Читать книгу Pyria - Elin Bedelis - Страница 5
ОглавлениеVica
Die Nacht hatte ihr dunkles Tuch über den Bienenstock geworfen. Manchmal kam es Gwyn vor, als würde es hier schneller dunkel als in der eigentlichen Stadt. Er dehnte die Finger der bandagierten Hand und tänzelte über die Dächer des Bienenstocks. Das war nach Einbruch der Dunkelheit in diesem entlegenen Teil der Insel sicherer, als die Straßen zu nehmen. Die weiße Binde an seiner Hand und auch seine limitierten Kampfkünste würden ihn zwar vor einigem beschützen, aber unbegrenzt war die Anzahl derer, gegen die er stehen konnte, nicht. Nur vereinzelte Kerzen waren in den windschiefen Hütten entzündet und er war froh, dass er sich gut genug auskannte, um ohne Licht zu wissen, welche Dächer ihn tragen würden und welche er besser meiden musste. Stille lag über den dunklen Gassen und in den Häusern, nur ab und an von einem Rascheln oder verstohlenen Schritten durchbrochen.
Bevor er die letzten Häuser an der Umzäunung erreichte, hörte er bereits das Meer und roch das Salz in der Luft. Es überdeckte den Gestank der dreckigen Straßen und er nahm einen tiefen Atemzug, bevor er flink über die Palisade kletterte. Es war nie gut, am zweiten Zugang zum Bienenstock gesehen zu werden. Der einzige Ort, den man durch dieses Tor erreichen konnte, war die Irreninsel. Niemand wollte etwas mit den Bewohnern des kleinen Landflecks im endlosen Wasser zu tun haben. Parastrati. Parasiten. Gwyn erschauderte. Jene, die selbst im Bienenstock ausgeschlossen und ob ihrer Andersartigkeit gefürchtet wurden, suchten dort Zuflucht oder wurden dorthin geschickt. Manche hatten Fähigkeiten, die sie nicht haben sollten, andere waren gefährlich oder hatten den Verstand verloren. Blöd für Gwyn, dass Machairi selbst dort Kontakte hatte und dass es an ihm hängen geblieben war, hinüberzugehen. Selbst schuld, wenn du die einzige Person bist, die noch einigermaßen vertrauenswürdig ist, Gwyn, schalt er sich selbst in Gedanken. Er seufzte und ließ sich auf den matschigen Streifen zwischen Zaun und Meer fallen. Er geriet auf dem rutschigen Untergrund ins Straucheln, fing sich aber ab, bevor er ins schwarze Wasser fallen konnte. Er hasste Wasser. Er hasste auch Schiffe. Keine guten Voraussetzungen, wenn man auf einer Insel vor einer Hafenstadt wohnte. Bisher hatte er es jedoch geschafft, nicht zu ertrinken.
Jeder Schritt machte ein ohrenbetäubendes Schmatzgeräusch, aber er konnte es nicht verhindern. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand so genau lauschte, war ohnehin gering, aber man konnte nicht vorsichtig genug sein, wenn man sich hier herumtrieb. Möglichst leise erreichte er den Durchbruch in dem Holzbollwerk. Jetzt im Dunkel war das Seil kaum zu erkennen, das die beiden Inseln verband. Ein kleines Bötchen konnte daran hin und her gezogen werden, damit es nicht vom Kurs abkam. Eine Brücke gab es nicht. Der simple Grund dafür war, dass man nicht wollte, dass mehr als zwei Personen gleichzeitig die Irreninsel betreten oder verlassen konnten. Meistens schickte man das Bötchen sogar ganz ohne Passagier hinüber, um wenigstens kleine Portionen Nahrung zu den Ausgestoßenen zu schaffen.
Gwyn spähte einmal in die Straßen des Bienenstocks, entdeckte niemanden und begann, das Boot zu sich zu ziehen. Das Seil war nass in seinen Händen und an manchen Stellen von Algen befallen, die es glitschig und schwer festzuhalten machten. Zusätzlich war nur der Schein des Mondlichts als Lichtquelle über ihm und er konnte nicht sehen, wie nah das Boot ihm überhaupt war. Erneut warf er einen Blick über die Schulter, bevor er eine Hand vom Seil löste und eine kleine helle Flamme darin entzündete. Ihr Schein beruhigte ihn ungemein. Er war immer angespannt, wenn er draußen unterwegs war, gerade bei Nacht, aber heute war es schlimmer als sonst. Umso schöner war es, den warmen Schein des Feuers auf dem Gesicht zu spüren und die leichte Wärme über seine Haut streichen zu fühlen. So gewaltsam es auch sein konnte – im Feuer lag für ihn immer ein Frieden, den er nirgendwo sonst finden konnte. In seinem Schein konnte er auch die Silhouette des Bootes erkennen, das wackelig auf ihn zuglitt. Er erschauderte jetzt schon.
