Читать книгу Pyria - Elin Bedelis - Страница 9
ОглавлениеEin Messer und eine Seele
Irgendwie hatte Leén das Bad wiedergefunden. Zwar war sie ziemlich sicher, dass sie einen Umweg gelaufen war – genauso wie Vica, die das lautstark verkündete – aber sie hatte es gefunden. Dann hatte sie wie Gwyn vor der Tür gewartet, während das Wiesel in die Dunkelheit der Gänge verschwand und seinem eigenen Werk nachging. Zunächst war sie froh über die Ruhe gewesen, um sich von dem Überfall zu erholen. Als es allerdings schrecklich lange gedauert hatte, hatte sie sich zusammengerissen und an die Tür geklopft, um zu fragen, ob alles in Ordnung war. Nach kurzer Stille hatte Vica ihr nur im Mantel, aber trotzdem mit Kapuze, die Tür geöffnet und sie zähneknirschend gebeten, ihr zu helfen, die Kleider im Raum zu finden. Tatsächlich hatte auch für sie ein Stapel bereitgelegen und obwohl sie es widerstrebend angeboten hatte, hatte Vica nicht zugelassen, dass sie ihr auch beim Umziehen half. Also war sie wieder nach draußen gegangen und hatte nochmal eine schrecklich lange Zeit gewartet, aber wenigstens den Eindruck gehabt, dass sie sich nun wieder auf Augenhöhe würden bewegen können. Auf dem Rückweg und in einem neuen grauen Kleid hatte Vica geschwiegen, obwohl sie ziemlich sicher erneut viel zu lange brauchten und Leén einmal umkehrte, weil sie sich sicher war, sich vertan zu haben. Augenscheinlich hatte die Blinde sich zu sehr über ihre Hilflosigkeit im Bad geschämt, um weiter hämische Kommentare abzulassen.
Zurück in dem Zimmer war das Schweigen vollkommen. Es gab einerseits viele Fragen, die geklärt werden sollten und andererseits hatte sie Angst vor der Ablehnung, die ihr von der anderen entgegenschlug. Eine freundliche Konversation anzufangen hätte vielleicht dazu beigetragen, den leidvollen Kampf möglichst hinter sich zu lassen und darüber hinwegzutäuschen, dass sie in der Tat recht nutzlos war, aber sie hatte nichts zu sagen. Dabei fielen ihr sogar freundliche Dinge ein, die sie hätte sagen können. Auch wenn sie Vica nicht verstand, wusste sie doch, dass sie besonders war. Feindselig, vielleicht furchteinflößend, aber definitiv besonders. Leén hätte sagen können, dass sie nachvollziehen konnte, dass es schwierig war, immer anders zu sein als die anderen. Sie erlebte es jeden Tag, seit sie hier war, aber sie musste die andere nicht erneut darauf stoßen, dass sie aus Hareth kam und ansonsten keine nennenswerten Talente besaß.
Schaudernd erinnerte sie sich an ihre letzten Tage zuhause. Es war schrecklich gewesen in den leeren Zimmern, die ohne ihre Mutter jegliches Leben verloren hatten. Ablehnung waren ihrem Vater, der deutlich ein Cecilian war, und seiner Tochter mit einem Mal so viel stärker entgegengeschlagen als je zuvor. So war sie fast erleichtert gewesen, als ihr Vater verkündet hatte, dass sie ihre geliebte Heimat verlassen würden. Nicht einmal der Abschied von dem Haus an der Küste war ihr schwergefallen. Eine höhere Macht, vielleicht das Leben selbst, hatte entschieden, dass es keinen Platz mehr für sie in Hareth gab. Davon würde sie sich also nun leiten lassen und vielleicht war es auch eine höhere Macht gewesen, die dafür gesorgt hatte, dass es etwas gab, was Machairi glaubte, von ihr gewinnen zu können, sodass er sie nun zurück nach Hause brachte.
Sicher hätte man ihr hierzulande gesagt, dass es der Wille der Götter war. Aber Leén glaubte nicht an die Götter der Cecilian. Die Menschen in Hareth glaubten üblicherweise nicht an die gleichen Götter. Sie glaubten auch nicht an den Zhakipatron Sulli. Für sie war ihr Sultan ein Heiliger und die Macht, die ihn leitete, war nichts, woran sie glauben mussten, solange es ihn gab. Nur für Dinge, über die der Sultan unmöglich verfügen konnte, wie Wetter oder Gesundheit, gab es Anamalia, die Mutter, die über den Sultan wachte, aber sie mischte sich nicht in die Lebensweise der Harethi ein. Soweit jedenfalls der Glaube. Trotzdem hatten Leéns Eltern ihr auch von den Göttern des Nordens erzählt und als kleines Kind hatte sie den unglaublichen Erzählungen gern gelauscht, nur wirklich geglaubt hatte sie sie nie, hatte sich lieber an den Sultan – einen greifbaren Menschen – gehalten. Doch der Sultan war sicherlich nicht dafür verantwortlich, was Leén in den vergangenen Wochen erlebt hatte. Sie konnte nicht anders, als sich geleitet zu fühlen, von einer fremden Macht, die sie nicht verstand, die sie aber schon immer gespürt hatte. Vielleicht war es Schicksal, vielleicht Bestimmung, vielleicht aber auch eine Verkettung von Zufällen, die sie nicht begreifen konnte. Was immer es war, es hatte sie von Zuhause fortgezogen, und zu einer Ausgestoßenen gemacht.
Gedankenverloren spielte Leén mit dem Haarband, das ihren langen Zopf zusammenhielt. Ein kleiner Stein zierte es und in den Nächten auf der Straße hatte sie es eng umklammert, damit ihr niemand das letzte Andenken an ihre tote Mutter stahl. Was hätte diese ihr geraten, wenn sie nun hier gewesen wäre und sie schweigend neben Vica hätte sitzen sehen? Hätte sie sie ermahnt, die Ängste der anderen zu bedenken? Vica hatte bestimmt nicht gelernt zu kämpfen, weil sie so großen Spaß daran hatte. Es musste lange gedauert haben, trotz ihres fehlenden Sehsinnes genug zu lernen, um sich verteidigen zu können. Wer wusste schon, was das blinde Mädchen schon erlebt hatte, das sie derart feindselig gestimmt hatte.
Leén fuhr heftig zusammen, als die Tür aufflog und Gwyn eintrat. Auch Vica war zusammengezuckt und auf die Füße gesprungen, um in Kampfstellung zu gehen, den Stock auf die Tür gerichtet. »Oh, vielleicht hätte ich klopfen sollen.« Gwyn fuhr sich mit einem entschuldigenden Lächeln durch die wirren Haare. Seine Finger verschwanden zwischen den dunklen Locken und machten das Chaos noch schlimmer als vorher. »Ich bin nicht zu spät!«, stellte er dann zufrieden fest und sah danach schmunzelnd zu Vica. »Du kannst den Stock jetzt runternehmen, Vic.«
Langsam ließ Vica tatsächlich den Stock sinken und setzte sich wieder auf ihren Stuhl. Das kleine Tier in ihrem Schoß war auf den Boden gesprungen, als das Mädchen so plötzlich aufgestanden war. Jetzt kletterte es an ihrem Rock hoch und rollte sich dort zusammen. Wenigstens einer, der ein wenig Schlaf bekam.
