Читать книгу Pyria - Elin Bedelis - Страница 7
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Leén vermisste Gwydion. Der Mann, der jetzt vor ihrer Tür stand, war ihr unangenehm und sie brauchte nicht zu versuchen, ihm mehr Antworten zu entlocken. Dabei musste sie unbedingt wissen, ob ihre Aufgabe wirklich nur das Übersetzen im Falle von Sprachproblemen war. Jemand in dieser Stadt schien das Gerücht gestreut zu haben, dass sie etwas wusste, was alle wissen wollten und der Dämon war ihr nicht wie jemand vorgekommen, der so ein Rätsel ignorieren würde. Vielleicht wollte er sie nur hinhalten, sie in Sicherheit wiegen, um ihr dann doch auf irgendeine perfide Art und Weise die Antwort zu entlocken – die sie ihm nicht geben konnte. Egal, wie lange sie nachdachte, sogar versuchte, sich an die Geschichten zu erinnern, die ihr Vater ihr mal erzählt hatte, ihr kam nicht in den Sinn, worum es hier gehen konnte. Es schien, als habe jemand einen Fehler gemacht und sie war nicht bereit, das auszubaden.
Dann hatte sie begonnen, sich zu fragen, wie sie das möglichst überzeugend erklären konnte, ohne vorher von einem der legendären Messer in kleine Stücke gehackt zu werden. Sie hatte den Anflug einer Vorstellung davon bekommen, wie er damit umgehen konnte, als die Klinge über seinen Handschuh getänzelt war und sie war nicht darauf aus, ihn in Aktion zu erleben – zumindest redete sie sich das ein. In Wahrheit war sie noch immer neugierig auf den Messerdämon, vor allem jetzt, da er nicht mehr vor ihr stand und sich das erniedrigende Bedürfnis, jedem seiner Worte Folge zu leisten, in Grenzen hielt. Dabei erinnerte sie sich an die plötzliche Kälte, die ihr das Gefühl gegeben hatte, einen nicht wiedergutzumachenden Fehler begangen zu haben. Sie hätte ihn in jenem Moment auf Knien um Vergebung angebettelt, wenn er es verlangt hätte und auch das machte ihr Angst. Es war nicht zu übersehen, dass es keine gute Idee war, sich mit ihm anzulegen, aber das hatte sie auch nicht gewollt. Sie wollte nur ihren Vater wieder bei sich haben und dafür war sie zu Allem bereit. Eine Anstellung im In Jicos Armen, das war genau was Tante Evima ihr geraten hatte. Dann hätte er sie in diese Rolle gedrückt, ohne jemals selbst mit ihr zu reden. Es war ihr, als hätte jede Entscheidung, die sie vermeintlich spontan und aus freiem Willen getroffen hatte, in Wahrheit jemand anderes bestimmt. Jemand Bestimmtes. Indem er ihr gezielt die Begegnungen und vermeintlichen Zufälle zuspielte, die sie erst in den Bienenstock, dann zu Tante Evima und schließlich hierhergebracht hatten.
Stöhnend ließ sie den Kopf gegen die kühle Wand sinken. Das harte Bett quietschte unter ihr, war aber nach den Tagen auf der Straße unheimlich einladend. Ab und an fuhren ihre Finger aus Gewohnheit über den fest geflochtenen Zopf, dessen dicke dunkle Stränge noch glatt vom Wasser waren. Wenn ihr Zeitgefühl sie nicht täuschte, musste es inzwischen Nacht sein und wenn sie ehrlich war, konnte sie sich für den Moment kaum etwas Schöneres vorstellen, als mal wieder eine Nacht durchzuschlafen. Gleichzeitig wagte sie es kaum, die Augen zu schließen. Nicht nur Angst überkam sie dann. Es hätte ihrem Stolz den Rest gegeben, verschlafen im Bett zu liegen, falls Machairi zurückkehrte. Schon ihre verwahrloste Erscheinung beim letzten Mal war ihr furchtbar peinlich gewesen. Doch es wurde später und später und Leén war noch immer allein im Raum, während die Kerzen in den Laternen abbrannten und auch die Fackel nicht mehr lange durchhalten konnte. Eine kindliche Angst, plötzlich allein im Dunkeln zu sein, schlich sich an und Leén beschloss, dem vorzubeugen, indem sie trotz allem vorher einschlief. Wenn sie ihm wieder gegenübertreten sollte, wollte sie wenigstens etwas gefasster und möglichst ausgeschlafen sein.
Ein guter Plan, der an der Durchsetzung scheiterte. Nie wollten ihre Augen geschlossen bleiben. Ständig erwischte sie sich wieder dabei, wie sie an die Decke, die Wand oder in den Raum starrte und nachdachte. Über ihren Vater, über Machairi, über seinen wahren Namen, über ihre Anstellung und über Gwyn und den Jungen vor ihrer Tür, der sich weigerte ihr einen Namen zu nennen. Es war zum Flöhe fangen.
Als es an der Tür klopfte, saß sie augenblicklich kerzengerade im Bett. Hastig sprang sie auf die Füße und spürte das Adrenalin durch ihren Körper fahren, als sie daran dachte, wer vor der Tür stehen mochte. Immerhin hatte er die Höflichkeit zu klopfen. Schnell strich sie noch einmal ordnend über ihre Kleider und wollte schon zur Tür gehen, als diese sich bereits öffnete. Unwillkürlich hielt sie den Atem an, aber es war nur Gwyn und Leén erwischte sich dabei, wie sie aufatmete. Er grinste. »Alles klar? Ich sehe, du bist nicht im Bad verschollen«, stellte er mit seinem üblich fröhlichen Tonfall fest.