Trotzdem fasste er nach dem rauen Holz und zog das Boot in den Küstenschlamm. Noch einmal warf er einen Blick zurück und er ließ die Flamme schrumpfen, bis sie nur noch auf seiner Fingerkuppe tanzte. Alles in ihm wollte sich dagegen wehren, ganz vom Feuer abzulassen. Die seichten Wellen schlugen gegen den Rumpf des Bötchens und es hätte fast friedlich sein können, wäre das Boot nicht so klein gewesen, dass es aussah, als könnte es mit Leichtigkeit umgeworfen werden. Reiß dich zusammen, dachte er. Davon, dass du hier stehst und dir fast in die Hose machst, bist du auch nicht schneller drüben. Tief holte er Luft und schluckte die aufkommende Panik so gut es ging herunter. Bei Sulli, wenn ich hier lebend rauskomme, kann Reed sagen, was er will ... nie wieder. Er glaubte sich selbst nicht. Wenn Machairi ihn auf die Irreninsel schickte, ging er auf die Irreninsel. Mit vorsichtigen Bewegungen ließ er sich in das viel zu wackelige Boot sinken. Im Sitzen war es immerhin möglich, das Boot auszubalancieren. Wieder dehnte er die Finger der bandagierten Hand, bevor er nach dem Seil griff, um sich auf die andere Seite zu ziehen. Zu seinem Leidwesen musste er nun von der Flamme lassen und es war auch nichts in Sicht, was er gefahrlos als Fackel hätte verwenden können. Wohl oder übel würde das Mondlicht also ausreichen müssen.
Der Weg war viel zu lang für Gwyns Geschmack. Außerdem saß er ziemlich auf dem Präsentierteller, insofern war es vielleicht gut, dass er von dem Feuer gelassen hatte. Das Bötchen schaukelte gefährlich und Gwyn musste einiges an Selbstbeherrschung aufbringen, um sein dürftiges Abendessen bei sich zu behalten. Es war eine echte Herausforderung, weder ins Wasser zu fallen noch sich zu übergeben und sich dennoch weiter nach vorne zu ziehen, ohne das Boot zum Kentern zu bringen. Darüber merkte er kaum, wie sehr er zu schwitzen begonnen hatte. Es war nicht zu leugnen: Menschlich war er für diese Aufgabe bestens geeignet. Doch er kannte niemandem, dem diese Odyssee auf dem brackigen Wasser mehr Angst gemacht hätte als ihm. Zusätzlich glaubte er die ganze Zeit ein Kribbeln im Nacken zu spüren, ganz als würde er beobachtet. Immer wieder sagte er sich, dass seine Anspannung ihn paranoid gemacht hatte. Wie hätte irgendjemand ihn sehen sollen? Selbst ein Tier mit hervorragender Nachtsicht hätte ihn vom Ufer aus vermutlich nicht sehen können. Seltsam war nur, dass niemand den Durchgang bewacht hatte.
Langsam kam der dunkle Umriss der kleinen Insel näher. Gwyns Arme zitterten von der Anstrengung und Algen klebten am Stoff der Bandage. Als das kleine Boot schmatzend im Schlamm andockte, versuchte er, schnellstmöglich auszusteigen, vorzugsweise ohne noch auf dem letzten Meter ins Wasser zu fallen. Vorsichtig arbeitete er sich in der Hocke nach vorne. Das Bötchen schaukelte übelkeitserregend. Wieder einmal verfluchte er den Schatten in Gedanken. Andererseits war er froh um seine Position. Gwyn war nicht geeignet, zu den Schatten zu gehören. Er war klein, ein bestenfalls passabler Kämpfer und nicht hemmungslos genug, um einen blutigen Streit anzufangen. Sein schlechtes Gewissen hatte ihm schon einmal zu oft im Weg gestanden, wenn Entschlossenheit gefordert gewesen wäre. Allerdings war er mit einem guten Gleichgewichtssinn gesegnet und weil er so klein war, konnte er klettern und einfachere Artistentricks vollführen. Das waren keine Talente, von denen er geglaubt hatte, Machairi könnte sie gebrauchen. Eigentlich war er als Gaukler in die Stadt gekommen, der seine außergewöhnliche magische Begabung hinter scheinbaren Tricks versteckte, wenn er auf einem Marktplatz ein Spektakel für die Schaulustigen veranstaltete und hatte den Weg nach Hareth antreten wollen, um sich in Sicherheit zu bringen, sobald er die Drawken dafür aufbringen konnte. Doch dann war er Machairi begegnet und alles war anders gekommen.