»Ihr scheint euch ja ganz prächtig zu verstehen«, bemerkte Gwyn sarkastisch und sah fragend zu Leén. Sie schüttelte den Kopf und sah auf ihre Hände. Sie würde sich nicht bei dem gutmütigen Gwyn ausheulen. Was mochte jemanden wie ihn dazu verleitet haben, einem Schatten nachzulaufen?
Erneut bewegte sich die Tür. Mico war noch genauso missmutig wie vor ein paar Stunden. Er hatte sich einen Sack über die Schulter geworfen, in dem er sein Gepäck verstaut hatte. Wortlos lehnte er sich an die Wand und Leén konnte seinen Kiefer malmen sehen. Dann warteten sie. Gwyn war der Erste, der unruhig wurde. »So langsam müsste es schon nach Dämmerungsbeginn sein.« Nervös ging er auf und ab.
»Jetzt spiel hier nicht die besorgte Ehefrau, Gwydion«, fauchte Vica, aber an ihren Fingern, die nervös an allem zupften, was ihnen begegnete, konnte Leén sehen, dass auch sie nicht so ruhig war, wie sie vorgab.
Einige Augenblicke später verlor auch der Cecilian die Geduld. »Gwyn, setz dich gefälligst hin«, stieß er hervor. »Es ist Machairi, was erwartest du, was passiert sein könnte?«
»Lass mich nachdenken ...«, gab Gwyn ungewöhnlich angriffslustig zurück. »Vielleicht hat ein gewisser Fürst sich anders verhalten, als er gehofft hat und keine Lust, sich an der Nase herumführen zu lassen?!«
Erschrocken riss Leén die Augen auf und sah Gwyn an. Fürst? Der Fürst? Sie schluckte. Sie hatte geahnt, dass Machairi kein Maß hatte, aber irgendwie hatte sie gedacht, dass selbst er die Macht des Bienenkönigs respektieren würde. Stattdessen schien er sich mit ihm angelegt zu haben. Nur warum?
Gerade als sie dachte, Gwyn könnte hinausstürmen, um ihn zu suchen, ging die Tür auf. Machairi stand darin, die Haare durcheinander und der weiße Handschuh mehr rot als weiß. Sein Gesicht war ernst, wie steinern und vielleicht etwas blasser als beim letzten Mal. In seinen schwarzen Augen loderte etwas, das Leén nicht zuordnen konnte. Er sah gefährlich aus. Ohne ein Wort drehte er sich wieder um, ging voraus, überprüfte nicht, ob sie ihm folgten.
Hastig hängte Leén sich ihre Tasche um und sie tauschten verwirrte Blicke. Nicht einmal Vica hatte sich zu einem bissigen Kommentar hinreißen lassen, obwohl sie schließlich nicht wissen konnte, wie er aussah. Leise und schnell folgten sie Machairi durch das Tunnelsystem unter dem Bienenstock. Niemand wagte zu fragen, was passiert war, oder ob es vielleicht eine Planänderung gab.
Er führte sie hinaus in die Stadt zu einem kleinen Ruderboot. Kurz blieb Leén fast das Herz stehen, weil sie in Betracht zog, dass er wahnsinnig genug sein mochte, um damit die Überfahrt wagen zu wollen, aber dann schaltete sich ihr Verstand ein und belehrte sie eines Besseren. Machairi war vielleicht wahnsinnig, aber sicher nicht dumm. Also ließ sie sich leise ins Boot sinken, sah zu, wie Gwyn Vica ins Boot half und Mico sich mit Grabesmiene als Letzter hineinfallen ließ und das ganze Bötchen zum Schaukeln brachte.
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber die Welt schien mit jeder Minute heller zu werden. Während Gwyn und Mico sich mehr oder weniger begeistert in die Riemen legten und sie am Hafen vorbei auf die andere Seite der Bucht brachten, wagte Leén noch einen Blick auf Machairi. Jetzt im dämmernden Tageslicht konnte sie sogar an ihm leichte Zeichen der Anspannung erkennen. Sein Blick war starr auf den Horizont gerichtet, hinter dem irgendwo Hareth liegen musste. Wieder wünschte sie sich, zu wissen, was in seinem Kopf vor sich ging, wie er dachte und wo er seine Grenzen sah. Was war geschehen, dass er so aussah? Sie beobachtete fasziniert, wie er sich mit dem schwarzen Handschuh durch die Haare fuhr, der vielleicht nicht ganz so blutgetränkt war wie der weiße. Wessen Blut mochte das sein? Hatte er diese Person getötet? Leén erschauderte, konnte aber trotzdem den Blick nicht von ihm lassen. Er machte ihr Angst mit seiner unnatürlichen Perfektion und war doch gleichzeitig so verdreht und … unvollständig? Es fiel ihr schwer, in Worte zu fassen, was genau es war, das auch den Messerdämon fehlerhaft machte, vielleicht war es gar die scheinbare Unfehlbarkeit, die ihn so vom vollständigen Menschen fortzerrte. Sie hätte gerne mehr über ihn gewusst. Vielleicht hätte sie ihn dann besser verstanden und vielleicht hätte er dann menschlicher gewirkt, denn so konnte sie gut verstehen, weshalb ihn viele für einen Dämon hielten. Aber sie kannte nicht einmal seinen Namen, geschweige denn seine Geschichte und das machte ihn zu einem einzigen Mysterium. Eines, das sie anzog, das sie lösen wollte.
Den ganzen Weg über starrte sie ihn an und dachte über ihn nach. So warf sie keinen Blick auf die Stadt zurück, an der sie vorbeiruderten. Sie nahm auch nur am Rande wahr, dass sie mehr in ihrer Nussschale schaukelten, als sie an der Mündung des Flusses Korn vorbeifuhren. Erst, als sie auf der anderen Seite dieses Flusses anlegten und sein Blick plötzlich ihren traf, sah sie weg und betrachtete stattdessen die Umgebung.