Sie schenkte ihm ein kleines Lachen und schüttelte den Kopf. »Das habe ich unter großen Schwierigkeiten noch irgendwie hinbekommen, danke.« Amüsiert grinste sie ihn an, bis ihr wieder einfiel, dass er einfach verschwunden war. »Wo bist du gewesen? Ich hab mich erschrocken, als plötzlich jemand anderes vor der Tür stand.«
»Das tut mir leid.« Verlegen fuhr er sich durch die dunklen Locken. »Aber wenn die Pflicht ruft ... Glaube mir, dass du nicht hättest mitkommen wollen.« Er zuckte mit den Schultern, ohne ihr zu verraten, wo er gewesen war. »Immerhin hast du so schon Bekanntschaft mit Mico gemacht.« Er warf einen Blick zur Tür, die einen Spalt geöffnet war und vor der vielleicht noch immer der Cecilian stand.
»Ein wahres Vergnügen«, knurrte Leén sarkastisch und warf der Tür einen bösen Blick zu. »Mico also«, sagte sie so laut, dass er es hören konnte. »Was genau ist jetzt so schlimm daran, dass er mir das nicht sagen konnte?«
Gwyn lachte auf. »Hat er nicht?« Er schüttelte grinsend den Kopf. »Du könntest auch reinkommen, du alter Charmeur, Reed und Vica sind sicher gleich da«, berichtete er der Tür ebenfalls gut hörbar.
Wieder horchte Leén auf. Wer war Vica? Es klang nach einem Mädchennamen ... sollte es angehen, dass der gefürchtete Schatten vielleicht eine Freundin hatte? Der Gedanke ließ sie einerseits schmunzeln und andererseits das Gesicht verziehen. Er war keine Person, der sie eine gute oder gesunde Beziehung zugetraut hätte. Andererseits hatte man, wenn man mit Machairi zusammen war, sicherlich überhaupt nichts mehr zu fürchten ... außer vielleicht vom eigenen Geliebten aufgespießt zu werden. Leén erschauderte und entschied, nicht weiter darüber nachzudenken, bevor sie in Gedanken an seinem Aussehen hängen bleiben konnte. Warum musste er auch noch gut aussehen? Sie stoppte sich energisch und fragte Gwyn schnell: »Was passiert jetzt?«, um sich von ihren eigenen Gedanken abzulenken.
Der Feuerspucker zuckte grinsend mit den Schultern. »Wir werden sehen, was der Meister so plant.« Verschwörerisch zwinkerte er ihr zu, aber sie fragte sich nur, ob das ein Witz gewesen war, oder ob er ihn vielleicht wirklich so nannte.
»Irgendwelche Überlebenstipps?«, fragte sie stattdessen, während sie wieder an das Messer dachte, das so selbstverständlich über seine Finger getänzelt war.
»Wie wär‘s mit Klappe halten?«, kam ein mürrischer Vorschlag von jenseits der Tür und Leén hatte plötzlich große Lust, ihm die Zunge rauszustrecken.
Gwyn lachte erneut. Seine gute Laune schien alles zu überleben und ansteckend war sie auch noch. »Ich würde mir nicht so viele Sorgen machen. Nur Widerspruch ist keine gute Idee, also tu das nur, wenn du einen wirklich guten Grund hast. Kommentare wie ‚Das ist doch Wahnsinn‘, oder ‚Das kann nicht gutgehen‘ werden generell akzeptiert.« Seine Mundwinkel zuckten. »Außerdem ist das meine Aufgabe ... falls du trotzdem hochqualifizierte Kommentare einbringen möchtest, würde ich zuerst zu Ende zuhören und generell ist mehr Zuhören als Reden eine gute Devise.« Grübelnd fasste er sich ans Kinn. Dann grinste er. »Solltest du trotzdem in Ungnade fallen, lege ich ein gutes Wort für dich ein.«
»Danke«, murmelte Leén und versuchte ein überzeugendes Lächeln. Sie konnte sich vorstellen, dass Machairi keine Geduld für unwissenden Widerspruch hatte und bei der Vorstellung, wie er darauf reagieren mochte, lief es ihr kalt den Rücken hinab. »Worum geht es hier eigentlich?«, fragte sie vorsichtig, in der Hoffnung noch irgendetwas herauszufinden, bevor sie wieder mit Machairi aufeinandertraf.
»Die Rettung der Welt?«, schlug Gwyn vor und zuckte mit den Schultern. »Ich weiß auch nur das Nötigste, echt.« Grübelnd schaute er die Wand an. »Ist in jedem Fall eine größere Sache als sonst«, stellte er dann fest.
»Ihr wirkt nicht, als würde euch die Rettung der Welt interessieren, selbst wenn ihr die Chance bekämet«, stellte Leén fest und brachte ihn damit zum Grinsen.
»Guter Punkt«, lenkte er ein. »Wir werden es erfahren ... «
Jemand stieß die Tür auf und der Cecilian, Mico, stand darin. Ein feindseliger Blick traf Leén, aber seine Abneigung hielt ihn nicht vom Eintreten ab. Mit verschränkten Armen, wobei sich die langen Ärmel nur wie durch ein Wunder nicht ineinander verhedderten, lehnte er sich an die Wand. Leén musterte die Stickmuster, die jemand mit goldenem Faden an jeden Saum angebracht hatte und fragte sich, was sie wohl zu bedeuten hatten. Sie konnte den Blick erst abwenden, als sie Geräusche vom Flur hörte und die noch geöffnete Tür wieder ihre volle Aufmerksamkeit beanspruchte.