Vorsichtig schob er ein Bein aus dem Boot und suchte Halt am Ufer, bevor er sich ganz aus dem Bötchen zog. Es schaukelte so sehr unter ihm, dass es sich aus dem Schlamm löste und ein Stück forttrieb. Gwyn machte ein paar Schritte weg vom Wasser. Er konnte die verfluchte Schüssel wieder herziehen, wenn er sich auf den Rückweg machen musste. Er schnippte mit den Fingern und eine helle Flamme tanzte auf seinem Daumen. Jetzt konnte es ihm egal sein, ob jemand seine wahren Fähigkeiten erkannte. Erstens war er hier nicht der Einzige mit seltenen Fähigkeiten und zweitens war fraglich, ob irgendjemand einem Parastrati Glauben schenken würde, falls sie die Insel je verlassen sollten.
Im Schein der Flamme erkannte er Bäume und eine matschige Wiese. Dies war vielleicht der einzige Ort in der Stadt, abgesehen von den Gärten hinter den Schlossmauern, an dem noch Bäume standen. Die Insel war so klein, dass man sie sicherlich problemlos innerhalb von einigen Minuten umrunden konnte. Vorsichtig ging er weiter in die Mitte, den leichten Hang hinauf und fand nicht zum ersten Mal, dass sich der Boden irgendwie lebendig anfühlte. Vielleicht lag es am Gras der Wiese oder am schlammigen Untergrund als solchem. Dann erkannte er in seinem kleinen Licht die ersten Behausungen. Anders konnte er die provisorischen Unterschlüpfe nicht nennen: Sie waren aus allem gebaut, was sich finden ließ: Treibholz, Wrackteile, Lumpen und allerlei Geröll. Außerdem lag ein unangenehmer Gestank nach ungewaschenen Körpern, modrigem Holz und Verwesung in der Luft. Gwyn rümpfte die Nase und setzte seinen Weg hastig fort. Besuch war hier selten. Ab und an verirrte sich eine verzweifelte Seele hierher, die keinen anderen Ausweg mehr sah, als die außergewöhnlichen Fähigkeiten der Parastrati in Anspruch zu nehmen oder sich gar zu ihnen zu gesellen. Sie brachten kein Geld mit, sondern Kleider, Holz und Essen, alles, was die verlorenen Bewohner etwas länger am Leben hielt.
Mit jedem Augenblick fühlte er sich etwas unwohler hier. Wenn er entdeckt würde, könnte er auch hier landen. Oder aber in der Akademie oben in der Stadt, je nachdem, wem er in die Hände fiel. Unter ständiger Beobachtung der Krone lebten die Magier des Landes in der gewaltigen Magierakademie, einem glorifizierten Gefängnis, in dem sich Magier aller Art finden ließen. Katára, nannten die normalen Menschen in Cecilia jeden mit Magie. Verfluchte. Wären ihre Fähigkeiten nicht so furchtbar nützlich gewesen, im Falle eines Krieges oder für die speziellen Belange des Königs, hätte man sie vermutlich getötet. So hielt man sie in der Akademie wie in einem Käfig. Dass es zu einer Rebellion kommen könnte, schien niemanden zu kümmern und Gwyn hatte sich nie damit beschäftigt, wieso. Wenn er auf irgendwelchen unglücklichen Wegen eines Tages dort landen mochte, würde er es früh genug erfahren.
Möglicherweise war es besser, als hier zu enden. Endlich hatte er die Hütte erreicht, die er gesucht hatte. Sie war ebenso zusammengeschustert wie die anderen, aber immerhin sah sie aus, als könnte man darin genügend Schutz finden. War das dort etwa eine alte Tür, die als Teil der Wand eingebaut war? Vorsichtig klopfte er an das Holz neben dem Lumpen, der über dem eigentlichen Eingang hing, auch wenn er fast befürchtete, das alte Ruder, das als Teil der Wand verbaut war, könnte unter seiner Berührung aus der Wand fallen. »Wer da?«, verlangte eine raue Stimme zu wissen. Man hörte ihr an, dass sie selten benutzt wurde.
»Ich bin›s. Gwyn.« Unsicher sah er über die Schulter. »Darf ich reinkommen?«, fragte er durch den Stoff. Ein Schnauben war die Antwort und er nahm sich die Freiheit.
»Wo auch immer er jetzt schon wieder einbrechen möchte – meine Antwort ist Nein!«, begrüßte ihn das Mädchen, das in einen dunkelgrauen Umhang und unzählige einstmals bunte Stofffetzen gehüllt auf dem Boden saß und mit blanken Augen in seine Richtung starrte. Ihre weißen Haare waren verfilzt und hingen ihr unter der Kapuze hervor und in die blinden Augen, was sie offenbar nicht störte.