Jenseits des Flusses ragte die Stadt auf und thronte über der Bucht. Der Bienenstock war nicht mehr als eine kleine Insel in der Ferne. Auf dieser Seite des Flusses war das Land flach. Über die Wiese waren Pfade getreten, die zu kleinen Baracken führten. Überall schienen Pfähle im Boden zu stecken und es dauerte einen Moment, bis Leén verstand, dass sie über einen Sklavenmarkt schaute. Etwas entfernt standen fünf Menschen in Ketten und vor ihnen diskutierten zwei Männer in besseren Kleidern. Vielleicht über den Preis, vielleicht über die Ware selbst. Sie fühlte sich unwohl bei dem Anblick. Es gab auch in Hareth Leibeigene, aber die Gesetze der Cecilian waren wesentlich unmenschlicher und auf diese Weise dem Sklavenhandel zuzusehen fühlte sich falsch an. Auch Gwyn sah mit verzogenem Blick über die weitgehend leeren Verkaufsstände und sah lieber in eine andere Richtung. Vorsichtig schielte sie zu Machairi und erwartete Gleichgültigkeit, vielleicht gar Wohlwollen. Stattdessen fand sie einen Hauch Abfälligkeit und konnte ihn dabei beobachten, wie er seine Züge wieder glättete und die kalte Neutralität zurückkehrte.
Ein Schiff lag vor Anker an einem der Liegeplätze. Sie boten genügend Platz für große Frachtschiffe und bildeten einen kleinen Hafen, der wohl einzig den Sklavenschiffen vorbehalten war. Es hätte ein schöner Ausblick sein können. Das Schiff war ein bauchiger Zweimaster, dessen aufgerollte weiße Segel nicht vermuten ließen, was für eine Fracht dieses Schiff für gewöhnlich transportierte. Schaudernd dachte Leén daran, dass hier an anderen Tagen vielleicht mehr los war. Würden sie etwa auf einem Sklavenschiff nach Hareth fahren? Kamen die Sklaven von dort? Was hatte sie erwartet, von einem Schiff, das von einer Bucht aus ablegte, die Sklavenbucht genannt wurde? Das Schiff, mit dem sie nach Cecilia gekommen war, war kleiner gewesen, manierlicher, aber schnittiger und vermutlich einfacher zu lenken. Sie hatte keine Ahnung von Schiffen oder Seefahrt und den Bienen ging das sicher ähnlich. Leén konnte sich nicht vorstellen, dass einer von ihnen wusste, wie man ein Schiff fuhr. Da musste man vielleicht nehmen, was man kriegen konnte. Zähneknirschend folgte sie den anderen, die Machairi hinterher auf das Schiff zugingen.
Vor dem Landgang wartete ein gut gekleideter Herr – erneut ein Bild, das Leén nicht mit Sklaverei in Verbindung gebracht hätte. Er hatte ein freundliches Gesicht und einen gepflegten Bart und war sicherlich über vierzig. Eigentlich sah er aus wie ein freundlicher, wohlhabender Seemann oder auch wie ein Händler, der genug Geld hatte, um sich einen gewissen Lebensstandard zu leisten. Nicht genug, um einen Palast zu bezahlen, aber vielleicht ein kleines Haus mit ein oder zwei Angestellten. Vielleicht hatte er sogar eine Familie irgendwo, die er mit dem Sklavenhandel ernährte. Sie erschauderte schon wieder.
»Ich hatte schon befürchtet, Ihr hättet es euch anders überlegt.« Auch die Stimme des Mannes war freundlich und warm und er wirkte tatsächlich erleichtert, sie zu sehen. Verbindlich streckte er Machairi die Hand entgegen und sah entsetzt auf das Blut an dem weißen Handschuh, als dieser die Hand annahm. Offenbar versuchte er, nicht zu zeigen, dass er sich davor ekelte und das gelang auch fast.
»Wann legt das Schiff ab?« Machairi hielt sich nicht mit Höflichkeiten oder Belanglosigkeiten auf.
»Wir sind bereit!« Der Kapitän deutete auf den Landgang. »Wir können sofort ablegen.«
Machairi nickte und schritt dann auf das Schiff. Gwyn nickte dem Kapitän wenigstens noch zu, der Rest folgte weiterhin schweigend und ohne ein Wort zu ihrem Gastgeber. Wenn sie immer so wenig gesprächig waren, würde das sicher eine fröhliche Reise werden. Leén ging als Letzte an Bord und sie spürte den Blick des fremden Mannes auf ihr. Er fuhr über sie und blieb unangenehm lange an ihrem Dekolleté hängen. Das Grinsen, das er jetzt zur Schau trug, war schon weniger sympathisch und sie warf ihm einen bösen Blick zu, der sein Grinsen nur etwas breiter machte. Wollte sie wissen, woran genau er dachte?
Etwas verloren standen sie schließlich alle an Deck des Schiffes. Um sie herum werkelten Matrosen, die rege beschäftigt zu sein schienen, und Leén entschied, nicht zu genau darüber nachzudenken, ob es sich bei ihnen um Sklaven handelte. Stattdessen legte sie den Kopf in den Nacken und sah hinauf in die Takelage. Sie fühlte sich winzig klein unter dem hohen Mast und es beeindruckte sie, dass diese Seeleute so genau zu wissen schienen, wie sie mit den zahllosen Seilen und Knoten umzugehen hatten. Einer hatte sich nur mit den Beinen in die Seile gehängt und vollführte seine Handgriffe mit beiden Händen und einer solchen Routine, dass er keinen Gedanken mehr darauf zu verschwenden schien. Diese Menschen würden sie sicher wohlbehalten nach Hareth bringen, auch wenn der Zweck des Frachters anderes vermuten ließ. Der Gedanke, nach Hause zurückzukehren, war zwar etwas seltsam, aber nicht unwillkommen. Das Schlimmste war eigentlich, dass sie ihren Vater nicht bei sich hatte. Sie konnte von hier noch das Schloss sehen, in dessen Kerkern sie ihn vermutete. Seufzend schloss sie die Augen und genoss die salzige Brise des Meeres, die über ihre Wangen strich. Für einen kurzen Moment glaubte sie wieder an den Klippen zu stehen, die Sonne auf die Haut brennen zu spüren und ließ sich von der kleinen Brise zurücktragen, in vergangene Tage voller Glück und Freude, in denen alles so viel einfacher gewirkt hatte. Wann hatte das Leben aufgehört, leicht zu sein? Als sie Machairi getroffen hatte? Als sie ihr letztes Geld verloren hatte? Als ihr Vater festgenommen worden war? Als sie in Kefa angekommen war? Als sie ihr Zuhause verlassen hatte? Als ihre Mutter gestorben war? Oder als sie krank geworden war? Sie wusste es nicht mehr. Sie wusste nur, jetzt, hier auf dem Sklavenschiff, das sie zurück nach Hareth tragen würde, war nichts mehr leicht, sie war nicht mehr befreit und eine Schwere lastete auf ihrer Brust, die sie als Kind nicht gekannt hatte. Leén öffnete die Augen. Die Welt schien so viel dunkler geworden zu sein, als sie es früher gewesen war.
