aber seit sie an ihn gedacht hatte, fühlte sie sich schrecklich beobachtet und konnte gar nicht schnell genug in die neuen Stoffbahnen schlüpfen.
Wenig später hatte sie sich erfolgreich in die gepolsterte Hose gearbeitet, die auf ihrer noch feuchten Haut stoppte, und die Bluse übergezogen, die erstaunlich gut passte. Überrascht hatte sie die rostrote geschnürte Weste, die dabei gelegen hatte. Sie passte nicht nur wie angegossen, sondern war auch viel angenehmer zu tragen, als sie erwartet hätte. Ranken schmückten den Stoff und bis auf die Hose kam sie sich beinahe attraktiv vor. So würde man ihr die Rolle eines Freudenmädchens vielleicht eher abkaufen als einer in dreckige Lumpen gehüllten Straßenbiene, auch wenn die Kleider nicht zu aufreizend waren. Zuletzt zwang sie ihre dunkelbraunen Haare zurück in den geflochtenen Zopf, auch wenn sie noch nass waren und so nicht gut trocknen würden. Gerade als sie nach ihren alten Kleidern griff, fiel ihr Blick auf eine Tasche, die ihr vertraut war und die unter der Bank auf sie wartete. Sie schnaubte, halb ärgerlich, halb erleichtert. Wollte sie wissen, wie der Schatten und seine Häscher an ihre Tasche gekommen waren?
Seufzend straffte sie die Schultern, bereit für einen weiteren Marsch durch die düsteren Tunnel. Sie überlegte, was sie Gwyn noch alles fragen konnte, was sie noch wissen musste und was er ihr überhaupt sagen konnte, während sie die Tür öffnete und hinaustrat. Die Person, die an die Wand gelehnt auf sie wartete, war nicht Gwyn. Leén hielt abrupt inne und spürte schon wieder Panik in sich aufsteigen. Nur noch eine einzige Fackel spendete Licht und das reichte kaum, um auszumachen, dass die andere Person an der gegenüberliegenden Wand ebenfalls männlich war. Sie glaubte, blonde Haarsträhnen zu erkennen, aber sonst verschwand die Gestalt in der Dunkelheit. Immerhin nicht der Anführer persönlich, dachte sie. »Wo ist Gwyn?«, fragte sie, all ihren Mut zusammenklaubend. Was, wenn der Fremde einer derer war, die angeblich nach ihr suchten? Was, wenn er Gwyn aus dem Weg geräumt hatte und sie nun mitnehmen würde? Selbst mit seiner offensichtlichen Begabung für Feuer wusste sie nicht, ob und wie gut Gwyn kämpfen konnte. Wer konnte ausschließen, dass er ein paar Meter weiter außerhalb des Fackelscheins am Boden lag, tot oder schwer verletzt?
Bewegung kam in die Gestalt und eine Stimme ertönte, die unheimlich genervt klang. »Der hat Besseres zu tun, als den Babysitter zu spielen, Hatschi.« Der Mann, der in den Kreis des Fackellichts trat, war etwa in ihrem Alter, vielleicht auch etwas älter. Im Grunde verkörperte er das typische Erscheinungsbild für einen Cecilian: Groß gewachsen, helle Haut, blonde Haare. Blaue Augen stachen ihr entgegen und eine kleine Narbe zog sich über seinen linken Wangenknochen. Sie war froh, dass er wenigstens nicht so breit war, wie der Cecilian am Tor, der sie beinahe in die Stadt zurückgejagt hätte. Wesentlich freundlicher wirkte er allerdings nicht. Ein fast abschätziger Ausdruck lag auf seinen Zügen, während er sie seinerseits einen Moment musterte, wobei sie unheimlich dankbar war, dass sie wenigstens wieder einigermaßen ordentlich aussah. Seine Abfälligkeit entging ihr nicht, aber sie störte sie kaum. Er war nicht der Erste, der ihr hier so begegnete. Immerhin wurde sie sich mit jeder Sekunde, die verstrich, sicherer, dass er nur Gwyns Wache übernommen hatte und sie nicht angreifen würde. »Du siehst nicht aus, als wärst du den ganzen Trubel wert, der um dich entstanden ist«, stellte er fest und blickte mit leicht gerümpfter Nase zu ihr hinab.