Seufzend ließ er sich neben sie auf eine Matte sinken, die die Feuchte des Bodens unter ihr nur bedingt fernhalten konnte. Es gab außerdem einen beinlosen Tisch, auf dem ein Bogen feuchten Pergaments lag und ein paar Vorräte. Ob sie wusste, dass das meiste davon schimmelig war? Er schüttelte sich. »Und wir wissen beide, dass du nicht dabei bleiben wirst«, erinnerte er sie und betrachtete sie, ohne sein Mitleid herunterschlucken zu können. Jedes Mal, wenn er hier war, tat sie ihm leid. Aber sie hatte dieses Leben gewählt, egal, was Reed ihr geboten hatte.
»Schau mich nicht so an, Gwydion«, fauchte sie und ihre Finger strichen über das Fell eines kleinen wieselähnlichen Tieres, das in ihrem Schoß saß und Gwyn mit seinen kleinen Knopfaugen musterte. »Er soll mich endlich in Ruhe lassen!«
Gwyn seufzte und sah sie trotzdem weiter an. »Er wird mich noch einmal herschicken, wenn ich ohne dich wiederkomme.« Er erschauerte bei der Vorstellung. »Erspar mir das bitte.«
Sie zuckte etwas zusammen. »Ich gehe nicht weg. Das weiß er auch.« Sie schob trotzig das Kinn vor. »Wenn du deshalb hier bist, kannst du gehen und auch nicht mehr wiederkommen.« Ihre Finger zitterten im bauschigen Fell des Tierchens und es fauchte Gwyn an.
»Wenn Reed beschlossen hat ...«
»Nenn ihn nicht so, als wäre er ein Mensch«, fauchte sie. »Das ist lächerlich.«
Gwyn seufzte. »Vica ... wir werden auf dich aufpassen«, versprach er und lächelte beruhigend. »Und eigentlich bin ich mir ziemlich sicher, dass er ein Mensch ist.« Das entsprach der Wahrheit. Er kannte die Gerüchte, die davon erzählten, dass Machairi ein Dämon und mehr eine Kreatur der Unterwelt als ein Mensch sei. Nie hatte er ihnen Bedeutung beigemessen. Er mochte gut darin sein, es zu verbergen, aber Machairi fühlte und blutete wie jeder andere auch. Irgendetwas war nicht normal an dem Schatten, aber irgendwas war an ihnen allen nicht normal, das machte sie nicht zu Fabelwesen oder Geschöpfen der Unterwelt.
Vicas Lippen bebten leicht und sie schüttelte den Kopf. »Ich habe mir geschworen, nie in diese Scheiße zurückzukehren.« Sie kauerte sich weiter zusammen unter dem dunklen Mantel, der das Einzige zu sein schien, das gut gepflegt war an ihr. Er hatte zwar deutliche Benutzungsspuren, aber er war noch immer fast ohne Löcher und sie konnte sich darunter verstecken.
»Und hier ist es besser?«, fragte Gwyn. »Mitten im Schlamm, umgeben von Mist und Geröll, ohne ein richtiges Dach und mit verschimmelten Vorräten?« Er fasste vorsichtig nach ihrem Arm, auch wenn er darauf vorbereitet war, dass sie ihn fortschlagen würde. Stattdessen grub das Wiesel seine Zähne in seine Hand. Hastig zog er die Hand zurück, als sich die nadelspitzen Fänge in seine Haut schlugen. »AU!«
Vica schmunzelte freudlos. »Schon gut, Puki«, flüsterte sie und ihre Finger fuhren über den kleinen Kopf. »Hier muss ich mich jedenfalls nicht jeden Tag vor den anderen verstecken. In dieser Stadt ist kein Platz für mich«, sagte sie dann, während Gwyn sich über die kleinen Löcher in seinem linken Handrücken fuhr. Warum konnte er nicht dort die nervtötende Bandage tragen?
»Er will eine Reise unternehmen. Wir sind also gar nicht lange in der Stadt«, murmelte Gwyn und betete innerlich, dass sie nicht per Schiff reisen würden. Er wusste, dass seine Hoffnung töricht war. »Und es gibt keine Bessere für den Job.«
Sie stöhnte. »Er wird mich nicht in Ruhe lassen, bis ich Ja sage, oder?« Freudlos schüttelte sie den Kopf. »Du brauchst gar nicht so erleichtert zu grinsen!«, tadelte sie ihn und er fragte sich nicht zum ersten Mal, wie sie immer zu wissen schien, was er tat.
»Wir werden gut auf dich aufpassen«, versicherte er ihr noch einmal und verkniff sich gehorsam ein Grinsen.
»Ich hasse ihn«, knurrte sie. »Und dich auch, Gwydion. Er weiß genau, dass ich viel zu viel Mitleid mit dir hab, um dir irgendetwas auszuschlagen.« Ärgerlich verschränkte sie die Arme und das Pelztier verschwand unter ihren Mantel.