Machairi war nicht mehr bei ihnen. Nach einem suchenden Blick über Deck fand sie ihn beim Kapitän in einer regen Unterhaltung. Leén konnte allerdings nicht verstehen, worum es ging. Deshalb sah sie wieder zu den anderen drei. Mico hatte sich an die Reling gelehnt und sein Blick war finster, während er zurück zur Stadt blickte. Vica sah verwirrt aus, wenn man ehrlich war, denn sie ertastete ihre Umgebung sehr genau mit dem Stock. Die Person, die allerdings bei weitem am unglücklichsten aussah, war Gwyn. Man konnte ihm ansehen, wie angespannt er war und sein Blick huschte hin und her, als befürchtete er, etwas könnte auf ihn lauern. Bildete sie sich das ein oder zitterte er? Bevor sie ihn darauf ansprechen konnte, kehrte Machairi zu ihnen zurück, die schwarzen Augen so glänzend vor Wut, dass Leén sich gern hinter Gwyn geflüchtet hätte. Er ging auf sie alle zu und an ihnen vorbei und winkte ihnen wortlos, ihm zu folgen.
Gwyn war blass, trotz der gebräunten Haut, und schwankte leicht, als sie auf die Stiege zutraten, die sie unter Deck bringen würde. Hilfesuchend sah er Leén an. Ratlos lächelte sie zurück. Was erwartete er, was sie für ihn tun konnte? »Alles in Ordnung?«, fragte sie mangels eines besseren Einfalls.
»Ich hasse Schiffe«, murmelte Gwyn und er tat ihr spontan leid, als sie sah, wie unglücklich er aussah.
»Wir werden schon nicht sinken«, versuchte sie aufmunternd zu sagen. Wenn er seekrank wurde, sollte er vielleicht nicht unter Deck sein, aber Machairi und die anderen waren gerade dabei, hinab in den Schiffsbauch zu steigen und vielleicht war etwas Ablenkung nicht schlecht. »Na komm, lass uns deinem Boss hinterher!«
Er schmunzelte etwas. »Unserem Boss, wenn schon!«, murmelte er und ein kurzes Grinsen mischte sich zu der Unruhe auf seinem Gesicht. Etwas widerwillig und unsicher ließ er sich von ihr über das Deck führen und folgte ihr auch die Stiege hinab. Leén konnte spüren, wie das Schiff ablegte und Gwyn krallte eine Hand in den ersten Halt, den er fand: Leéns Schulter. Panik lag in seinen Augen und sie konnte hören, wie flach seine Atmung war. Sie konnte darauf verzichten, dass er ihr in den Nacken kotzte, deshalb stieg sie trotzdem schnell weiter hinab und zog ihn mit sich, obwohl sie ihn hinter sich wimmern hören konnte. »Wirst du seekrank?«, fragte sie und zog ihn weiter, den anderen hinterher.
»Weiß ich nicht mehr«, murmelte er heiser und ließ erst jetzt ihre Schulter los, um sich stattdessen an der Wand abzustützen.
»Warum magst du denn keine Schiffe?«, fragte sie weiter, aber er schüttelte nur den Kopf. Bleich und wackelig auf den Beinen erreichten sie die anderen, die sich bereits vor einer schmalen Tür gesammelt hatten.
»Macht keinen Ärger«, knurrte der Schatten und warf einen finstern Blick durch die Tür, vor der er stand.
»Wo schläfst du?«, wollte Vica wissen.
»Gar nicht.« Überrascht tauschten alle, die sehen konnten, einen Blick – sogar Gwyn, der inzwischen beunruhigend grün im Gesicht war. »Vica, verkneif dir den Kommentar oder verzichte auf deine Zunge«, knurrte er, als Vica den Mund öffnete und bewegte sie damit dazu, ihn wieder zu schließen. Ohne ein weiteres Wort drängte er sie alle zur Seite und verschwand zurück an Deck.
»Was war das denn?«, fauchte Vica und tastete über die hölzerne Wand, an die sie gedrückt worden war. Ihre Finger fanden den Türrahmen und sie zog die Augenbrauen zusammen, während sie ihn weiter untersuchte.
»Es gibt fünf Schlafplätze«, informierte Mico, der am leichtesten in die Kajüte hineinsehen konnte. Sein stets grimmiger Blick wanderte durch den Raum.
»Ich dachte, er würde ein eigenes Zimmer bekommen«, murmelte Leén und sah an Gwyn vorbei in die Richtung, in die der Schatten verschwunden war.
Gwyn schmunzelte, während er sich an der Wand abstützte. »Das dachte er offensichtlich auch.«
»Nicht meine Schuld, wenn er damit ein Problem hat«, murrte Vica und tastete mit dem Stab nach dem Eingang, wobei sie Mico zwang, ihr auszuweichen. »Schau nicht so anklagend!«, fuhr sie Mico an. »Wenn du mir einfach beschreibst, wie es darin aussieht muss ich viel weniger suchen.«
»Vier Kojen, eine Hängematte, fast kein Platz und ziemlich zwielichtig«, zählte er missmutig auf. Überraschenderweise sprach er überhaupt mit ihr. Nachdem die beiden sich am Vorabend so angefeindet hatten, hatte Leén nicht erwartet, dass sie sich friedlich gegenübertreten konnten.
»Warum stört ihn das denn so?«, fragte Leén vorsichtig.
»Vermutlich, weil jeder im Schlaf verwundbar ist?«, schlug Gwyn vor und sah noch immer sehr, sehr unglücklich und bleich aus.
»Wir sind aber doch keine Feinde!« Darauf bekam Leén keine weitere Antwort.
Mico betrat die Kajüte und Vica folgte ihm, vorsichtig mit ihrem Stab vorantastend. Ein Blick durch die Tür sagte Leén, dass sie kaum noch hineinpassen würde. Mit den beiden und der Hängematte war der Raum im Grunde voll. Mico warf seine Tasche auf die untere Koje auf der linken Seite und ließ sich darauf sinken, wobei der den Kopf einziehen musste. Vica hatte sich in der Hängematte verheddert, weil sie diese beim über den Boden tasten nicht bemerkt hatte.
Kurz fragte Leén sich, ob es einen Trick gab, um in die beiden oberen Kojen zu kommen, da es keine Leiter oder eine Stiege gab. Dann schloss sie, dass man wohl in die untere treten musste, um sich dann nach oben zu ziehen. Sie seufzte. Sie nahm an, dass Vica nicht in eine obere Koje gehen konnte und da Mico schon eine ausgewählt hatte, würde ihr das wohl nicht erspart bleiben. Immerhin hatte sie keine Höhenangst. Seufzend schob sie sich in den Raum und warf ihre Tasche auf das obere Bett auf der rechten Seite. Möglichst weit weg von Mico.