Machairi bewegte sich so flüssig, dass die einzelnen Bewegungen zu einer zu verschmelzen schienen, obwohl die Hand eines Mädchens in seiner linken Armbeuge lag. Sie ließ sich von ihm führen und in der linken Hand hielt sie einen Stab, der mehr aussah wie eine Waffe als wie eine Gehhilfe. Beide Enden waren mit Metallkappen verstärkt und das Holz war sauber und perfekt geschliffen. Trotzdem schien sie damit den Raum zu ihrer Linken zu untersuchen. Kurz fragte sich Leén erneut, ob sie vielleicht seine Freundin war, denn sie hätte nie erwartet, dass er jemanden so führen könnte. Eigentlich wollte sie nicht starren – schließlich ging es sie nichts an – aber sie konnte trotzdem nicht anders, als das fremde Mädchen genau zu mustern. Die Haare, die unter der dunklen Kapuze hervorkamen, waren fast weiß unter dem Dreck, der in ihnen hing und auch ihre Kleider unter dem grauen Umhang waren verdreckt und erinnerten an die Lumpen, die Leén selbst noch bis vor ein paar Stunden getragen hatte. Neben dem ordentlich gepflegten Mantel und dem perfekt geschnittenen, schwarzen Hemd des Dämons wirkte sie noch ärmlicher. Seltsam für seine Freundin, fand Leén.
Sie wurde jäh in ihrer Betrachtung unterbrochen, als sie merkte, dass sein Blick im Gegenzug auf ihr ruhte. Wie automatisch stellte sie sich etwas gerader hin und spürte, wie sich eine Gänsehaut auf ihren Armen ausbreitete. Auch wenn sie dieses Mal sauber war und ordentliche Kleider trug, wurde sie sich ihrer eigenen Makel sofort wieder bewusst. Ihr Zopf begann sich bereits wieder aufzulösen und sie hatte keinen Spiegel, um ihr Aussehen zu überprüfen. Mit einem Schlucken versuchte sie, ihre Unsicherheit zu bekämpfen und wollte seinen Blick herausfordernd erwidern. Mutig starrte sie in die schwarzen Augen und begegnete einem wissenden Blick, der sie zu durchdringen schien und dem sie nicht standhalten konnte. Beschämt drehte sie das Gesicht ab und sah stattdessen zu Gwyn, der dem fremden Mädchen einen kurzen Blick zuwarf und dann meinte: »Sieht aus, als hätte dir schon jemand einen neuen Stab besorgt.«
»Gut beobachtet, Gwydion, deine Schonfrist ist vorbei! Wenn du mich noch einmal durch so ein Chaos zwingst wie heute Nacht, werde ich mich wehren!« Anklagend richtete sie ihren Stab auf Gwyn.
Der verschränkte nur die Arme und sah sie beleidigt an. »Hey, ich hätte mir das auch lieber gespart! Das war nicht meine Verantwortung«, verteidigte er sich, warf aber einen beinah hektischen Blick auf die Person, deren Verantwortung es vermutlich war, bevor er auf die Stabspitze hinabsah, die vor seinem Kinn schwebte.
Mico schnaubte. »Als würde die irgendetwas treffen«, murmelte er und warf einen abfälligen Blick, wie er bisher auch Leén getroffen hatte, auf das Mädchen in den Lumpen.
Die wirbelte herum und stieß Mico zielsicher das Ende des Stocks gegen die Brust. »Ich bin blind, nicht taub, du glorifizierter Dietrich!«
»Genug.« Machairis Stimme ließ Leén zusammenfahren und auch die anderen drei hielten inne, auch wenn sie noch immer so aussahen, als könnten sie sich gegenseitig an die Gurgel gehen. Ein einziges leises Wort hatte ausgereicht, um alles andere um ihn herum zum Erliegen zu bringen. Er stand mitten im Raum, abseits von den anderen und obwohl Leén genau aufgepasst hatte, war ihr nicht aufgefallen, dass er sich bewegt hatte. Jetzt stand er jenseits des Tisches und sah streng zu ihnen herüber und obwohl sie nicht einmal angesprochen war, senkte sie schuldbewusst den Kopf. Kühl deutete er auf den Tisch und Gwyn ließ sich sofort gehorsam auf einen Stuhl sinken und zog Vica auf einen zweiten. Dabei konnte Leén erkennen, dass das andere Mädchen tatsächlich blicklose Augen unter den langen Haarsträhnen verbarg.
Hastig ließ sie sich auf Gwyns andere Seite sinken, weil sie lieber seinem Beispiel folgen wollte, als sich einer Anordnung zu widersetzen, die scheinbar in einer einzelnen Kopfbewegung gelegen hatte. Kein Wunder, dass sie das Gefühl hatte, den Dämon nicht eine Sekunde aus den Augen lassen zu dürfen! Der Einzige, der keinen Muskel regte, war Mico. Der stand hocherhobenen Hauptes weiterhin neben der Tür und wollte sich offenbar weigern, sich auf den Platz neben Vica zu setzen.
Der Dämon warf Mico einen Blick zu und hob nur minimal die Augenbrauen. Es beeindruckte Leén, wie lange der unfreundliche Cecilian dem Blick standhielt, bevor er sich knurrend auf den letzten Stuhl fallen ließ, wobei er möglichst viel Abstand zu Vica hielt und ihr Blicke zuwarf, als sei sie ein sehr widerwärtiges Tier. Vermutlich war er bloß froh, dass die Stühle weit genug auseinanderstanden, dass er nicht auch noch neben Leén saß.
