Читать книгу Pyria - Elin Bedelis - Страница 6

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Erst hören, dann handeln

Die Welt war Musik, nur schien sie niemand zu verstehen. Das Schlagen der seichten Wellen am Rumpf des Bootes und das leise Rauschen des Windes verwoben sich zu einer friedlichen Symphonie. Gwyns hektische Bewegungen, die das Boot zum Knirschen brachten, und sein zu schneller Atem durchbrachen diesen Frieden wie Paukenschläge und das Summen des entfernten Bienenstocks, das über das Wasser an ihre Ohren getragen wurde, schwebte seicht in der Luft. Jedes Tier, jeder Mensch, ja sogar jeder Stein hatte seinen eigenen Klang. Wurde man blind für die Melodie des Lebens, wenn man nicht in immerwährende Dunkelheit gehüllt war? Vermutlich, wenn sie sich an den Lärm der Stadt erinnerte. Ein ganzes Leben schien es her, seit sie dort gewesen war, zwischen rauschenden Menschenmassen und singenden Häusern. Eine Ewigkeit, seit ein leiser Schatten sie gefunden und mitgenommen hatte in die kühlende Ruhe der Dunkelheit. Sie verdankte es ihm, dass sie nicht an jenem Tag verrückt geworden war, umgeben von mehr Geräuschen und Gerüchen, als ihr Geist ertragen konnte, der eine klare Umgebung gewöhnt war.

Sie hätte sich nicht auf die Forderung einlassen dürfen. Hatte sie sich nicht geschworen, nie wieder zurückzukehren? Auf der Irreninsel zu sterben – was, realistisch gesehen, nicht mehr lange gedauert hätte? Sie konnte nie ein Teil des Bienenstocks sein, stach zu sehr heraus, mit ihrer ungewöhnlichen Erscheinung und ihren ungewöhnlichen Fähigkeiten. M hatte sie gerettet, hatte Puki für sie gefunden und sie so untergebracht, dass sie dem Lärm des Bienenstocks entgehen konnte. Er hatte sie nicht gefürchtet, war ihr nicht ausgewichen und hatte sie beschützt. Trotzdem wusste sie, dass sie unerwünscht war. Erst auf der Irreninsel hatte sie etwas Frieden und Ruhe gefunden, fernab vom Chaos der Stadt und des Bienenstocks und versteckt vor bösen Stimmen. Auch das verdankte sie ihm und nur deshalb hatte sie sich immer wieder dazu breitschlagen lassen, ihm ihre Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen und er wusste genau, dass sie nicht Nein sagen würde, wenn er Gwyn zu ihr schickte. Vica ärgerte sich, dass der Feuerspucker kaum etwas hatte sagen müssen, um sie zu überzeugen, einfach weil sie wusste, was er zu sagen hatte. Wenn er wollte, dass sie zurückkam, weil er sie brauchte, war sie es ihm schuldig, seinem Willen zu folgen.

Also saß sie nun hier, in einem schaukelnden Boot und fuhr mit den Fingern durch Pukis herrlich weiches Fell. Wie genau man Pukis Rasse nannte, wusste sie selbst nicht und sie bezweifelte sogar, dass der Schatten das genau wusste. Auf den ersten Blick dachte man an ein Wiesel, aber unter dem weichen, kräftigen Fell lag eine panzerähnliche Schuppenhaut. Vielleicht hätte der kleine Geselle sogar eines von Machairis berüchtigten Messern abwehren können und das sollte etwas heißen. Nicht, dass der auf den Körper gezielt hätte. Vermutlich würde er die kleinen Pfoten an den Boden nageln, ohne wirklich hinsehen zu müssen. Sie erschauderte.

