Читать книгу Morgen ist woanders - Elisabeth Etz - Страница 11
Sternwartestraße
ОглавлениеVor den Augen meiner Mutter das Haus zu verlassen, war eine Sache. Vor den Augen meines Vaters wieder anzutanzen, eine andere.
Ich wünschte, ich hätte einen anderen Ort, wo ich hingehen könnte. Oder dass ich zumindest die verdammte Nachricht nicht hinterlassen und den Schlüssel nicht in den Postkasten geworfen hätte. Jetzt stehe ich so blöd da, wie man es sich nur vorstellen kann. Es ist erniedrigend, noch einmal an derselben Tür zu klingeln.
Macht eh keiner auf. Na toll. Ich stehe in der Kälte und sehe meinem Atem zu, wie er in der Luft Wölkchen bildet. Was nun?
Zu meinem Glück öffnet sich immerhin nach einigen Minuten die Haustür. Ein etwa Zehnjähriger mit Spongebobrucksack verlässt das Haus. Er sieht mich seltsam an, als ich mit all meinem Gepäck das Haus betrete, bevor die Tür wieder zufällt. Aber entweder er traut sich nicht oder es ist ihm egal, denn er sagt nichts, sondern läuft eilig die Straße hinunter.
Im Haus wäre ich also. Missmutig sehe ich den Postkasten an. Da drinnen ist, was ich brauche. Nur ein paar Zentimeter von mir entfernt und doch unerreichbar. Ich leuchte mit dem Lämpchen, das sich an meinem eigenen Schlüsselbund befindet, durch die Öffnung im Blech und spähe hinein.
Das, was da so glänzt, muss der Schlüssel sein.
Ein echter Held hätte jetzt einen Draht dabei und würde den Schlüssel geschickt durch den Schlitz ziehen. Sollte ich vielleicht in meinem Rucksack nachsehen, ob ich einen finde? Blödsinn. Ich führe für gewöhnlich keine Drähte mit mir. Nachdem mir aber nichts anderes einfällt, beginne ich, meine Sachen zu durchsuchen. Wenn jetzt bloß keiner kommt.
Kommt aber jemand. Genau in solchen Momenten kommt immer jemand. Ich höre, wie die Haustür von außen aufgesperrt wird. Fuck. Wie erkläre ich jetzt, warum ich hier inmitten meiner Sachen am Boden sitze?
Das Spongebobkind von vorhin kommt mir entgegen und starrt mich entgeistert an.
»Hallo«, sage ich, bekomme aber keine Antwort. Vorsichtig geht es an mir vorbei, so als könnte ich es jeden Moment anspringen. Vielleicht sollte ich das tun. Dem Kind den Mund zuhalten und es mit vorgehaltener Pistole zwingen, mir seinen Briefkastenschlüssel auszuhändigen. Der dann zufälligerweise auch für meinen Postkasten passt.
Im Film geht das immer so einfach. In der Realität passt natürlich gar nichts und ich springe niemanden an, sondern warte, bis der Kleine an mir vorbei ist, und ich höre, wie er die Stufen hinaufläuft. Jetzt muss mir schnell etwas einfallen. Der petzt bestimmt und ich habe gleich ein besorgtes Elternteil vor mir stehen, das mich fragt, was ich hier mache.
Genervt stopfe ich meine Sachen wieder in meinen Rucksack zurück. Kein Draht weit und breit. Ich sehe noch einmal im Seitenfach nach. Saubere und gebrauchte Taschentücher, Gummiringe, Bleistiftstummel, Taschenmesser, Kaugummis …
Das Taschenmesser! Vielleicht kriege ich damit die Tür zum Postfach auf? Ist schließlich nur aus Blech. Ich bin echt ein Idiot. Wegen meiner großen Klappe muss ich jetzt einen Briefkasten aufbrechen, um in eine Wohnung zu gelangen, die mich nicht haben will.
Vandalismus war noch nie mein Ding, aber jetzt ist es einfach notwendig. Ich schiebe die Klinge in den Spalt der Postkastentür und beginne zu hebeln. Immer wieder unterbreche ich, um zu lauschen, ob jemand kommt. Zum Glück ist das nicht der Fall.
Schließlich steht der untere Teil des Türchens einen halben Zentimeter offen. Mit den Fingern komme ich da nicht rein. Ich ziehe die Pinzette aus dem Taschenmesser und stochere in den Spalt hinein. Mehrmals hole ich sie leer wieder hervor. Doch dann bekommt sie etwas Festes zu fassen. Vorsichtig drehe und ziehe ich so lange, bis ein Schlüsselring zu sehen ist, dem ein Schlüssel folgt.