Gwyn schob nur den Kopf durch die Tür und sah auf das andere obere Bett. Seufzend lehnte er sich in den Türrahmen. Eine lässige Geste, aber angesichts seiner Gesichtsfarbe glaubte Leén, dass er hauptsächlich noch immer nach Halt suchte und schmunzelte. Warum er wohl so eine Abneigung gegen die Seefahrt hatte? Sie wollte nicht noch einmal fragen, um ihn nicht vor den anderen in Verlegenheit zu bringen. »Gwyn, was habt ihr eigentlich letzte Nacht noch gemacht, dass du meintest, ihr wärt mit dem Fürsten aneinandergeraten?«, beschloss sie ihn erneut abzulenken.
»Äh, Ich würde mal sagen, es war hauptsächlich ein Ablenkungsmanöver ...« Jetzt grinste er sogar ein bisschen, trotz seiner ungesunden Gesichtsfarbe. »Klingt doch schlau: Einen anderen Schatten verstümmeln, damit der den Fürsten mit Lügen füttert. Dann muss man gar nicht selbst lügen.« Sie hoffte, dass das Sarkasmus war.
Leén verdrehte die Augen und lehnte sich an die Wand, während sie Vica dabei beobachtete, wie sie sich endlich aus der Hängematte befreite und ihre Koje fand. Das Wiesel huschte unter ihrem Mantel hervor und rollte sich in der Koje zusammen. Er nahm das Bett erstaunlich gut in Beschlag, dafür, dass er kleiner als eine Katze war. Leén sah zurück zu Gwyn. »Du weißt doch genau, was ich meine«, maulte sie. »Was habt ihr wirklich gemacht?«
»Das war kein Scherz, Rish.« Grinsend und vielsagend sah er sie an. »Falls die Ratte die Nacht überstanden hat, denkt der Fürst jetzt, dass wir die Reise nach Norden übernehmen.«
»Oh«, murmelte Leén und gab sich große Mühe, nicht zu erschrocken auszusehen. Sie hatte schließlich gewusst, dass Machairi sich der Gewalt bedienen würde, wenn er es für notwendig hielt, sie hatte sich bisher nur noch nicht direkt damit konfrontiert gesehen. »Ist der Fürst denn ein Feind? Ich dachte nicht, dass die Schatten ihn hintergehen …«
»Dieser ist einfach dreist«, murrte Mico aus seiner Koje und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
»Und zu stolz für einigermaßen respektvolles Verhalten obendrein«, fügte Vica hinzu, die noch immer durch die Koje tastete, um es sich gemütlich zu machen.
Leén ließ sich auf den Boden sinken und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. »Und das lässt der Fürst sich bieten?«
»Das Machtspielchen hat er schon bei ihrer ersten Begegnung verloren.« Gwyn schmunzelte und sah zu ihr hinab. »Normalerweise muss man sich tierisch lange durch den Bienenstock nach oben arbeiten und so ein Handschuh will verdient sein, genauso wie eine Audienz. Nur für Reed gelten mal wieder andere Regeln.«
»Nenn ihn nicht so!«, fuhr Vica dazwischen, die sich endlich in der Koje niedergelassen hatte und nun zusammengekauert auf der Kante saß, um sich nicht den Kopf zu stoßen.
Gwyn verdrehte die Augen. »Meinetwegen. Also: M ist einfach wie aus dem Nichts aufgetaucht, in den Bienenstock marschiert, hat sich nicht aufhalten lassen, bis er direkt im Thronsaal stand und hat sich seine Position als Schatten eingefordert.«
Leén hob die Augenbrauen. »Und das hat funktioniert?« Überrascht sah sie zu Gwyn hinauf und fragte sich, ob der berüchtigte schwarze Fürst vielleicht doch gar nicht so furchteinflößend und mächtig war, wie sich erzählt wurde.
»Erstmal nicht«, gab Gwyn zu.
Mico fuhr an seiner Stelle fort. »Er hat ein Blutbad veranstaltet. Jeder, der ihn angegriffen hat, oder ihn zwingen wollte, zu gehen, hat ein Messer zu spüren bekommen. Sogar einen Schatten hat er ausgeschaltet.« Da war es wieder. Diese seltsame Mischung aus Furcht und Bewunderung, die auch Leén selbst schon gespürt hatte, wenn es um Machairi ging.
»Und dann hat der glorreiche Fürst gesagt: Jetzt ist ja ein Platz frei, und hat ihm gegeben, was er wollte.« Vica verdrehte die Augen. »Weil jeder ihm früher oder später gibt, was er will.«
Leén zog die Schultern hoch. Was wollte er von ihr? Es gab etwas, da waren sich offenbar alle einig. Sie wusste nur nicht was und fürchtete deshalb, dass alles ein großes Missverständnis war und dass sie es vielleicht nicht schaffen würde, den Schatten zu überzeugen, dass sie nicht wusste, was er wissen wollte. Sie erschauderte. Die Konsequenzen wollte sie lieber nicht erleben. »Und warum wollte er unbedingt ein Schatten sein?«, wollte sie dann wissen, den Gedanken hastig zur Seite schiebend.
Mico atmete hörbar aus. »Wenn ich die nächsten Wochen in deiner Gegenwart verbringen muss, kannst du wenigstens aufhören, zu reden«, knurrte er.
»Gute Idee«, stimmte Vica zu.
»Du auch!«, keifte Mico und Vica zog die Augenbrauen zusammen.
Gwyn seufzte. »Komm, Rish. Lass uns zurück an Deck. Ich habe keine Lust, den beiden Stinkstiefeln dabei zuzusehen, wie sie sich an die Gurgel gehen.«
Schnell kam Leén auf die Beine. Sie hatte tatsächlich keine Lust danebenzustehen, wenn Vica wieder mit dem Stab wütete, wobei sie sie schon in der Hängematte hängen sah. Mit nur einem Schritt war sie wieder im Flur und hörte, wie Vica Mico anschrie, dass er ihr nichts zu sagen habe. Eilig folgte sie Gwyn, der etwas unsicher durch den Gang schlich und auf die Stiege zuhielt, die sie wieder an Deck bringen würde. »Sie können es wirklich nicht lassen«, murmelte Gwyn, als sie noch aus der Ferne eine knurrende Antwort von Mico hörten.
Kaum waren sie wieder durch die Luke gestiegen, atmete Gwyn tief die frische Luft ein und sah sich um. Sehnsüchtig fiel sein Blick zurück auf die Küste, die schon ein beachtliches Stück hinter ihnen lag. Leén ging an ihm vorbei zur Reling und sah auf die unendlichen blauen Weiten des glitzernden Meeres hinaus. Die warme Jahreszeit hatte gerade erst begonnen und so war das Jahr noch jung, aber die herrliche Wärme des Rehet an der Küste Cecilias war nicht zu vergleichen mit den brennend heißen Temperaturen in Hareth. Dort waren tatsächlich die kalten Wochen des Jahres die angenehmsten, wenn der Autram ihnen ein paar einigermaßen kühle Tage bescherte. Cecilia lag dann meist in tiefem Schnee. Sie hatte noch nie Schnee gesehen, nur davon gelesen, und einerseits hätte sie gerne erfahren, wie die weißen Eiskristalle aussahen, die vom Himmel fielen, aber andererseits wusste sie nicht, ob sie für die kalten Temperaturen geschaffen war, die er mit sich brachte.