Einen langen Moment betrachtete Machairi die Gruppe nur. Die Ruhe im Raum wurde immer gespannter und Leén fühlte sich immer unwohler. »Morgen früh legt ein Schiff in der Sklavenbucht ab, um uns nach Hareth zu bringen«, sagte er schließlich in die Stille hinein. »Dann machen wir uns auf den Weg in die Hauptstadt«, fügte er noch hinzu, die Stimme ebenso kalt und sachlich, wie sie es bisher immer erlebt hatte. Trotzdem entfaltete sie einen unheimlich melodischen Klang, selbst in dem kleinen Raum und Leén fühlte sich von einer gewissen Ehrfurcht ergriffen.
Dann drang der Sinn der schönen Worte zu ihr durch und schon musste Leén sich das erste Mal zusammenreißen. Der Weg zur Hauptstadt Om‘falo war komplizierter als man vermuten mochte. Sie mussten entweder mit dem Schiff um den ganzen Kontinent herumsegeln, Tage, vielleicht Wochen an der Küste entlangwandern, oder aber sich durch die Wüste schlagen. Ein cecilianisches Schiff oder eine Reisegruppe würden auf offiziellen Wegen sicherlich kontrolliert werden und ob die Gruppe so vertrauenserweckend war, dass man sie ziehen lassen würde, wagte Leén zu bezweifeln. Der Weg durch die Wüste war allerdings auch nicht besser, denn selbst mit Führer war man darin niemals sicher. Die Menschen in Hareth erzählten sich Geschichten von diversen Wüstenmonstern und im Zweifelsfall gingen die Einheimischen lieber großflächig um die Sandmassen herum. Was zog den Messerdämon also so dringend nach Om’falo?
»Und ich dachte schon, wir beteiligen uns an dieser bescheuerten Jagd nach dem dreifach verdammten Artefakt.« Mico lehnte sich in seinem Stuhl zurück und warf einen weiteren genervten Blick zu Leén. »Das erklärt immerhin, wofür wir das da brauchen«, murrte er. Leén öffnete empört den Mund, um sich zu verteidigen, weil er sie als Sache behandelte, aber sie schloss ihn wieder, als sie sich an Gwyns Warnung erinnerte, auch wenn Mico sich offensichtlich nicht daran hielt.
»Es gibt keinen Grund, es zu suchen.« Machairi beachtete den Kommentar an Leén nicht. »Besorg Ausrüstung für einen Ausflug in den Norden. Ganz besonders warme Kleidung. Die Ratte hat etwas zusammengestellt. Es liegt also im Grunde für uns bereit«, trug er Mico auf, der nicht besonders begeistert aussah.
Schweigend folgte Leén den Worten des Schattens – wobei sie zu ignorieren versuchte, dass seine Stimme ihr noch immer bis ins Mark fuhr – und mit einem Blick auf Gwyn stellte Leén erleichtert fest, dass auch der verwirrt aussah. Er hatte die Stirn in Falten und den Kopf etwas zur Seite gelegt und versuchte, sich einen Reim darauf zu machen. Hareth lag im Süden. »Wenn das ein Ablenkungsmanöver werden soll, wäre es doch besser vielleicht nicht direkt von Aroura zu stehlen, oder?«, merkte er schließlich an und sah etwas fragend in die Runde.
Mico nickte zustimmend. »Kann ich nicht einfach irgendeinen Laden in der Stadt ausräumen? Warum überhaupt ich?«, murrte er und zog sich unwillig weiter auf seinem Stuhl zusammen. Leén musste sich davon abhalten, fasziniert seine Ärmel zu betrachten, die ein Eigenleben zu entwickeln schienen und so viel fröhlicher als ihr Träger umherschwankten.
»Grothia plant auch einen kleinen Ausflug.« Dieses Mal zuckte der Hauch eines Grinsens auf die neutralen Züge, das ebenso schnell wieder verschwand. »Du darfst auch an ihre Ausrüstung gehen«, bot er an, während Gwyn sich fest auf die Lippen biss, um offensichtlich ein Lachen zu unterdrücken.
Das hatte auch Mico gemerkt. »Das kann Gwyn doch machen!« Er warf dem Zhaki einen herausfordernden Blick zu.
»Nein danke, ich habe keinen Todeswunsch«, brachte Gwyn hervor und konnte nicht verhindern, dass man seiner Stimme anhörte, dass die Situation ihn amüsierte.
Machairis bohrender Blick traf Micos und jedes Grinsen war verschwunden. Wieder hatte Leén das Bedürfnis, sich zu verstecken, obwohl er nicht einmal in ihre Richtung sah. Sie hielt die Luft an und sah zu, wie Mico seinen Widerstand aufgab, schnaubend eine Zustimmung murmelte und danach anklagend auf die Tischplatte starrte. Leén erwischte sich bei leichter Schadenfreude. Sie wusste genug über die beiden Schatten, zwischen denen Mico sich jetzt zu entscheiden hatte, dass auch ihr klar war, dass jeder der Verstand besaß, lieber der Ratte in den Weg kam als der Faust. Trotzdem ahnte sie auch, dass das Unterfangen zu gefährlich war, um lustig zu sein. So ablehnend sich der Cecilian auch verhielt, wollte sie ihn doch keinesfalls in ernsthafter Gefahr wissen. Es kam ihr gleichsam bezeichnend und beunruhigend vor, dass niemand echten Widerspruch gegen das Wort des Messerdämons zu erheben wagte. Trotzdem wunderte sie sich, dass niemand außer ihr sich zu fragen schien, um was für ein Artefakt es sich handeln sollte. Überhaupt sah Leén über Gwyn, Vica und Mico und fragte sich, ob sie nicht unterbesetzt waren für … was auch immer der Dämon vorhatte. Vorsichtig schielte sie in seine Richtung und versuchte, sich einen Reim auf das alles zu machen. Was konnte so wichtig sein, dass sie dafür nach Hareth fahren würden? Sie musste sich auf die Zunge beißen, um nicht zu fragen.