Geschafft. Ich halte tatsächlich den Schlüssel zur Wohnung meines Vaters in den Händen. Meine Fingernägel sind eingerissen und mein Taschenmesser ist im Arsch. Ich fahre mit dem Finger die Klinge entlang, die nun mehrere Einbuchtungen hat. Egal. Ich habe den Schlüssel, das ist es, was zählt.
Als ich die Stiegen hinaufgehe, kommt mir ein älterer Herr entgegen. »Haben Sie diesen Lärm gehört?«, frage ich ihn. »Irgendwo waren da ganz komische Geräusche.«
Der Mann hält sich eine Hand wie einen Trichter ans Ohr. »Entschuldigung, ich habe Sie nicht verstanden. Wenn Sie bitte wiederholen möchten …«
Ich lächle ihn an und schüttle den Kopf. »Nicht so wichtig«, schreie ich.
»Ach so.« Der Mann lächelt zurück. »Schönen Tag noch.«
Ich grüße zurück und mache, dass ich weiterkomme. Der Schlüssel sperrt genauso wie heute früh. Die Wohnung sieht auch noch so aus, wie ich sie verlassen habe. Auf dem Tisch liegt meine Nachricht. Erleichtert zerreiße ich den Zettel in kleine Schnipsel.
Noch zwei Tage, bis Gudrun kommt. Vorher muss ich hier weg. Also noch eine Nacht ein Dach über dem Kopf. Das ist nicht viel, aber es ist besser als nichts. Bis morgen muss mir schleunigst etwas einfallen.
Nachdem ich mir etwas zu Essen gemacht habe, setze ich mich aufs Sofa und suche das WLAN-Netzwerk. Der Code steht auf einem Zettel an der Pinnwand.
Ich weiß nicht genau, wonach ich suchen will, also tippe ich einfach wahllos Sätze in die Suchmaschine.
wo soll ich hin
Ein paar dramatische Youtube-Videos.
Wo soll ich hin / wenn ich nicht mehr bin / hat das alles einen Sinn / wo soll ich hin / wenn ich tot bin
Ich gehe weiter zum nächsten Eintrag.
Wo soll ich hin, während in mir Berge stürzen.
Rilke. Der hilft mir auch nicht weiter.
Das nächste.
Wo soll ich fliehen hin, weil ich beschweret bin mit vielen großen Sünden?
Ach, lasst mich doch in Ruhe.
Ich gehe die weiteren Suchergebnisse durch, die Google mir auflistet. Eines spannender als das andere. Ich schaue gar nicht genau hin.
Mein Haus ist dein Haus. Ha! Loswerden willst du mich. Ich störe hier doch nur.
Die Buchstaben von Google werden heute von bunten Tieren in die Luft gehoben. Google ist immer fröhlich.
mein haus ist dein haus du arsch, gebe ich ein.
mein haus ist dein haus.
Wieder überfliege ich die Suchergebnisse. Lauter sinnloses Zeug.
Doch an einem bleibe ich hängen.
IYH – It’s Your Home – find places to stay all around the world
Places to stay. Bingo. Das ist, wonach ich suche.
Do you love meeting people from other cultures? Do you love travelling? Do you love helping other people? Then this is the place for you to be!
Andere Kulturen sind mir im Moment ziemlich egal, trotzdem lese ich weiter.
Places to stay, denke ich.
Das sagen unsere Mitglieder, steht da. Jemand namens Cricket aus Taiwan schreibt:
IYH is an amazing network. It’s a place where people don’t just offer you a place to stay but also open their hearts.
Und dann:
1. Schritt: Account zulegen
2. Schritt: Profil vervollständigen
3. Schritt: Foto hochladen
4. Schritt: andere Mitglieder kontaktieren
Der Account geht schnell und unkompliziert. Aber: Wer bin ich? Ich kann schlecht als Jakob in meiner eigenen Stadt Urlaub machen. Die würden mich doch fragen, ob ich spinne.
Wer könnte ich also sein? Und woher?
Eine Stunde später habe ich ein vollständiges Profil von mir. Nickname: Jay. Jay wie J. J. Wie Jake oder John oder Jeremy. Jeremy ist gut. Mit Jeremy kann ich mich anfreunden. Jeremy also. Aus Glasgow. Über Google Maps kann ich mir sogar ein Haus aussuchen. Liberton Street, gleich neben der Carntyne Primary School. Hübsches Haus, hübscher Garten. Unser Nachbar mäht sicher gerade den Rasen.