Gwyn blieb mit einigem Abstand hinter ihr stehen und sah ebenfalls aufs Meer hinaus, aber er kam nicht zu ihr an die Reling, also drehte sie sich zu ihm um. »Warum findest du das so furchtbar?«, fragte sie. »Es sieht doch wunderschön aus!«
Er schüttelte sich. »Ich weiß ohnehin nicht, was an Wasser so toll sein soll. Es ist doch purer Widerstand! Aber in solchen Massen ...«, sein Blick schweifte einmal über den Horizont, bis zur Küste in der Ferne, »... ist es einfach nur unheimlich!«
»Ich finde es schön«, murmelte Leén und sah auf die freien, unendlichen Weiten des Meeres hinaus. »Schau doch, wie das Licht auf den Wellen spielt!« Lächelnd warf sie einen Blick über die Schulter und betrachtete das leichte Glitzern der Sonne, wie schon in vielen Stunden, die sie auf den Klippen gesessen und hinausgesehen hatte.
Gwyn knirschte mit den Zähnen. »Eine Menge sehr tödliches Nass ... da kann es noch so viel glitzern. Es ist kalt und tief und ... ja, tödlich eben.« Erschaudernd zog er die Schultern hoch und schüttelte den Kopf.
Leén legte den Kopf schief. »Hast du da schon Erfahrungen mit gemacht?«, fragte sie vorsichtig und beobachtete, wie er den Kopf abwandte und sich noch etwas mehr anspannte. Sie wollte ihn gerade danach fragen, als Machairi hinter ihm auftauchte.
»Gwyn, sorg dafür, dass Vica und Mico sich nicht gegenseitig umbringen«, ordnete er an und Gwyn verzog das Gesicht.
»Muss ich?«, fragte er und sah den Schatten flehend an. Nach nur einem Blick der dunklen Augen seufzte er. »Natürlich muss ich.« Ohne weitere Diskussion drehte er sich um und hielt mit hochgezogenen Schultern wieder auf die Stiege zu.
Leén erwischte sich dabei, wie sie schon wieder geneigt war, Machairi anzustarren, deshalb drehte sie sich schnell wieder um und sah aufs Meer hinaus, während sie die Finger an die Reling krallte. Sie fühlte sich unsicher in seiner Gegenwart und als er neben sie trat, hörte sie ihren eigenen Herzschlag in den Ohren.
»Solange wir hier sind, musst du besonders vorsichtig sein.« Er sah sie nicht an, sondern blickte ebenfalls auf die Wellen hinaus.
Überrascht drehte sie den Kopf zu ihm. Der Wind zerrte an den schwarzen Haaren und sie bemerkte, dass er den befleckten Handschuh gegen einen sauberen getauscht hatte. Für einen Moment verlor sie sich darin, ihn anzusehen. Es fesselte sie jedes Mal wieder. Und jedes Mal hätte sie sich dafür schlagen können. »Ist das eine Warnung oder eine Drohung?«, fragte sie dann, obwohl sie sich eigentlich fest vorgenommen hatte, nicht unüberlegt zu sprechen, wenn er in der Nähe war.
»Wenn du den Unterschied nicht erkennst, hattest du ein viel zu einfaches Leben.« Machairi wandte sich ihr zu und musterte sie forschend.
Leén spürte, wie sie nervös wurde, als die dunklen Augen sie trafen. Wie lange würde es dauern, bis sie sich an diesen Blick gewöhnt hatte? Dass sie nicht wusste, wonach er suchte, machte es noch etwas schlimmer. »Weshalb soll ich denn vorsichtig sein?« Sie stellte nur zögerlich eine weitere Frage.
»Offenbar hat der Kapitän ein gehobenes Interesse daran, dich in den Frachtraum zu verlegen. Er ist nicht so klug zu akzeptieren, dass ich sein Angebot abgelehnt habe.« Leén weitete die Augen bei seinen Worten und spürte, wie ihr Magen sich zusammenkrampfte. Vielleicht hatte sie den aufdringlichen Blick des Kapitäns fälschlicherweise als lüstern interpretiert. Verwirrend war außerdem, dass Machairi noch immer fast teilnahmslos wirkte, als habe er ihr gerade eröffnet, dass die Sonne schien und nicht, dass jemand versucht hatte, sie ihm abzukaufen. »Gwyn hat keine Zeit, die ganze Reise als Wachhund abgestellt zu sein«, fügte er jetzt hinzu und sah kurz wieder aufs Meer hinaus, als habe ihn plötzlich ein anderer Gedanke eingenommen. Dann fuhr die weiße Hand unter den Mantel und eines seiner Messer tanzte zwischen seinen Fingern. Leén zuckte und musste sich stoppen, um nicht zurückzuweichen. Kurz musterte er sie und hielt ihr dann den Griff hin. »Also pass selbst auf dich auf.«
Überrascht sah sie zwischen seiner Hand und seinem Gesicht hin und her, fragte sich, ob er das ernst meinte oder ob das vielleicht ein Test war. Es erschien ihr nicht realistisch, dass der Messerdämon von einem seiner Messer ließ, um es ihr zu geben. Als sie sich nicht regte, hob er die Augenbrauen und sah sie leicht spöttisch an. So wirkte er schon etwas weniger bedrohlich. Zögernd und mit rasendem Herzen streckte sie die Hand nach dem Griff aus und schloss die Finger darum. Der Schaft lag glatt und geschmeidig in ihrer Hand und kurz streiften ihre Finger das glatte Leder des Handschuhs, bevor er das Messer losließ und es ihr tatsächlich zu überlassen schien.
Andächtig beobachtete sie die Waffe in ihrer Hand. Sie war schwerer, als sie erwartet hatte und selbst für sie als Laie war offensichtlich, dass es sich um ein hochwertiges Messer handelte. Die Klinge war blank, aus einem ungewöhnlich dunklen Metall und glänzte, wie das Meer um sie herum. Außerdem handelte es sich wohl doch mehr um einen Dolch, denn beide Seiten der Klinge waren scharf. Scharf genug, um ohne Druck einen Schnitt in ihrer Fingerkuppe zu hinterlassen, als sie die Spitze vorsichtig berührte.
Machairi beobachtete sie, wie sie sein Messer betrachtete und in der Hand drehte. »Es ist kein Spielzeug«, erinnerte er sie, als sie sich leicht in den Finger schnitt und wenn sie es nicht besser gewusst hätte, hätte sie gesagt, dass er zufrieden war. Noch immer umgab ihn eine düstere Aura und seine schwarzen Augen wirkten unnatürlich bohrend, aber seine Haltung war weniger gespannt und seine neutralen Züge waren frei von jeder Drohung. Er wirkte nun weniger wie ein Raubtier kurz vor dem Absprung als wie ein ganz normaler junger Mann, der vielleicht ein wenig einschüchternd und mit viel zu gutem Aussehen gesegnet war. So brachte er sie in Verlegenheit.