Der Bienenstock wurde lauter, sogar über Gwyns ohrenbetäubendes Keuchen hinweg. Schon jetzt waren die vielen Geräusche anstrengend und sie wünschte sich ihre ruhige Hütte zurück. Dort hörte sie nur selten mehr als eine Person, wenn jemand den Verstand verlor, oder sich anderweitig austobte, mit seiner Absonderlichkeit. Parastrati. Sie zog sich zusammen und streichelte fast manisch Pukis Fell. Er würde sich sicher freuen, wenn er mal etwas Aufregenderes erlebte, als bei ihr zu sitzen und ihr beim Schweigen zuzusehen, während sie mit den Vögeln davonflog oder mit den Fischen schwamm. Vica hingegen zog sogar das Übelkeit erregende Schaukeln des Bötchens der Ankunft im Bienenstock vor. Sie sollte ihre Drohung einfach wahrmachen, das Seil vor ihr durchtrennen, sodass dem kleinen Feuerspucker nichts anderes übrigblieb, als sie in die andere Richtung zurückzuziehen. Doch sie hatte Gwyn bereits an den Rand dessen getrieben, was er aushalten würde. Er gab sich gewöhnlich große Mühe zu verbergen, dass er sich vor ihr gruselte, und das rechnete sie ihm hoch an. Sie konnte ihm verzeihen, dass er in ihrer Gegenwart nicht von dem Feuer lassen konnte oder zusammenfuhr, wenn sie sich zu schnell bewegte. Jetzt war er jedoch von genügend anderen Ängsten geplagt, um die Kontrolle zu verlieren, wenn sie ihm den Heimweg verwehrte, und Kentern wollte sie sicher nicht.

Eine Ewigkeit schien zu vergehen. Hatte der Weg auch damals schon so lange gedauert? Doch schließlich stieß das Boot gegen etwas Festes und ein Ruck ging durch den ganzen Rumpf. Es schaukelte heftiger als zuvor und Vica unterdrückte die aufkommende Übelkeit. Gwyn stieß erleichtert Luft aus und kletterte an ihr vorbei aus dem Boot. Sie spürte, dass er neben ihr auf die Bank trat und als sein Gewicht das Boot verließ, kippte es bedenklich zur Seite. Er sprach, aber in dem Moment überkam sie der Brechreiz und sie lehnte sich über die Reling und erbrach sich ins Meer. Zitternd krallte sie sich in das Holz des Bootes und wartete, bis die Übelkeit abebbte. Zum Glück war ihr Magen fast leer gewesen.

Gwyn war direkt hinter ihr. Sie spürte seine positive Gegenwart und sogar Sorge und roch den leichten Geruch nach Feuer, der ihm immer fast unmerklich anzuhaften schien. »Soll ich dich aus dieser Nussschale heben?«, fragte er und sie konnte hören, dass er sein Dauergrinsen wiedergefunden hatte. »Oder brauchst du noch einen Moment?«

Hastig fuhr sie sich über den Mund und hielt Puki wieder fest. »Raus«, krächzte sie und ärgerte sich darüber, wie angeschlagen ihre Stimme klang. Fast willkommen waren seine Arme, die sich unter ihre Beine schoben und um ihren Rücken legten und der seichte Ruck, der durch sie ging, als er sie hochhob. Es konnte ihm nicht leichtfallen, sie zu tragen, aber so sehr sie auch auf ein Zeichen von Ablehnung achtete, während er sie an seine Brust drückte, fand sie nichts. Nach einem großen Schritt war der Boden unter ihnen wieder fest und Vica rechnete fest damit, dass er sie absetzen würde, doch er trug sie weiter. Nur an seinem Atem, der stoßweise ging, konnte sie erkennen, dass er sich anstrengen musste. Sie wollte ihn bitten, sie wieder abzusetzen, aber sie bekam die Lippen nicht auseinander.