»Mitleid?!« Er lachte. Das war typisch für sie. Sie lebte im Dreck hier und er wollte sie am liebsten persönlich retten und dann behauptete sie, dass sie Mitleid mit ihm hatte. »Ich bin nicht zu bemitleiden.«
»Deshalb bist du auch weißer als die bescheuerte Binde an deiner Hand.« Sie schmunzelte. »Eines Tages kotzt du mir hier in die Hütte, wenn er dich hierher zwingt.«
Ungläubig schüttelte er den Kopf. »Stimmt doch gar nicht.« Prüfend musterte er sie. »Woher willst du das eigentlich wissen?«
»Ich bin nicht blind!«
Seine Mundwinkel zitterten bei dem verzweifelten Versuch, nicht laut zu lachen. »Nicht?«, prustete er erfolglos.
»Doch«, presste sie durch die Zähne. »Aber Puki nicht - und du bist ein offenes Buch ... dafür braucht man keine Augen«, warf sie hinterher.
Gwyn wusste nicht, ob sie ihm unheimlich war, oder ob ihre Fähigkeiten einfach beeindruckend waren. Sie konnte in den Geist eines Tieres eindringen. Sie kamen zu ihr und fanden sie, wo immer sie war, und durch ihre Augen konnte sie sehen. Deshalb gab es niemanden, der besser geeignet gewesen wäre, um Gebiete, Häuser oder bestimmte Details auszukundschaften. Nur deshalb hielt Reed an ihr fest, ließ sie nicht in Ruhe und sorgte dafür, dass sie nicht verhungerte. Im Gegenzug hatte sie ihm schon mehr als einmal den Weg in ein Herrenhaus geebnet, indem sie Pläne anfertigte oder Eingänge für sie fand, oder Gespräche belauschte. Wie weit ihre Fähigkeiten reichten, wusste Gwyn dagegen nicht. Er hatte schon mehr als einmal das Gefühl gehabt, dass sie auch in seinen Geist eindrang, und das erfüllte ihn widerwillig mit Angst. Das war auch der Grund, dass er nicht von der Flamme auf seinem Daumen lassen konnte. Sie gab ihm etwas Ruhe und er hatte die Befürchtung, dass Vica auch das wusste. Er schluckte und kam zurück zum Wesentlichen, um sich nicht dazu äußern zu müssen. »Dann gehen wir?« Er stand auf.
»Ich werde es bereuen«, murrte sie und ihre Hände suchten nach etwas. »Ich will schon umkehren und wir sind noch nicht mal draußen!«
»Ich passe auf dich auf«, versicherte er zum dritten Mal, sprang auf die Füße und ließ etwas widerwillig von der Flamme, um ihr die Hand entgegenzustrecken. Sie ignorierte es. Natürlich. Sie konnte es nicht sehen! »Komm.« Vorsichtig griff er nach ihrem Arm, um ihr auf die Beine zu helfen und dieses Mal wurde er nicht gebissen.
Sie zuckte etwas zusammen unter seiner Berührung, ließ sich dann aber helfen. Ihre Hände fuhren zu ihm und sie hielt sich an ihm fest. Sie war beunruhigend wackelig auf den Beinen. »Pack das Pergament ein!«, wies sie ihn an. »Und die Feder und irgendwo ist dieser verdammte Stock.«
Er seufzte und packte ihre wenigen Schreibsachen ein, verkniff sich aber den Kommentar, dass er ihr wesentlich bessere besorgen konnte. Der Stock lag in einer Ecke und als er danach griff, brach er schon davon fast durch, so sehr war er verfault. »Ich fürchte, den Stock kannst du vergessen.« Er seufzte. »Der wird dir nicht helfen.« Er drehte sich wieder zu ihr und sie schwankte im Stehen. Wie lange war es her, dass sie das letzte Mal aufgestanden war? Ob er sie tragen sollte? Würde sie das überhaupt zulassen ... würde er das schaffen? Sie war mager und sicherlich leicht, aber sie war auch etwas größer als er und definitiv stolz. »Ich besorge dir heute noch einen neuen, einverstanden?«
Sie seufzte und nickte. Ihre milchigen Augen schimmerten und er glaubte, Angst darin zu sehen. Vorsichtig legte er einen Arm um sie und nahm ihre rechte Hand in seine Rechte, um sie führen zu können. Vica schnaubte ärgerlich, aber sie lehnte seine Hilfe nicht ab. Kaum standen sie draußen, spannte er sich wieder stärker an. Vor allem, weil er nun kein Feuer rufen und sich so nicht schnell genug verteidigen konnte. »Wie hat jemand, der so viel Angst im Dunkeln hat, in direkter Nähe des tödlichsten Schattens im Bienenstock überlebt?«, neckte sie ihn, ohne die Stimme zu senken und brachte ihn nur dazu, sich noch mehr anzuspannen.