»Wenn mir das Ausrüstung Klauen erspart bleibt, darf ich doch bestimmt eine andere, gänzlich ungefährliche und entspannte Aufgabe erfüllen?«, erkundigte sich Gwyn und kippelte mit dem Stuhl. Ein mutiges Unterfangen, weil die Holzkonstruktion ohnehin klapprig wirkte. Leén sah ihn schon auf dem Boden liegen.
»Du trinkst ein Bier mit Jenko und Chitra.« Er hatte wieder ein blitzendes Messer aus dem Ärmel gezaubert, das er nun spielerisch durch seine weißen Finger tanzen ließ. Im flackernden Licht der Fackeln sah er tatsächlich aus wie ein Dämon, mit seiner neutralen Überlegenheit und einem gefährlichen Glänzen in den tiefschwarzen Augen. Kurz fragte sich Leén, ob er vielleicht einfach wahnsinnig war.
Gwyn schien mehr daraus zu verstehen, denn er seufzte und zuckte mit den Schultern. »Wenn du mir noch etwas genauer sagst, was ich ihnen zuflüstern soll … Ich schätze der Einwand, dass das vielleicht etwas offensichtlich ist, ist unnötig?«
Erstmals, seit sie von Gwyn auf dem Stuhl platziert worden war, regte sich auch die Blinde wieder. Sie hielt noch immer den Stock fest in der rechten Hand und war vermutlich bereit, ihn jede Sekunde wieder auf Mico zu richten. »Schön«, raspelte sie mit rauer Stimme. »Bleiben noch das schweigende Grab dahinten und ich. Schieß schon los: Was machen die Damen?«, forderte sie und es dauerte einen Augenblick, bis Leén begriff, dass sie das schweigende Grab war. Tatsächlich hatte sie keinen Ton gesagt, seit die Fremde den Raum betreten hatte. Es war ein Wunder, dass sie überhaupt wusste, dass sie da war. Aber vielleicht hatte sie einfach den Stuhl gehört, als Leén sich gesetzt hatte – woher sie dann wusste, dass sie ein Mädchen war, blieb ihr jedoch ein Rätsel.
Darauf schmunzelte Machairi und das nahm ihm zu Leéns großer Erleichterung das diabolische Aussehen. Mit dem Hauch eines Lächelns sah er schon viel mehr aus wie ein Normalsterblicher. »Bevor du irgendwo hingehst, nimmst du erst ein Bad«, verordnete er und schien sichtlich amüsiert, als sie das Gesicht verzog. »Rish bringt dich«, fügte er dann hinzu und nur weil sein Blick unverhofft zu ihr flog, erkannte Leén, dass sie gemeint war und fuhr etwas verspätetet zusammen.
Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, klappte ihn aber wieder zu. Dann schluckte sie. »Ich kenne mich hier nicht aus«, wollte sie in normalem Tonfall anmerken. Das, was sie tatsächlich sagte, war kaum mehr als ein schüchternes Flüstern und sie ohrfeigte sich innerlich. Deshalb hielt sie sich auch davon ab, die Schultern hochzuziehen, als sie merkte, dass alle sie ansahen (oder den Kopf in ihre Richtung gedreht hatten – wie in Vicas Fall). »A-aber das Bad finde ich bestimmt wieder«, setzte sie dann hastig hinzu, als sie Machairis gehobene Augenbraue bemerkte und sich erneut davor fürchtete, ihn zu verärgern. Wieder rutschte ihr fast die Frage raus, was er denn nun vorhatte und sie biss sich auf die Zunge.
Aus der Richtung des Messerdämons spürte sie den bohrenden Blick, sogar ohne ihn anzusehen. »Rish, bevor du dir die Zunge abbeißt: Sprich!«, forderte er sie auf. Es lag etwas Gönnerhaftes in seiner kalten Stimme und hätte er sie nicht immer noch mit Angst erfüllt, hätte sie die Augen verdreht.
Seine Einladung ließ sie sich jedoch nicht entgehen und sie stellte tatsächlich die interessanteste Frage. »Worum geht es hier überhaupt?«, wollte sie wissen und wagte es sogar, ihn fragend anzusehen.
Er sah zufrieden aus, zu ihrer großen Überraschung, als habe er nur darauf gewartet, dass sie diese Frage stellte. Ein kurzer auffordernder Blick zu Gwyn genügte, bevor er die dunklen Augen wieder forschend auf sie richtete und jede ihrer Bewegungen genau zu beobachten schien. Gwyn gehorchte augenblicklich und Leén wollte ihn eigentlich ansehen, aber Machairis Blick hielt ihren gefangen und sie konnte die Augen nicht abwenden. »Es soll ein altes Artefakt geben, das jede Frage beantworten kann. Es galt als verschollen, aber seit kurzem ist von einer Vision die Rede. Jemand hat gesehen, wo sich das Artefakt befindet und Aufzeichnungen gemacht. Die einzige Aussage, die aber soweit bekannt zu sein scheint ist nicht in Hareth, weshalb wir es wohl in Cecilia vermuten können. Jedenfalls ist die Nachricht auch hier angekommen und es ist kein Geheimnis mehr. Scheinbar ist ganz Pyria auf der Suche danach«, berichtete Gwyn, möglichst kurz, auch wenn sie in seiner Stimme hörte, dass er seine Erzählung gerne etwas ausgeschmückt hätte. Hatte er nicht gesagt, dass er nicht genauer Bescheid wusste?