Sobald die nassen Schuhe des Zhaki wieder auf Stein stießen und sie die Palisade durchschritten, schlug ihr die Wucht des Bienenstocks entgegen. Der Gestank der schlecht gepflegten Straßen im Westen, der Lärm der Honiggasse, der bis hierher zu hören war und die Spuren, die zu viele Menschen auf zu engem Raum hinterließen. Wieder wollte Vica etwas sagen, wollte Gwyn fragen, wohin er sie brachte, aber sie schwieg. Sie hatte fast vergessen wie sehr die vielen unterschiedlichen Reize sie zu überfluten drohten. Ihre Augen mochten nur Schwärze sehen, aber in ihrem Kopf war es nicht schwarz. Mit jedem Geruch, mit jedem Geräusch erstand ein Bild in ihrem Kopf, nahm eine Vorstellung Gestalt an. Sie kannte die Welt aus der Perspektive einiger Tiere, kannte ihren Eindruck, aber niemals konnte sie hören, was ihnen passierte. Für die Gräusche der Welt musste sie sich auf Pukis Verständnis oder ihre Vorstellungskraft verlassen. Wenn schon hier im Westen, wo jetzt mitten in der Nacht kaum Betrieb war, so viele Eindrücke auf sie hinabdrückten, dass ihr Kopf brummte und alles zu einem chaotischen Gewimmel wurde, würde es im Zentrum noch wesentlich anstrengender werden. Dort war es niemals ruhig, es war immer Betrieb und es ging laut her. Es erschöpfte sie jetzt schon.

Gwyn trug sie sicher weiter, auch wenn sie bald fühlte, wie seine Arme unter ihrem Gewicht zu zittern begannen. »Du kannst mich auch absetzen«, murmelte sie und fand selbst nicht, dass sie klang, als sei das eine gute Idee. Ihre Stimme war leise und viel schwächer als noch auf der Insel. Sie hatte es längst aufgegeben zu versuchen, seine Wege zu verfolgen. Es war noch zu viel. Sie würde sich erst wieder daran gewöhnen müssen, unter Menschen zu sein. Ihr wurde schwindelig, als sie den ersten Menschen begegneten und das Flüstern ihrer Albträume erneut zur Realität wurde. Über ihre weißen Haare, über ihre blinden Augen, über ihre dreckigen Lumpen und auch über Puki, der auf ihrem Bauch saß und sich genüsslich mittragen ließ. Wäre sie nicht so überrollt gewesen, hätte sie vielleicht versucht, seine Sinne zu nutzen, um vielleicht doch ein Bild von der Umgebung zu bekommen, oder wenigstens von den Lästernden. Aber sie ließ es, versuchte, es an sich vorbeiziehen zu lassen und hielt sich gleichzeitig davon ab, den Kopf an Gwyns Schulter zu legen, der ihren Kommentar nicht mit mehr als einem Schmunzeln bedacht hatte. Von überall her brachen die Eindrücke auf sie hinein. Die Musik der Welt wurde zu einem unerträglichen Lärm, einem bunten Wirrwarr, das so schnell durch ihren Kopf wirbelte, dass sie nichts wahrnehmen konnte als einen ätzenden Brei. Verkrampft hielt sie sich an Puki fest und schließlich auch an Gwyn, weil die beiden das einzig Klare in diesem Sturm waren. Aus dem Summen des Bienenstocks war ein Schreien geworden und sie war kurz davor ihn zu bitten umzukehren, sie zurückzubringen.

Der Lärm war ebenso plötzlich wieder gedämpft, wie er laut geworden war. Wieder nur ein entferntes Summen – und sonst? Kühle Luft, ein leicht modriger Geruch und Ruhe. Nur Gwyns Schritte hallten von nahen Wänden wider. Es war feucht, wenn sie den Geruch richtig deutete, und sie spürte, wie er kurz stehen blieb. Sie erwartete schon fast abgesetzt zu werden, da setzte er sich wieder in Bewegung und ihr Magen machte einen ungesunden Satz, als es plötzlich nach unten ging. Jetzt schnaufte er ein bisschen unter der Anstrengung und sie brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass er sie nicht fallen ließ, sondern eine Treppe hinabschritt. »Gleich da«, presste er hervor und plötzlich tat es ihr leid, dass er sie tragen musste. Ob er mit ihr sprach? Oder versuchte er, sich selbst zu motivieren?