Erste Frage: Warum ist Jeremy in Wien?
Urlaub, was sonst. Aber nicht so mit Hotel und Sightseeing und nach zwei Wochen wieder heim. Nein, Jeremy hat Größeres vor. Ist gerade mit der Schule fertig, hat ein bisschen gejobbt und will jetzt erst mal rumreisen. Hat in Hamburg Halt gemacht und danach in München. Jetzt sind ein paar Tage Wien dran und dann will er weiter in den Süden. Balkan und so. Balkan klingt immer gut. Klingt nach Sehnsucht und Schnaps und Soundtrack von Shantel.
Ich merke, wie sich meine Laune hebt. Es macht Spaß, mir jemanden wie Jeremy auszudenken. Einen, der nicht bloß ein zweidimensionaler Avatar bleibt, sondern real in 3D hier vom Sessel aufstehen und in die Welt hinausgehen wird. Mit meiner rechten Hand ergreife ich meine linke und schüttle sie. »Hallo Jeremy«, sage ich.
Zweite Frage: Warum spricht er deutsch?
In Glasgow gibt’s sicher eine deutsche Schule. Wenn ich ab und zu englische Wörter einwerfe, nimmt man mir das schon ab. Ist nur die Frage, ob mein Englisch gut genug ist, falls es mal drauf ankommt. Den Akzent krieg ich hin.
Vielleicht bin ich übergeschnappt. Aber ich glaube, es könnte funktionieren.
Ich fühle mich aufgeregt wie ein kleines Kind vor Weihnachten. Ich bin nicht mehr Jakob, der nicht mehr weiterweiß. Ich bin Jeremy. Jeremy der schottische Tourist, der ganz genau weiß, was er will. Jeremy macht das. Der lässt sich nicht unterkriegen.
blueballoon, 28, Programmierer, Motto: to enjoy every day
Klingt doch gut. Ich drücke auf Nachricht an blueballoon senden.
Hey blueballoon, ich bin Jeremy aus Glasgow und gerade auf meiner ersten Reise nach Wien. Ich bin erst vor kurzem auf IYH gestoßen und habe deshalb leider noch keine Bewertungen oder Freunde. Wenn ich trotzdem eine Nacht (oder ein paar Nächte) in deinem Haus verbringen könnte, wäre das toll! Ich komme morgen Nachmittag an.
Vielen Dank, Jeremy
Ist das okay so? Nicht zu förmlich? Ich habe keine Ahnung, wie man solche Anfragen schreibt. Soll ich das so abschicken? Wenn es schiefgeht, habe ich zumindest noch einen Tag Zeit, mir was anderes zu überlegen. Andere Leute anzuschreiben. Mal sehen, wie blueballoon auf mein Mail reagiert. Schließlich gibt sein Profil an, dass er Anfragen zu 100% beantwortet und sicher einen Schlafplatz hat. Also ja, abschicken.
Tatsächlich, zwei Stunden später habe ich eine Nachricht von blueballoon in meinem Posteingang.
hallo jeremy, ich hab grad IYH-gäste, ich muss sie noch fragen, wie lange sie bleiben wollen. wenn sie morgen schon fahren, kannst du gerne kommen! melde mich, sobald ich etwas weiß. andi
blueballoon heißt also Andi.
Den Rest des Tages lümmle ich in der Wohnung herum. Mein Vater arbeitet offensichtlich lange, wenn er denn tatsächlich arbeitet und nicht einfach vor mir geflüchtet ist. Alle zehn Minuten checke ich meine Inbox. Und siehe da, am Abend ist die nächste Nachricht da. Von blueballoon-Andi.
you are very welcome!, steht da. wann wirst du ankommen? soll ich dich vom flughafen oder bahnhof abholen?
Ich bin perplex. Der Typ will gar nicht wissen, wie lange ich vorhabe zu bleiben. Mein eigener Vater will mich so schnell wie möglich loswerden – dieser Typ kennt mich nicht mal und würde mich sogar abholen!?! Und ich muss nichts zahlen, um in seiner Wohnung zu wohnen!
Aber dann wird mir mulmig. Das ist doch nicht normal, wildfremde Leute einfach vom Flughafen abzuholen. Hat der nichts Besseres zu tun?
Vielleicht ist Andi gar kein Programmierer, sondern ein Massenmörder? Vielleicht lockt er unschuldige Menschen in seine Wohnung, um dort grausame Spielchen mit ihnen zu treiben? Vielleicht stapeln sich in seinem Keller die Leichen gutgläubiger Touristen?