Unsicher unter dem Blick Machairis sagte Leén: »Und ihr wollt es auch finden? Ist es dann nicht sinnvoller, genau nicht nach Hareth zu fahren?« Leén fühlte sich kaum weniger unwissend als vor dieser Erklärung. Außerdem klang die ganze Geschichte vage und an den Haaren herbeigezogen.
»Ich brauche etwas aus Om’falo«, erklärte Machairi, noch immer ohne sie aus den Augen zu lassen. Musste er nie blinzeln?
»Und wenn jemand das Fragending vor euch findet?«, fragte Leén zögerlich. »Wenn die ganze Welt danach sucht? Und was für eine Frage wollt ihr denn überhaupt stellen?« Sie warf einen Blick in die Runde, auch um Blickkontakt mit Machairi zu vermeiden. Wie konnte sie sich schon eingeschüchtert fühlen, wenn er nichts tat, als sie anzusehen?
»Niemand wird es finden«, stellte Machairi fest, ohne auf eine ihrer anderen Fragen einzugehen. Hieß das, dass er bereits wusste, wo es war?
»Hoffentlich«, murmelte Gwyn und schien es dabei belassen zu wollen, bis er Leéns Blick bemerkte. »Stell dir mal vor, was das in den falschen Händen anrichten kann. Hareth und Cecilia bekriegen sich seit hunderten von Jahren. Die erste Frage, die jeder der beiden Monarchen stellen würde, wäre, wie er den anderen Monarchen vernichten kann. Das würde im schlimmsten Fall die Ausrottung eines ganzen Volkes bedeuten und erhebliche Opfer auf beiden Seiten.«
Die Überraschung hätte Leén beinahe zum Kichern gebracht, doch sie spürte noch immer das kalte Schaudern, das Machairis Blick hervorrief und konnte es sich verkneifen. »Ich hätte euch nicht für Patrioten gehalten.«
»Kein Grund, so erschrocken auszusehen. Krieg und Tod sind schlecht fürs Geschäft«, sagte Gwyn mit einem leichten Lächeln, worauf sie ihn nur empört ansah. Unrecht hatte er sicher nicht, aber Finanzen waren doch wahrlich nicht der größte Schrecken am Krieg. Der Gaukler hob abwehrend die Hände. »Das gilt doch für alle, aber wir sind die ersten, die sterben, wenn das Geld ausgeht und es nichts mehr gibt, was man den Händlern wegnehmen kann, und wenn jeder Wehrfähige zum Kriegsdienst eingezogen wird. Wenn die Bienen ruhig sein können und einigermaßen über die Runden kommen, ist es um das Land gut bestellt und den Feinden könnte es vermutlich auch kaum besser gehen«, versuchte er zu erklären. »Man könnte also sagen: Es ist ein gutes Zeichen, wenn sich unsere Kassen füllen.«
Zähneknirschend nickte die Harethi und sah sich nicht imstande, eine moralische Diskussion darüber anzufangen oder gar zu gewinnen. »Also wisst ihr schon, wo dieses Artefakt ist?«, versuchte sie zum Thema zurückzukommen.
Gwyn zuckte mit den Schultern und sah nun ebenfalls fragend zu Machairi und selbst der schweigsame Griesgram hob den Blick, um nach einer Reaktion des Schattens zu suchen. Anstatt eine Antwort zu erhalten, konnten sie zusehen, wie er einen Blick auf eine wirklich schöne Taschenuhr warf. »Gwyn.« Seine dunklen Augen richteten sich auf den Zhaki und der sprang augenblicklich auf. »Es sind alle vor dem ersten Tageslicht bereit«, verordnete der Schatten noch, dann war er mit wenigen Schritten aus dem Raum. Gwyn folgte ihm, jedoch nicht ohne noch einmal über die Schulter zu winken und Leén ein ermutigendes Lächeln zuzuwerfen, die schon wieder vollkommen überrannt war. Auch der grimmige Mico ging ohne eine Verabschiedung, sodass nur das andere Mädchen mit Leén im Raum zurückblieb. Seltsame Menschen.