Die Treppe schien endlos, aber irgendwann wurde sein Schritt wieder gleichmäßig und sie hörte Fackeln knistern. Dann waren sie endlich da, beide erschöpft, auch wenn sie hier unten zumindest mehr auf ihre Sinne vertrauen konnte. Vorsichtig setzte Gwyn sie ab und sie spürte ein Kissen unter sich. Gründlich tastend erkannte sie ein Bett, während Gwyn zurücktrat und geräuschvoll ausatmete. »Das wäre geschafft«, meinte er dann und klang deutlich erleichtert.

»Ja«, stimmte sie zu, weil sie etwas sagen musste, um ihnen beiden Stärke vorzugaukeln. »Wo ist M?« Und wo war sie? Sie waren durch eine Tür gekommen und Gwyn war im Raum und schien sich noch immer von der Strecke zu erholen, die er sie hatte tragen müssen. Eine Fackel oder ein Feuer brannten mit leisem Knistern und besonders groß konnte der Raum nicht sein, außer er war sehr vollgestellt.

»M? Wem habe ich das zu verdanken?« Fast belustigt durchschnitt die klare Stimme den Raum und Vica zuckte zusammen. Er war noch immer so ruhig wie früher und sie hatte vergessen, wie lautlos er sein konnte. Ob er das inzwischen automatisch machte oder hatte er sie absichtlich über seine Anwesenheit im Unklaren gelassen?

»Das ist auf ihrem Mist gewachsen«, verteidigte Gwyn sich schnell und sie konnte sich gut vorstellen, dass er dabei anklagend mit dem Finger auf sie zeigte.

Vica verschränkte die Arme und ging nicht darauf ein. Wenn ihm M nicht passte, sollte er ihr eine bessere Alternative anbieten. Wo im Raum war er? Sie konnte die leichten Schritte nicht zuordnen, und das ließ ihren Kopf schon wieder schwirren, bis sie ihn plötzlich direkt vor sich fühlte und unwillkürlich die Luft anhielt. Es war lange her, dass sie ihm begegnet war. Er war auf der Insel nur ein einziges Mal persönlich zu ihr gekommen und sie hatte vergessen, wie furchteinflößend er sein konnte. Sie fühlte sich nicht einmal bedroht. Es war mehr seine Präsenz, die ihr Respekt abnötigte.

Gwyn zögerte unter dem Schweigen. »Also... soll ich die anderen holen?«, fragte er unsicher in die Stille hinein.

»Geh vor«, korrigierte M ruhig. »Das Mädchen muss sich nicht besser auskennen als nötig.« Es war nicht einmal ein Befehl, nur eine simple Feststellung, die niemand jemals wagen würde, in Frage zu stellen.

Vica wunderte sich nicht, dass sie nicht gefragt wurde, ob sie vielleicht etwas Ruhe brauchte, oder sich lieber nicht bewegen wollte. Nicht, dass sie das jemals gesagt hätte. Sie war schwach, müde und erschöpft von nichts als einer Bootsfahrt und einem Spaziergang, den sie nicht einmal selbst bestritten hatte, aber das zuzugeben ließ ihr Stolz nicht zu. »Warum bin ich hier?«, fragte sie, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war, weil Gwyn natürlich keinen Widerspruch geleistet hatte. Ob er den Kopf gesenkt oder sich gar verneigt hatte? Wie behandelten die lebendigen Messer in Machairis Gunst ihren Anführer inzwischen? Damals war er neu gewesen unter den Schatten, hatte sich nicht damit aufgehalten, eine dauerhafte Anhängerschaft zusammenzustellen, sondern jedes Mal neue Leute angeheuert, wenn es irgendetwas gab, was er nicht allein erledigen konnte. Das schien sich geändert zu haben, aber wie groß die Gruppe war, oder wie fest und wie sie sich untereinander verhielten, wusste sie nicht. Es hatte nie einen Grund gegeben, Gwyn zu fragen, wenn er wieder mal kam, um sie um Hilfe zu bitten, schließlich hatte sie niemals zurückkehren wollen.