Ich gehe noch mal auf blueballoons Profil zurück. 137 Freunde. Mitglied seit 2006. Eine nicht enden wollende Reihe an Bewertungen auf Deutsch und Englisch.
andi ist ein wunderbarer mensch … er hat uns vom bahnhof abgeholt … man muss ihn einfach mögen … er weiß wirklich, worum es bei IYH geht … der tag mit andi war der beste meiner ganzen reise …
Okay, wenn die das alle sagen, muss er einigermaßen in Ordnung sein. Ich habe wohl zu viele Gruselfilme gesehen. Wahrscheinlich ist er ein harmloser Typ ohne Freunde, der IYH dazu nutzt, sein Sozialleben aufzupeppen. Außerdem will ich nur dort schlafen. Ich will keine Stadtführung oder sonst ein Drumherum. Ich will eine Matratze, eine Dusche und ein Dach. Das scheint er zu haben.
Aber was soll ich antworten? Wo soll er mich abholen? Schließlich komme ich nirgendwo an, sondern bin bereits hier, und das seit 17 Jahren.
Doch so darf ich gar nicht denken. In IYH gibt es keinen Jakob. Jeremy wird am Sonntag ankommen und alles wird neu sein.
Hey Andi, danke, das ist super! Ich bin gerade in München und habe eine Mitfahrgelegenheit mit dem Auto nach Wien – da kann ich bis zu dir fahren (oder zumindest in deine Nähe). Wann wir genau ankommen, weiß ich nicht, vermutlich irgendwann am Nachmittag. Kann ich mich einfach melden, wenn wir eine Stunde vor Wien sind?
Bis morgen, Jeremy
Wieder frage ich mich, ob das okay ist so. Ich will nicht unhöflich sein, andererseits will ich auch nicht zu förmlich schreiben. Das könnte steif und spießig wirken und ich bin jetzt ein cooler Traveller. Aber zu flapsig geht auch nicht, schließlich kenne ich den Typen nicht und ich will unbedingt in seine Wohnung.
Doch blueballoon scheint meine Art zu schreiben ganz normal zu finden, denn kurz darauf habe ich die nächste Nachricht.
passt, kein problem. ich wohne in der tannengasse, das ist gleich beim westbahnhof. lass dich einfach dort in der nähe absetzen, ich hol dich dann ab. bis morgen!
Der schreibt mir seine Adresse! Ohne mich zu kennen! Was, wenn ich der Massenmörder bin?
Ich suche mir den Weg zur Tannengasse heraus. Von der Wohnung meines Vaters brauche ich vielleicht eine halbe Stunde dorthin. Ich werde Andi am Sonntag um vier schreiben und mich um fünf beim Westbahnhof abholen lassen.
Mein Vater kommt erst spät abends zurück. Nicht, dass ich da schon schlafe, aber als ich den Schlüssel in der Tür höre, tue ich so. Ich will ihm die Verlegenheit ersparen, mit mir reden zu müssen und es doch nicht zu können. Am nächsten Morgen halte ich die Augen geschlossen, bis er aus dem Haus ist. Wohin auch immer.
Zu Mittag beginne ich, meine Sachen zu packen. Noch habe ich genug frische Wäsche, außerdem gibt es Waschsalons. Vielleicht kann ich auch Andi blueballoons Waschmaschine benutzen. Ich verstaue meine Dinge so gut es geht in meinem Tramperrucksack. Meine Schulsachen verstecke ich im Rückenfach. Ich gehe zwar nicht davon aus, dass jemand meine Sachen durchsucht, aber trotzdem. Jeremy sollte lieber nicht mit Schulsachen gesehen werden. Jeremy ist schon fertig mit der Schule. Der muss nicht lernen.
Kurz vor vier schreibe ich eine Nachricht:
Ich bin in einer Stunde am Westbahnhof. Wo treffen wir uns?
Nicht viel später kommt eine zurück:
warte bei gleis 8 – bis gleich
Ich reiße einen Zettel aus meinem Notizbuch und lege ihn mit dem Schlüssel auf den Esstisch. Dann bücke ich mich nach einer Plastikente, die auffallend unökologisch aussieht, und stelle sie daneben. Tschüs, schreibe ich diesmal.
Mehr nicht. Gibt auch nicht mehr zu sagen.
Ich drücke die Plastikente, bis sie quietscht. »Tschüs«, sage ich.
Dann gehe ich.