»Ich fürchte die Dunkelheit nicht«, raunte er zurück und musste seine Beine davon abhalten, die Schritte zu beschleunigen. Das stimmte eigentlich sogar, aber nur weil er wusste, dass er sie jederzeit vertreiben konnte, mit heißem, flammendem Licht. »Ich hasse es nur, beobachtet zu werden.« Sein Blick zuckte zu den anderen Verschlägen und er blickte unverhofft direkt in ein paar dunkle Augen und erschauderte.
»Natürlich. Kannst du dann aufhören, meine Hand zu zerquetschen?«, fragte sie wieder in normaler Lautstärke und Gwyn hätte ihr am liebsten den Mund zugehalten, während der Boden unter ihnen immer matschiger wurde.
Möglichst unmerklich schluckte er und ließ seine Hand etwas lockerer, denn er hielt Vicas schmale Finger tatsächlich viel fester, als nötig gewesen wäre. Sie schafften es an den Verschlägen vorbei bis zu dem Pfahl, an dem das Seil an diesem Ufer befestigt war. Vorsichtig brachte er Vica zu dem nächsten Baum, damit sie daran Halt finden konnte, ohne sich in den Dreck setzen zu müssen. »Ich hole das Boot ran«, raunte er und seine Stimme war so rau, dass er vor sich selbst zurückzuckte. Er klang definitiv, als hätte er Angst. Das schlechte Gefühl, das ihm schon den ganzen Abend folgte, hatte einen Höhepunkt erreicht und das schlug sich offenbar in einer ganzen Flut körperlicher Einflüsse nieder. Sein Herz raste, seine Hände waren schwitzig und wenn er jetzt noch anfing, zu zittern, würde er sich ohrfeigen müssen. Selbst das Feuer beruhigte ihn nicht so, wie es das normalerweise tat.
An der Stelle des Pfahls, an der das Seil entlanglief, war er abgenutzt und blanker als der Rest, aber immerhin wirkte er noch einigermaßen stabil. Mit wenigen Zügen konnte er das kleine Boot wieder zu sich heranziehen. Es würde arg eng werden, wenn sie sich zu zweit in die kleine Nussschale quetschen mussten. Das Ding war nicht dafür konzipiert, mehr als eine verlorene Seele gleichzeitig zwischen den beiden Inseln zu bewegen, aber er würde sich weder darauf verlassen, dass Vica hier einstieg, wenn er zuerst ging, noch darauf bauen, dass sie auf der anderen Seite auf ihn wartete.
»Sie werden mich ohnehin nicht in den Bienenstock lassen«, bemerkte Vica von ihrem Baum aus. Ihre Finger hatten sich in die Rinde gegraben und ihr leerer Blick richtete sich auf das plätschernde Wasser.
»Der Durchgang ist nicht mal bewacht. Das wird schon kein Problem sein.« Gwyn verkniff sich einen Kommentar über ihre Angst, auch wenn sie ihn umgekehrt ganz sicher bitterböse aufgezogen hätte.
»Dann sollten wir erst recht nicht aufs Wasser. Jemand ahnt etwas.“ Sie unterdrückte sichtlich ein Zittern. »Du kannst dich gerne allein ins Verderben …«
»Vica, ich werde mich nicht auf diesem Schlammhaufen vergraben«, fiel er ihr ins Wort. Der Feuerspucker war sicher die letzte Person, die darauf brannte, in ein wenig seetaugliches Boot zu steigen und er musste zustimmen, dass ein unbewachter Durchgang verdächtig war, aber er wusste auch um seine Situation. »Reed dreht uns beiden den Hals um, wenn wir nicht zurückkommen.« Er wollte dem Messerdämon ganz sicher nicht erklären, warum er darauf gewartet hatte, abgeholt oder sonst wie bemuttert zu werden.
»Nenn ihn nicht so!« Die Blinde fauchte wie eine wütende Katze und das Wiesel auf ihrer Schulter keckerte vorwurfsvoll in Gwyns Richtung.
Ärger durchflutete ihn, als sie sich an den falschen Details aufhielt. »Was für einen Namen möchte die Dame denn verwenden?«, schnaubte er, während er das Boot möglichst fest in den Schlamm zog.
»Einen, der zumindest an seinen Namen angelehnt ist?«, schlug sie vor und sah ihn herausfordernd an, ohne dass ihre Augen seine treffen konnten.
»Kennst du seinen Namen?«, fragte er ungläubig und vergaß für einen Moment seine Anspannung. Nur Neugierde blieb und ein kleiner Stich der Eifersucht. Er hatte immer geglaubt, nein, gehofft, dass er Machairis Vertrauen hatte – soweit das eben ging. Vielleicht hatte er Vica mehr vertraut.