»Ich bin kein Kind mehr.« Leén lächelte und wusste nebenbei nicht, wohin mit dem Messer. So scharf wie es war, konnte sie es nicht einfach in die Tasche stecken. Vermutlich würde es hinausfallen und ihr unterwegs einen saftigen Schnitt verpassen.
Jetzt schmunzelte er wirklich und Leén beobachtete fasziniert, dass er tatsächlich etwas lächelte. »Natürlich nicht«, antwortete er belustigt und drehte sich wieder zum Wasser.
»Hey! Ich wette, ich bin nicht viel jünger als du!« Jetzt, wo er freundlicher aussah, konnte sie ihn wenigstens direkt ansehen und grinste sogar selbst ein bisschen, weil es sich nicht anfühlte, als wolle er sie damit beleidigen.
»Wie erwachsen jemand ist, hat rein gar nichts mit dem Alter zu tun.« Erstaunlich nachdenklich lehnte sich Machairi gegen die Reling und musterte Leén genauer.
Leén legte den Kopf leicht schief und musterte den Schatten, versuchte zu verstehen, was in seinem Kopf vorging, weshalb er plötzlich so freundlich war, oder ob sie schon etwas empfänglicher für seine Art geworden war. Außerdem hatte er leider Recht mit seinen Worten. Kurz dachte sie darüber nach. »Du hältst mich also für ein Kind«, stellte sie dann fest.
Er betrachtete sie mit Amüsement. »Einem Kind würde ich keine scharfe Klinge in die Hand geben.«
„Wofür hältst du mich denn?“, fragte sie dann geradeheraus. In diesem Moment war ihr plötzlich klar, dass das eine zentrale Frage war, die vielleicht ein paar andere Dinge auflösen konnte.
Er schwieg. Erst musterte er sie nur, dann glitt ein Messer in seine Finger und er sah hinaus auf die Weiten des Meeres, während das Festland langsam in der Ferne verschwand. »Vielleicht für einen Wink des Schicksals«, meinte er dann.
Sie hob die Augenbrauen. »Einen Wink wohin?«, wollte sie wissen. Es kam ihr seltsam vor, dass jemand wie er ans Schicksal glaubte. Sie hätte erwartet, dass er davon ausging, dass alles in seiner Hand lag und nicht, dass er an eine übergeordnete Macht glaubte. »Weil die Leute in Kefa irgendetwas von mir wollten?«
»Viele Menschen glauben, dass du ihnen geben kannst, was sie wollen.« Plötzlich war sein Blick wieder forschend und ihre anfängliche Entspannung litt.
»Kann ich aber nicht«, versicherte sie schnell noch einmal und sah ihn dabei an, auch wenn es wiederholt den Effekt hatte, dass sie sich gerne vor ihm verstecken oder kleinmachen wollte.
Für einen quälend langen Moment hielt er ihren Blick. Seine abgrundtief schwarzen Augen durchbohrten Leén und ihr Atem wurde hektischer. »Vielleicht hast du die richtigen Informationen noch nicht erkannt.« Suchend fuhren seine Augen über ihr Gesicht und er schien zur Kenntnis zu nehmen, dass sie sich unwohl fühlte und am liebsten noch mehr Abstand zwischen sie gebracht hätte. Dann, endlich, wandte er den Blick wieder ab und richtete seine Augen in die Ferne. »Du wirst dich als nützlich erweisen«, sagte er dann in vollkommen sachlichem Tonfall.
Sobald er sie nicht mehr ansah, konnte sie sich wieder entspannen und erneut erwischte sie sich dabei, wie sie ihn ganz genau beobachtete. Jetzt, hier an Bord, an der Reling, war er fast nett und freundlich und trotzdem einschüchternd. Außerdem war er plötzlich nicht mehr so unnahbar und kalt, wie sie ihn zuvor erlebt hatte und vielleicht, so dachte sie, war er eigentlich gar nicht so boshaft, wie häufig erzählt wurde. Trotz all des Misstrauens, das sie ihm gegenüber gehabt hatte und noch immer hatte, glaubte sie nicht, dass er wirklich ein schlechter Mensch war. Immerhin war er auch für einige gute Taten bekannt, hatte den Bienen mehr als einmal durch schwere Zeiten geholfen und ungerechte Strafen verhindert. Was auch immer seine Beweggründe waren, sie waren sicherlich nicht nur egoistischer Natur. Niemand konnte doch von Grund auf schlecht sein, oder?
Wenn sie erst in Hareth waren, würde sie vielleicht tatsächlich von Nutzen sein. Ihre Truppe würde auffallen wie eine Schar bunter Schafe. Sie selbst war vielleicht ein schwarzes Schaf, aber immerhin war sie auf dem Kontinent aufgewachsen, kannte die Kultur und die Sprache und würde den Fremden vermutlich wirklich helfen können. »Wie genau wollt ihr ... wollen wir eigentlich nach Om‘falo kommen?«, fragte sie vorsichtig, auch wenn sie wusste, dass Fragen über den Plan vermutlich ein gefährliches Thema waren. »Wenn wir unter der Fahne eines Sklavenhändlers segeln, werden wir mit Sicherheit kontrolliert, wenn wir den ganzen Kontinent umschiffen wollen.«
»Wir gehen direkt an der Küste an Land.« Überraschenderweise bekam sie eine präzise Antwort, die sie allerdings eher beunruhigte als begeisterte.
»Aber die Straßen, auf denen man die Wüste umrunden kann, sind noch schärfer bewacht und außerdem dauert das quälend lange.« Sie schüttelte sich. Sie konnte darauf verzichten, von Vartija kontrolliert zu werden, wenn sie mit einer Gruppe aus Cecilian und einem Zhaki unterwegs war. Waren die Harethi auch offener gegenüber der Magie als die Cecilian, waren sie doch auch nicht frei von Vorurteilen, besonders über den verfeindeten Kontinent und man konnte nicht behaupten, dass Machairis Truppe einen besonders vertrauenserweckenden Eindruck machte.
»Deshalb werden wir die Wüste auch durchqueren.« Der nüchterne, sachliche Tonfall brachte Leén fast zur Weißglut. Wusste er nicht, wie gefährlich die Wüste war, wie gering die Überlebenschancen waren, selbst wenn man einen Führer hatte? Falls er erwartete, dass sie sie durch die endlosen Weiten des Ödlandes führen konnte, irrte er sich gewaltig. Sie mussten nur einer der sagenumwobenen Kreaturen über den Weg laufen ...