»Deine Fähigkeiten werden nützlich sein.« Nein wirklich, so weit war sie auch allein gekommen.

»Du bist aber schon noch in der Lage eine hilfreiche Antwort zu geben, oder?«, murrte Vica und setzte sich möglichst gerade hin, auch wenn sie fühlte, dass er noch immer kaum einen Schritt von ihr entfernt stehen konnte, und sie verzweifelt versuchte, davon nicht eingeschüchtert zu sein.

»Sobald du eine sinnvolle Frage stellst.« Sie wusste, dass er schmunzelte, und sie hasste es, dass sie trotzdem eingeschüchtert war. Wo war nur ihre Selbstachtung? Er war schon immer eindrucksvoll gewesen, sogar respekteinflößend, aber nie hatte sie sich so klein gefühlt. Es war ein schlechtes Gefühl.

»Gut, meinetwegen.« Trotzig schob sie das Kinn vor. »Was ist so gewaltig, dass ich dafür hierherkommen muss, anstatt zu Hause zu bleiben, wie sonst auch? Wie lange wird es dauern?«, fragte sie tatsächlich die eigentlich entscheidenden Fragen. »Und wenn du mir jetzt sagst, dass das mehr als eine Frage war, bringe ich Puki dazu, dir die Augen auszukratzen«, warf sie hinterher, um zumindest den Anschein zu erwecken, selbstsicher zu sein.

»Ich muss etwas finden.« Seine Ernsthaftigkeit hüllte den ganzen Raum in ehrfürchtiges Schweigen. Selbst die Fackeln an den Wänden schienen den Atem anzuhalten, um ihm zuzuhören. »Vorher muss ich nach Hareth und du wirst mir einen Überblick verschaffen.«

Hareth? Er wollte sie auf einen verdammten anderen Kontinent bringen? »Was, wenn ich nein sage? Ich bin nur hergekommen, damit du Gwyn nicht quälst. Vielleicht hättest du persönlich kommen sollen, wenn du mich brauchst«, stellte sie fest und provozierte damit absichtlich, dass er sie direkt bitten musste. Schließlich wusste sie, dass er die Umständlichkeit sie mitzunehmen nicht in Kauf genommen hätte, wenn sie nicht nötig gewesen wäre. »Ich mache gar nichts, wenn du nicht nett bittest.«

»Vorsicht, Vica.« Kälte schlug ihr entgegen und drückte ihr auf die Brust. Sie hielt den Atem an, spürte es wie das Drücken von einer sehr kleinen Faust. »Du bist nicht in der Position Forderungen zu stellen«, setzte er hinzu, aber die Faust hob sich nicht, obwohl Vica sich etwas entspannte, als sie das leichte Amüsement in seiner melodischen Stimme hörte. Dann begriff sie, dass ihr tatsächlich etwas gegen die Brust drückte. Ein stumpfes hartes Ende. Vielleicht ein Messerschaft ... wobei das ein recht rundes Messer wäre. Vorsichtig, ganz vorsichtig, tastete sie danach und berührte mit den Fingerspitzen das Ende eines Stocks. Sacht, fast zärtlich, fuhr sie darüber und ertastete die Metallkappe und das Holz. »Du warst mal sehr gut damit«, erinnerte er sich korrekt, »aber es scheint, als hättest du deine Waffe vermodern lassen.«

Woher weißt du das, Dreckskerl?, dachte sie bitter und knirschte mit den Zähnen. »Also ist das jetzt meiner?«, fragte sie und griff nach dem Stock, der sich auf ihre Brust richtete. Mit einer schnellen Bewegung wollte sie ihm damit den Arm verdrehen, oder ihn zwingen, die Waffe loszulassen. Sie wusste schließlich, dass er Rechtshänder war, aber die Aktion blieb erfolglos und dieses Mal stieß ihr das Ende des Stocks so heftig vor die Brust, dass sie nach Luft japste. Erschrocken ließ sie den Stock los, und wich mit dem Oberkörper zurück. Machairi drängte die Metallkappe trotzdem weiter in ihre Richtung und sie wich weiter zurück, bis sie fast lag und die Wand hinter ihrem Kopf spürte. »Was soll das?«, wollte sie ihn bissig anfahren, aber zu ihrem eigenen Entsetzen brachte sie nur ein eingeschüchtertes Keuchen hervor und verfluchte sich dafür.