Vica verdrehte die blinden Augen und strich mit den Fingerspitzen über Pukis Kopf. Sie genoss seine Neugierde und ihre Gelegenheit, ihn zappeln zu lassen. »Nein«, sagte sie dann und er hätte sie schon wieder erwürgen können.
»Dein Vorschlag ist dann also was?«, fragte er und versuchte, sich davon abzuhalten, sie zu schütteln. Damit kam auch seine Anspannung zurück. »Können wir das im Boot klären?«
»Wenigstens Machairi ist doch mehr oder weniger offiziell«, sagte sie, ohne auf seinen zweiten Satz einzugehen.
»Gut, meinetwegen, können wir dann bitte los?«, fuhr er sie an.
»Nein, das ist zu lang.« Sie seufzte und hob Puki von ihrer Schulter, um ihn zu streicheln. »Eine Kurzform davon wäre nett.«
Gwyn atmete tief durch. »Okay ... wie wäre es mit ... ähm ...« Es war nicht, als wäre ihm der Gedanke nie gekommen. Aber Machi oder Airi oder Ähnliches war zu lächerlich und außerdem hatte Gwyn keine Lust, die neue Zielscheibe für seine Messer zu werden, weil er ihm auf die Nerven ging.
»M ist doch gut«, fehlinterpretierte sie sein ähm. »Lässt viele Fragen offen und passt irgendwie, findest du nicht?« Sie sah zufrieden aus. Vielleicht hatte sie ihn endlich genug in den Wahnsinn getrieben.
Gwyn warf die Hände in die Luft. »Meinetwegen. Dann lass uns gehen, bevor M uns die Haut abzieht oder wir im Schlamm versinken«, schlug er so gefasst vor, wie er konnte, und brachte hastig die Flammen auf seiner Hand wieder unter Kontrolle, die seine Geste als Einladung zu wachsen verstanden hatten. Manchmal war das Feuer wie ein verspieltes Tier, manchmal war es ein störrischer Esel und manchmal war es eine unkontrollierbare Naturgewalt.
Vica presste die blassen Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und knibbelte an der Baumrinde. »Das klingt noch immer wie eine Scheißidee.«
»Dann denk nicht so viel darüber nach.« Das war, was er versuchte. Kurzentschlossen ging er auf sie zu, griff nach ihrem Ellenbogen und führte sie das letzte Stück die rutschige Böschung hinab neben das Boot. Gwyn gab sich große Mühe, sich nur auf die Notwendigkeit dieser Überfahrt zu konzentrieren, damit er gar nicht erst anfangen konnte über die Dinge nachzudenken, die schiefgehen konnten. Er konnte Vicas Unbehagen in jeder Hinsicht verstehen, aber hier zu bleiben war keine Option. Weil er einsah, dass er nicht erwarten konnte, dass sie selbst hineinklettern konnte, ließ er bedauernd von dem Feuer und hob sie eigenhändig hinein. Dafür musste er sogar einen Schritt ins Wasser treten. Dabei stellte er zu seinem Entsetzen fest, dass der schlammige Boden jenseits der Wasserkante sehr steil abfiel und so stand er schon nach einem Schnitt mehr als knietief im Wasser. Es drang ihm in die ausgetretenen Schuhe und machte seine Kleider schwer. Er hasste es so sehr!
So schnell er konnte, rettete Gwyn sich selbst in das Boot, das unter ihrem gemeinsamen Gewicht bedenklich tief einsank. Wären sie beide normal groß und normal schwer gewesen, wäre sicher Wasser ins Boot gelaufen, aber eine magere Vica und ein kleiner Gwyn konnten darinsitzen, wenn sie nicht allzu sehr schaukelten.
»Du bist schuld, wenn wir ertrinken.« Vica setzte das kleine Wiesel in ihren Schoß und vergrub die bebenden Finger im weichen Fell. Es schmiegte den kleinen Kopf an ihre Finger und schien als einziger unbesorgt.
Gwyn hingegen blieb eine Antwort im Hals stecken. Sein Herz hatte schon bei dem Wort „ertrinken“ einen Schlag ausgesetzt und eine schwer im Zaum zu haltende Angst schnürte ihm die Luft ab. Er sehnte sich nach einem wärmenden, hellen Feuer, anstatt im kalten Mondlicht auf dem noch viel kälteren Wasser zu hocken. Wie beruhigend es gewesen wäre, sich vom knisternden Licht die Angst nehmen zu lassen. Obwohl seine Hände vor Anspannung bebten, griff Gwyn nach dem schmierigen Seil und begann zu ziehen. Nur Machairi konnte ihn dazu bringen, derart widerspruchslos an seine Grenzen zu gehen.