»Das ist Wahnsinn!«, stieß sie hervor und schüttelte sich bei dem Gedanken, was alles schiefgehen konnte. » Man geht nicht durch die Wüste. Es ist dumm und ... unmöglich!«
Machairi drehte sich zu ihr und der Dämon war zurück. Er sah sie aus kalten Augen an, mit seiner drohenden Überlegenheit. Kurz glaubte sie wirklich, er könnte sie angreifen und stolperte dieses Mal doch ein paar Schritte zurück, fiel über eine Seilrolle und ließ das Messer fallen, das sie noch immer in der Hand gehalten hatte. Ein Anflug von Panik überkam sie. Machairi sah zu ihr hinab, wie sie auf dem Boden saß und unverhohlen ängstlich zu ihm aufsah, dann drehte er sich ab und ging.
Auf dem Weg kam ihm Gwyn entgegen, der den Schatten nur kurz verwirrt ansah und dann zu Leén hastete. Die klopfte sich nun die Hände ab und war froh, dass das Deck sauber genug gearbeitet war, dass sie sich nicht auch noch einen Splitter in die Hand gerammt hatte. Ärgerlich trat sie gegen die Seilrolle und sammelte das Messer wieder auf, das ein kleines Stück über das Holz geschlittert war.
Gwyn warf einen Blick auf die glänzende Klinge und seine Augenbrauen schossen in die Höhe. »Was bei allen Graulgeistern ist passiert?«, fragte er alarmiert und hielt ihr eine Hand hin, um ihr aufzuhelfen.
Sie seufzte und nahm die gebotene Hand dankend an. »Ich habe wohl die eisernen Regeln gebrochen.« Sie ärgerte sich über sich selbst und klopfte ihre Kleider wieder zurecht und seufzte noch einmal. »Aber es ist einfach reiner Selbstmord, durch die Wüste gehen zu wollen! Nicht einmal die Einheimischen tun das und wir sind nicht gerade dafür ausgerüstet. Für uns ist es unmöglich, da lebend wieder rauszukommen.«
Gwyn schmunzelte und schob die Hände in die Taschen. »Glaub mir, wenn du genug Zeit mit Machairi verbracht hast, streichst du das Wort unmöglich irgendwann aus deinem Wortschatz.«
»Ach ja, und wie viele Leute gehen bei euch im Schnitt pro Woche dabei drauf?«, stieß sie hervor und umschlang sich selbst mit den Armen.
Gwyn zog die Augenbrauen zusammen. »Du überschätzt seine Opferbereitschaft. Es wird nie jemand einfach zurückgelassen.« Sein ewiges Grinsen war verschwunden und er sah ehrlich betrübt aus, sodass Leén sich augenblicklich schuldig fühlte. »Einen haben wir verloren«, murmelte er dann.
»Tut mir leid«, flüsterte Leén. »Ich wollte nicht ... taktlos sein.« Sie senkte den Kopf und betrachtete die Klinge in ihren Händen.
Ein reines Kopfschütteln war die Antwort und sie fühlte sich noch schlechter, dann kehrte urplötzlich das Grinsen zurück und Gwyn fragte: »Fühlst du dich geehrt, dass er jetzt auch schon nach dir geworfen hat?«
»Hat er nicht«, murmelte sie und drehte die Waffe in der Hand.
»Nicht?« Gwyn hob skeptisch die Augenbrauen. »Was dann? Ärmel auf die Reling genagelt … Millimeter neben der Hand ins Holz gerammt?«
Sie schüttelte den Kopf und spürte, zu ihrer eigenen Überraschung, dass sie verlegen wurde. »Er hat es mir einfach gegeben ... zur Verteidigung.«
Gwyn stand im wahrsten Sinne des Wortes der Mund offen. »Das ... das ist ...« Er schüttelte den Kopf und starrte wieder auf den silberglänzenden Dolch. »Das ist unmö... erstaunlich«, wiederholte er seinen Satz dann etwas zusammenhängender, und Leén musste etwas schmunzeln. Offenbar hatte er das Wort doch noch nicht aus seinem Wortschatz verbannt. »Ist dir klar, was für eine ... ja ... Ehre das ist?«, fragte er dann und tippte auf den Messerschaft in ihrer Hand. »Das ist, als würde er dir mal eben einen Teil seiner Seele in die Hand drücken!«
Skeptisch sah sie ihn an. »Er wirft damit auf Leute!« Sie schüttelte den Kopf. »Er sollte besser auf seine Seele aufpassen.«
»Ja, aber wenn es irgendwie geht, holt er sie immer wieder zurück«, versicherte er und seine Augen waren noch immer weiter aufgerissen als gewöhnlich. »Jetzt bin ich fast neidisch.«
»Du sollst wenigstens nicht als Sklave verkauft werden«, murmelte sie und umfasste den Dolch etwas fester.
Der Zhaki fuhr zusammen. »Bitte?« Fast übertrieben schockiert sah Gwyn sie an und legte den Kopf schief.
»Ja, ich war auch erleichtert und überrascht, dass ...«, sie wusste nicht, wie sie Machairi nennen sollte, »... er sich nicht darauf eingelassen hat.«
»Du kennst ihn wirklich überhaupt nicht«, schmunzelte Gwyn und rieb sich über die Stirn.
»Ich glaube nicht, dass man mich als vollwertiges Mitglied eurer ... Gruppe sehen kann«, gab sie zu bedenken und lehnte sich vorsichtig gegen die Reling, um nicht noch einmal über die Seilrolle zu fallen.
»Er würde dich auch nicht verkaufen, wenn du schon eine Sklavin wärst und er für das gebotene Geld den ganzen Bienenstock kaufen könnte«, versicherte Gwyn mit Nachdruck und wieder wich sein Grinsen der Ernsthaftigkeit. »Selbst wenn Sklaven nicht üblicherweise Bienen wären, würde keiner von uns jemals freiwillig einen anderen Menschen verkaufen.«
Seine Sicherheit und auch seine Überzeugung brachten Leén dazu innezuhalten. Sie hätte den Schatten durchaus zugetraut, auch ihren Teil am Sklavenhandel zu verdienen. Vielleicht nicht Gwyn, aber von jemandem, der so kalt und sachlich war wie Machairi, hätte sie solche Geschäfte durchaus erwartet. Sie hätte nicht behauptet, dass er das gerne tat, nur dass es ihm zuzutrauen war, aber Gwyn sah das offensichtlich ganz anders. Also hatte der entweder eine viel zu hohe Meinung von seinem dunklen Anführer, oder aber er hatte schlicht Recht. Deshalb biss sie sich auf die Lippe und widersprach nicht weiter. Offensichtlich hatte sie noch eine Menge über den Schatten und sein Gefolge zu lernen und vielleicht war eine Schifffahrt, bei der sie alle auf engem Raum waren und gezwungenermaßen Zeit miteinander verbrachten, der richtige Ort dafür.