»Vielleicht wäre eine Krücke angebrachter gewesen«, sagte er ungerührt und brachte sie damit schrecklich auf die Palme. »Fragil wie eine alte Frau.«

Sie hasste es, provoziert zu werden. Sie hatte es schon immer gehasst. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte sie sich gegen jeden noch so kleinen Kommentar gewehrt, hatte nichts auf sich sitzen lassen und hatte Respekt dafür bekommen. Jetzt war sie geneigt, sich unter einer Provokation klein zu machen. Es war ein Test, das wusste sie. Er war schneller, stärker und größer als sie, kannte ihre Tricks und hatte nicht über Jahre nur auf einer Insel gesessen, statt zu trainieren. Und er konnte sehen. Selbst in ihrer absoluten Topform hätte sie nie eine Chance gegen ihn gehabt. Das wusste sie und er wusste das erst recht. Aber wenn er sie testen wollte, dann konnte sie sich wenigstens ein klein wenig von dem Respekt zurückfordern und versuchen, zu kämpfen, anstatt einfach aufzugeben. Das war, was er erreichen wollte, und es stimmte auch, dass sie wieder in Form kommen musste, um im Bienenstock oder auch andernorts mit ihrer Behinderung eine Chance zu haben. Also gab sie sich innerlich einen Ruck, rollte sich seitlich unter dem Stock weg, wobei Puki entsetzt von ihrem Schoß flüchtete, und versuchte, in die Richtung zu treten, in der sie seine Beine vermutete, während sie sich erst in die Hocke und dann neben dem Bett auf die Füße bringen wollte.

Es waren bekannte Bewegungen, eine Kampftechnik, die sie einst im Schlaf beherrscht hatte. Jetzt war ihr Körper noch so gerade in der Lage, sich vom Bett zu rollen. Der Versuch, zu treten, endete damit, dass sie nun flach und japsend auf dem kalten Steinboden lag und heftig zitterte unter der ungewohnten Anstrengung. Keuchend schrak sie zusammen, als sie wieder das Ende des Stocks auf sie niederdrücken spürte. Sie dachte an die dunklen Augen, die sie vermutlich musterten, an den weißen Handschuh, der den Stock auf sie hielt, und den Ausdruck von Belustigung auf seinen Zügen, während sie kläglich daran scheiterte, sich irgendwie zu verteidigen. »Ich muss erst wieder zu Kräften kommen«, stieß sie hervor und versuchte, das Schamgefühl zu unterdrücken.

»So schwach bist du nicht.« Sein Spott brachte ihre Innereien zum Kochen. Das Bedürfnis, ihm den Stab heftig über den Kopf zu ziehen, machte sich in ihr breit. Die Wut ballte sich und sie stieß kraftvoll den Stock zur Seite und versuchte erneut, sich so zu rollen, dass sie auf die Füße kommen konnte. Sie hatte nicht einmal die Beine unter den Körper gebracht, da lag sie schon wieder. Der Schlag war von der Seite gekommen, hatte ihre Kniekehlen getroffen und ihr die Beine fast schmerzlos wegezogen. Dieses Mal machte er sich nicht einmal die Mühe sie mit dem Stock zu Boden zu drücken, sondern ließ sie japsend liegen. »Erst hören, dann handeln, Vica«, erinnerte er sie und sie reiste in Gedanken zurück, in eine Zeit, in der er mit ihr geübt hatte, ihr beigebracht hatte, auch als Blinde zu kämpfen. Sie werden dich unterschätzen, hatte er gesagt, damit hast du einen Vorteil. Tausendmal war sie auf dem Boden gelandet, so wie jetzt. Ausgeliefert, weil sie nicht sehen konnte, was er tat. Aber er hatte ihr beigebracht, auf die kleinen Dinge zu achten. Nicht nur zu hören, dass der Gegner einen Schritt tat, sondern wann er ihn tat und wie er ihn setzte. Sie hatte gelernt, auf jedes Detail zu achten und jetzt erinnerte sie sich daran.