Leén spürte, wie sie etwas aufatmen konnte. Machairis Anwesenheit hatte den Raum wesentlich enger erscheinen lassen und sie merkte jetzt im Nachhinein, wie sehr sie sich darunter angespannt hatte. Nachdem sie nun mit Vica allein war, musterte sie das Mädchen etwas genauer und vergaß darüber, einen freundlichen Gesprächsanfang zu finden. Sie war vermutlich Anfang zwanzig, auch wenn das unter der Kapuze schwer zu erkennen war. Unter dem grauen Mantel verhüllten bunte Lumpen ihre Figur, aber an der Hand, die mit mageren Fingern den Stab umfasst hielt, ließ sich erahnen, dass Vica über lange Zeit nicht genug zu essen gehabt hatte. Fasziniert beobachtete Leén das fremde Mädchen, versuchte ihr Gesicht zu erkennen, das unter der Kapuze im Schatten lag und von den fast weißen Haaren bedeckt wurde, die zu großen Nestern verknotet sein mussten, so sehr wie sich die Kapuze an manchen Stellen darüber wölbte. Dann stieß unverhofft ein kleiner Kopf neben Vicas Hals hervor und Leén zuckte erschrocken zurück und unterdrückte einen Aufschrei, als ein kleines, flauschiges … Wiesel unter der Kapuze hervorkrabbelte. Ein Tier wie dieses hatte Leén noch nie gesehen. Das Fell war von einem dunklen, gleichmäßigen Braun und länger, als sie erwartet hätte, und wölbte sich, als hätte das Tierchen eine sehr ungleichmäßige Wirbelsäule. Der Schwanz war fast so buschig wie der eines Eichhörnchens. Es hielt sich mit spitzen Krallen an Vicas Kleidern fest und keckerte warnend, als es merkte, dass Leén es betrachtete. Trotzdem war es niedlich, mit seinem kleinen Kopf und schwarzen Knopfaugen, die Leén genau musterten.
»Hast du dann langsam mal genug gegafft, Hatschi?«, fragte Vica kühl und Leén senkte beschämt den Kopf, als die milchigen Augen in ihre Richtung stachen. »Jetzt tu nicht so erschrocken«, schalt Vica sie daraufhin weiter.
Ein kleiner Adrenalinkick brachte Leéns Magen zum Kribbeln. Ihr ungeniertes Starren wurde umso peinlicher, wenn die andere gar nicht blind war. Doch, sie hat es selbst gesagt, erinnerte sie sich und vergewisserte sich dennoch mit einem Blick in die milchig grauen Augen, dass die andere ins Nichts schaute. »Woher willst du wissen, wie ich reagiere?«, fragte sie und fuhr nervös mit den Fingern über die Stränge ihres Zopfes.
»Ich würde mich an deiner Stelle mal zurückhalten mit dem Gaffen. Du bist selbst noch absonderlicher als ich, Hatschi!« Vicas knochige Finger fuhren über das Fell des kleinen Wiesels, das sich inzwischen auf ihrer Schulter niedergelassen hatte und Leén beobachtete.
Offenbar wusste Vica, dass Leén Harethi war. Vielleicht hatte sie das daraus geschlossen, wie die anderen mit ihr umgegangen waren. Hatte sie nicht sogar jemand der anderen Hatschi genannt? Lass dich einfach nicht einschüchtern, versuchte sie sich selbst zu ermutigen. »Hör auf mich so zu nennen!«, verlangte sie deshalb und versuchte, sicherer zu klingen, als sie sich fühlte. Wenn sie mit diesen Leuten zusammen reisen und arbeiten sollte, würde sie sich nicht über Wochen deren Spott anhören. Leider musste Respekt verdient werden, ganz besonders im Bienenstock.
»Oh, bist du jetzt beleidigt?«, fragte Vica, mit deutlich gespieltem Bedauern. »Tut mir leid, wenn dein niedlicher Augenaufschlag bei mir nicht funktioniert«, knurrte sie und stand auf. Sie war nicht so sicher auf den Beinen, wie sie vorzugeben versuchte.
Leén schnaubte ärgerlich. Wie konnte ausgerechnet eine Blinde ihr vorwerfen, dass ... ja, was warf sie ihr damit eigentlich vor? »Meine Betörungskünste müssen großartig sein, so gerne wie mich alle haben.« Sie war nicht gut im Streiten und ihre Imitation von bissiger Ironie klang erschreckend traurig.
»M mag dich immerhin genug, um dich mitzunehmen, Hatschi.« Die Knöchel der Hand, die den Stock umfasste, wurden weiß, so fest hielt sie ihn. »Warum?«
Leén hob die Augenbrauen. M? Sie glaubte nicht, dass Machairi sie mochte. Er brauchte sie vielleicht, konnte sie für den eigenen Vorteil benutzen und momentan sah es nicht aus, als würde sie wagen können, sich dagegen zu wehren. Das musste sie der Blinden jedoch nicht sagen. Also schwieg sie, sah Vica böse an und versuchte, sie zu verstehen. Etwas an ihr war seltsam – seltsamer als ihre Blindheit.
»Was macht dich so besonders, dass er Interesse an dir hat?«, fragte Vica noch einmal und machte einen Schritt auf Leén zu, die unwillkürlich zurückwich. »Wozu bist du gut?«
»Ich spreche Hack«, antwortete sie wahrheitsgemäß, auch wenn das nicht besonders eindrucksvoll war. Lieber hätte sie verkündet, auch so eine besondere Fähigkeit zu haben wie Gwyn, oder sich damit rühmen zu können, überhaupt in irgendetwas besonders gut zu sein. Die Wahrheit war, dass sie schon immer ziemlich durchschnittlich gewesen war. Nie hatte sie das so sehr geärgert wie jetzt gerade. Fast hätte sie etwas hinzugefügt wie: Außerdem kann ich Gedankenlesen, oder Ich bin eine hervorragende Kämpferin. Leider waren das Lügen, die viel zu leicht zu enttarnen waren.
»Wir fahren auf einen Kontinent, wo jeder verdammte Bürger Hack spricht!«, fuhr Vica sie an. »Es wäre ein Leichtes, dort einen Übersetzter aufzutreiben! Was ist besonders an dir?!«, stieß sie hervor und bevor Leén sich versah, hatte das blinde Mädchen ihr zielsicher die Metallspitze des Stocks vor die Brust gerammt.