Verbissen starrte er auf das Seil, schwitzend unter der Anstrengung und richtete seine Gedanken auf etwas anderes als das tödliche Meer unter ihm oder die Tatsache, dass er nicht einmal Schwimmen konnte. Er dachte an die ersten Tage zurück, die er mit dem Schatten verbracht hatte. Natürlich hatte er die Geschichten gehört und wie jeder andere hatte er mit Neugierde, Angst und Bewunderung über den Messerdämon gedacht und war vor Furcht fast wahnsinnig geworden, als er den Mann erkannt hatte, der vor ihm in der dunklen Gasse erschienen war, in der er sich versteckt hatte. Doch der Messerdämon hatte ihm geholfen, anstatt ihn zu verletzen und im Gegenzug hatte Gwyn sein Feuer bereitgestellt. Er war in die Stadt gekommen, um eine Passage nach Hareth zu finden, die Zhaki dort zu suchen und ein neues Leben anzufangen – weit fort von den weiten Feldern seiner Eltern und den lauernden Gefahren in Cecilia. Das Schiff hatte er nie erreicht. Zu sehr hatten das bunte Treiben der Stadt, ihr Lärm und ihre gewaltige Größe ihn in ihren Bann gezogen und er hatte sich nicht von der Faszination und dem Abenteuer lösen können, die Machairis Gegenwart brachten.
Gwyn sah auf, als Vica sich regte. »Kehr um, Gwydion«, murmelte sie, erschaudernd in der Kälte. »Sonst sag ich einem Fisch, dass er das elende Seil durchkauen soll, sodass du nur noch in eine Richtung ziehen kannst«, drohte sie mit festerer Stimme.
Doch Gwyns Nerven waren zu angespannt, um sich von ihrer Drohung beeindrucken zu lassen. Sie würde das Risiko ohnehin nicht eingehen. Verbissen zog er weiter, keuchend, die Hände nass und aufgerieben vom Scheuern des Seils. »Warum sagst du das immer? Andere Leute sagen auch Gwyn«, keuchte er stattdessen, weil es ihm jedes Mal unangenehm auffiel und er sie beide ablenken wollte.
»Das ist aber nun einmal dein Name, Gwydion«, erinnerte sie ihn und ihre leeren Augen glänzten gespenstig im Mondlicht.
Der Feuerspucker erschauderte und zog das Boot energisch eine weitere Armlänge nach vorne. »Was soll das denn heute mit den Namen?! Als würde es irgendeinen Unterschied machen!« Die Mädchen maßen der Namen-Sache heute eindeutig zu viel Bedeutung bei! Natürlich hatte er auch wissen wollen, wie der Messerdämon tatsächlich hieß, aber das war nicht zu vergleichen mit Gwyns präferiertem Spitznamen – das war wenigstens sein echter Name.
»Natürlich macht es das. Deshalb will ich auch Ms Namen wissen. Alles, was einen Namen trägt, kann getötet werden. Ein Spitzname oder Pseudonym sind nichts als ein Phantom. Einen Schatten kann man nicht töten. Hättest du dich mit Flüchen beschäftigt, wüsstest du das.« Sie traktierte ihn und ein geradezu wahnsinniges Grinsen verzog ihr Gesicht. Gwyn überlief ein Schauer. Falls das ihre Art war, mit Stress umzugehen, konnte er nur hoffen, dass sie nicht häufig gestresst sein würde.
Erst wollte er sagen, dass er glaubte, dass man Machairi durchaus töten konnte, ohne seinen Namen zu kennen, aber dann war er sich nicht mehr sicher, ob überhaupt irgendetwas diesen Mann töten konnte – Name hin oder her. Stattdessen sagte er: »Wenn du den richtigen Namen benutzen können willst, um jemanden zu töten ... kannst du es dann bitte einmal mehr bei Gwyn belassen? Ich mag mein Leben!« Er schnaufte unter der Anstrengung, aber er warf ihr trotzdem einen skeptischen Blick zu. Hier in der Dunkelheit, einsam auf dem Wasser, während ihre weißen Haare und ihre leeren Augen unter der Kapuze hervor im Mondlicht glänzten, war sie auch ohne Todesdrohungen schon gruselig genug. Wie weit konnte es denn noch sein? Kamen die fernen Lichter des Bienenstocks überhaupt näher?
Sie antwortete ihm lange nicht, richtete ihren leeren Blick auf das Wasser und schwieg, dann sagte sie: »Wenn dem so wäre, säßen wir jetzt nicht in dieser Todesschale.«
Ihre Worte hinterließen eine unbehagliche Gänsehaut auf Gwyns braunen Armen und er zog sie energischer voran.