Beim nächsten Versuch schaffte sie es immerhin bis auf die Beine, bevor sie wieder auf dem Boden landete, pfeifend wie ein kaputter Teekessel und mit schmerzenden Gliedern. Zwei weitere Versuche später wich sie einem Angriff aus, bevor sie wieder dort lag. Danach hätte sie es fast geschafft, ihm einen Faustschlag zu verpassen, oder zumindest es zu versuchen, aber anstatt ihr auszuweichen, hielt er spielend ihr Handgelenk fest und zeigte ihr somit die tatsächlichen Grenzen ihrer Kraft auf. Erschöpft gab sie auf. Ihr untrainierter Köper hielt ihren Anforderungen nicht mehr stand. Vica spürte, wie sie in sich zusammensank, aber dieses Mal fiel sie nicht. Er hatte sie aufgefangen, hielt sie fast vorsichtig fest, bevor sie zu Boden fallen konnte. Keuchend hing sie in seinem Arm und versuchte wieder selbst zu stehen. Sie hörte ihn schmunzeln. »Vielleicht doch besser eine Krücke?« Dieses Mal zwang sie ihn auszuweichen, als sie so schnell sie konnte nach ihm schlug. Ohne zu zielen. Einfach nur, um irgendetwas zu treffen, ihn in irgendeiner Weise zu überraschen. Es hätte vermutlich nicht einmal wehgetan, aber er sah leider sogar das voraus. Frustriert machte sie sich gerade und suchte Halt bei der nächsten Wand.

Wortlos legte er ihr den Stock in die Hand und darin fand sie nicht nur eine Stütze, sondern auch ein wenig Mut. »Dir ist klar, dass du eines Tages dafür bezahlen wirst, meine körperliche Verfassung ausgenutzt zu haben?«, versuchte sie ein Grinsen und zog ihre Kapuze wieder zurecht, während sie selbst versuchte, zu ignorieren, wie sehr sie den Stock brauchte, auf den sie sich stützte.

Ein leises Lachen war die Antwort. So melodisch wie seine Stimme und doch beinahe lautlos. Er verlor seine ruhige Überlegenheit nicht einmal, wenn er lachte, auch das hatte sich also nicht geändert. Es brachte sie zähneknirschend zum Schmunzeln. Einmal mehr wünschte sie zu wissen, wo er plötzlich hergekommen war, damals, und wie oft er in den Dreck geworfen worden war, von jemandem, der besser war als er, bevor er so gut geworden war. Denn Vica wusste zwar, dass die Menschen sagten, er sei ein Dämon, der eines Tages aus der Unterwelt gestiegen sei, den Göttervater Zylon verhöhnt hätte und ohne das Laster der Menschlichkeit alles, was er anrührte, in boshafter Perfektion zu Ende bringen konnte. Aber sie war sich sicher, dass Machairi erstens ein Mensch und zweitens sehr wohl fehlbar war. »Komm«, antwortete er auf ihre Drohung und dann hörte sie die Tür und folgte ihm kopfschüttelnd, den Stab als Hilfe benutzend, um nicht gegen eine Wand zu laufen. Ja, er hatte sie gedemütigt und ihr nur allzu deutlich ihre Grenzen aufgezeigt, aber er hatte ihr im Gegenzug etwas in Erinnerung gerufen, was sie fast vergessen hatte: ihre Stärke – und das war viel mehr wert.

Pyria

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