Keuchend stieß Leén Luft aus und stolperte das letzte Stück bis zur Wand zurück. Ein heller Schmerz war durch ihren ganzen Brustkorb gefahren. Wie konnte jemand, der nicht sehen konnte, so treffsicher sein? Mit einem gedehnten Ausatmen fuhr sie mit der Hand über die schmerzende Stelle. »Was soll das?«, stieß sie hervor und konnte nicht ausweichen, als der Stab sie in den Bauch traf. »Lass das!«, keuchte sie wütend und hielt sich schützend die Arme vor den Körper.
»Was kannst du?« Vica wurde lauter und als sie dieses Mal nach Leén schlug, wollte diese nach dem Stab greifen. Das gelang sogar, aber es endete nur damit, dass Vica ihr den Arm mit einer lockeren Bewegung verdrehte und ihr so fest gegen die Beine schlug, dass Leén sich kurz darauf am Boden kniend wiederfand.
Stöhnend versuchte sie, wieder aufzustehen, ohne erneut von dem Stock getroffen zu werden. Ein unmögliches Unterfangen, wie sich herausstellte. Egal wie sie versuchte, auf die Beine zu kommen, jedes Mal schien Vica genau zu wissen, was sie vorhatte. Die Metallkappe des Stocks traf ihr Handgelenk und ihre Schienbeine, brachte ihre Knie zum Einknicken oder zog ihr schlicht die Beine weg. Die Wehrlosigkeit führte zu Verzweiflung und nach ein paar weiteren gescheiterten Versuchen wurde sie zu unheimlicher Wut. Inzwischen saß der taube Schmerz an unzähligen Stellen und sie hätte die andere gerne erwürgt. Die hilflose Wut schwoll in ihrer Brust an und setzte sie unter Spannung. Es fühlte sich an, als staue sich mit jedem schmerzvollen Aufprall der Metallkappen etwas mehr hinter einer Barriere, die mit einem gewaltigen Ausbruch nachgeben würde. Gnadenlos schlug die Blinde weiter auf die wehrlose Harethi ein und allen Gefühlen zum Trotz brach nichts frei. Keine ungeahnten Kampfkünste wurden hervorgereizt, nicht einmal ein wütender Schrei entfuhr ihr. Vica schlug auf Leén ein, bis diese sich auf dem Boden zusammenkauerte, jede Gegenwehr aufgab und unter Tränen versuchte, die verletzlichsten Stellen zu schützen.
»Du bist tatsächlich nutzlos«, erklang Vicas Häme schließlich. Endlich stellte sie ihre Angriffe ein und drückte Leén nur noch mit dem Ende des Stocks auf den Boden. »Dann wird es wenigstens nicht lange dauern, bis du auf der Strecke bleibst.«
Leén spürte, wie sich die Kappe von ihrer Seite hob, und konnte etwas aufatmen. Ihre Finger bebten und überall drückte der leichte Schmerz von frischen blauen Flecken. Fest biss sie sich auf die Lippen, um nicht lautstark zu schluchzen und wischte sich mit dem Ärmel der Bluse über die Augen. Sie wollte die andere anschreien oder wenigstens endlich die Flucht ergreifen, doch sie kroch nur eilig aus der Reichweite der Blinden und kämpfte gegen die Angst. Vica hatte sie nicht ernsthaft verletzt, hatte ihr keinen körperlichen Schaden zugefügt, der nicht in ein paar Stunden, spätestens in wenigen Tagen, vergangen sein würde, aber sie hatte ihr in erniedrigender Klarheit bewusst gemacht, dass sie von der Gnade dieser Menschen abhängig war. Spätestens jetzt war unbestreitbar, dass sie nicht aus eigener Kraft im Bienenstock überlebt hätte.
»Du solltest mich zum Bad bringen«, erinnerte Vica grinsend. »Also komm, Hatschi, bringen wir es hinter uns.«
Leén schüttelte unwillkürlich den Kopf. Schon vor dieser atemberaubenden Zurschaustellung ihrer Unterlegenheit hätte sie die Blinde ungern über diese fremden Flure geführt. Jetzt wollte sie so viel Abstand von der fremden Frau halten, wie sie konnte, sich ganz sicher nicht mit ihr in dunkle Gänge begeben. Schon bei der Vorstellung musste sie leise schniefen. Wäre sie allein gewesen, wäre sie sicher in Tränen ausgebrochen.
»Nutzlos und verweichlicht?« Vica schnaubte. »Reiß dich mal zusammen, Hatschi, du wirst es überleben.« Genervt klopfte sie mit dem grausigen Stock auf den Boden. »So zartbesaitet kann doch wirklich niemand sein«, murmelte sie zu sich selbst und Leén wollte einen schuldbewussten Ausdruck in das leise Schnauben hineininterpretieren.
Leén spürte die Furcht in der Brust, aber sie musste auch sehen, dass Vica nicht unrecht hatte. Wenn sie in dieser Welt überstehen wollte, durfte sie sich nicht so leicht geschlagen geben und ganz sicher nicht bei jeder Einschüchterung nachgeben. Auch wenn es ihr schwerfiel, zog sich Leén am Bett auf die Beine und zupfte Zopf und Kleider zurecht. Dabei glitten ihre Finger kurz über ihr Haarband und der Gedanke an ihre Mutter weckte neuen Mut. Sie würde sich nicht unterkriegen lassen. Mit fingierter Sicherheit hielt sie auf die Tür zu. Sie sollte es genießen, nun die Führung zu übernehmen, selbst wenn es nur zum Bad war.