»Ich habe nicht darum gebeten«, gab sie mindestens genauso unfreundlich zurück. »Wer bist du überhaupt?«
»Ich habe auch bestimmt nicht darum gebeten, auf eine kleine Hatschi aufzupassen!« Er schnaubte und drehte sich zum Gehen. »Also bringen wir es hinter uns.«
»Was habt ihr alle für ein Problem mit euren Namen?«, murmelte sie, während sie ihm widerwillig folgte. Am liebsten wäre sie dort vor dem Bad stehen geblieben oder allein gegangen, aber sie war sich nicht sicher, ob sie ihre Zelle oder gar den Ausgang überhaupt wiederfinden würde. Außerdem hatte er die Fackel mitgenommen – die sich ohne Gwyn wohl nicht netterweise selbst substituieren würde – und wenn sie ganz ehrlich war, verließ sie sich darauf, im Zweifel jemanden dabeizuhaben, der ihr helfen konnte.
»Vielleicht hab ich kein Problem mit meinem Namen, sondern ein Problem mit dir?«, schlug er vor, während er forschen Schrittes voranging und ihr so wenig Beachtung schenkte, wie er konnte.
»Du kennst mich doch nicht einmal!« Sie schüttelte den Kopf. »Wie voreingenommen kann man denn sein?« Sie konnte nichts dafür, dass sie aus einem anderen Land kam und auch nicht, dass dieses Land ständig Krieg mit Cecilia führte. »Wenn du mich nicht leiden kannst ... kann dann bitte wieder Gwyn auf mich aufpassen, wenn schon jemand dafür nötig ist?«
Er erreichte die Tür zu dem Zimmer, das der Dämon ihr zugewiesen hatte im Eilschritt und blieb daneben stehen. »Der wird anderweitig gebraucht«, knurrte er und stieß die Tür auf.
»Wofür?«, wollte sie wissen. Ob es etwas mit ihrer kommenden Aufgabe zu tun hatte?
»Hör auf zu nerven und geh rein«, knurrte der Junge ohne Namen und deutete mit einer auslandenden Geste auf die Tür, bei der die weiten Ärmel seines Gewandes eindrucksvoll schwankten.
Sie gab sich große Mühe, sich nicht einschüchtern zu lassen und hätte die Arme verschränkt, hätte sie nicht ihre alten Kleider im Arm tragen müssen. »Erst will ich wissen, worum es hier überhaupt geht und was ich dir getan habe«, gab sie zurück, ungewöhnlich bissig. Leén war keine streitbare Person und es fiel ihr schwer, sich zu behaupten, aber sie würde sich diesem unverschämten Kerl nicht kampflos unterordnen.
Er verdrehte die Augen so weit, dass nur noch weiß zu sehen war. »Ihr Hatschi seid wirklich von Natur aus anstrengend, oder? Niemand hat gesagt, dass ich mit dir reden oder dir dein Leben erklären muss, Rish.« Er legte eine theatralische Betonung auf den Namen. »Also geh jetzt da rein und lass mich in Ruhe, bevor ich dafür sorge!«
Sein Rassismus machte sie wütend, aber weil sie ungern herausfinden wollte, wie genau er dafür sorgen würde und aus ihm ohnehin kein vernünftiges Wort herauszubekommen war, gab sie lieber auf. Mit einem vernehmlichen Seufzer zog sie sich in das Zimmer zurück. Er knallte zur Antwort nur die Tür hinter ihr zu. Immerhin hatte sie jetzt vielleicht etwas Zeit, Ordnung in das Chaos ihrer Gedanken zu bringen.