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Franklinstraße

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Tom Turbo hat mir seine Adresse geschrieben und nachdem ich ein paarmal falsch abgebogen bin, stehe ich vor dem richtigen Haus. An einem Klingelschild steht tatsächlich ›Turbo‹.

Ich muss grinsen, als ich klingle. Entweder der Typ heißt wirklich so, oder er identifiziert sich sehr mit dem sprechenden Fahrrad.

»In den …of rein, dann …inks, Stiege …ei, vierter …ock«, schnarrt eine Stimme aus der Gegensprechanlage.

Das kann Stiege zwei oder auch drei geheißen haben. Ich drücke die Tür auf, die mit einem Knacken nachgibt, und gehe an der ersten Stiege vorbei in den Hof. Links ist die zweite Stiege, also tippe ich darauf. Richtig, im vierten Stock streckt mir Tom Turbo schon die Hand zum Gruß entgegen. »Hi Jeremy.«

»Hallo Tom.«

Toms Wohnung ist kleiner als die von Andi, aber einigermaßen gemütlich. Ich setze mich auf das Sofa, auf dem ich vermutlich auch schlafen werde. Tom stellt mir ohne zu fragen eine Flasche Bier hin, und obwohl ich lieber etwas Alkoholfreies hätte, mache ich einen großen Schluck.

»Heißt du wirklich Turbo?«, frage ich neugierig. Jeremy kann das fragen. Auch wenn man das sprechende Fahrrad in Schottland vermutlich nicht kennt, ist Turbo ein ungewöhnlicher Nachname.

Tom setzt sich auf einen Hocker neben der Couch. »Ja, man möcht’s nicht glauben.«

»Ehrlich?«

Er nickt. »Aber ich heiße nicht wirklich Tom.«

»Nicht? Wie dann?«

»Holger.« Tom nimmt einen Schluck Bier.

»Holger Turbo«, wiederhole ich und kann mir das Grinsen nicht ganz verkneifen.

»Und wie nennen dich die anderen?«, will ich wissen. »Tom oder Holger?«

»Meine Freunde Holger. Meine Gäste Tom.«

»Also Tom für mich«, stelle ich fest.

»Für dich Tom«, bestätigt er. »Du bist also schon ein paar Tage in Wien?«, fragt er gleich darauf.

Der Schreck fährt mir in Arme und Beine. »In Wien?«, versuche ich cool zu bleiben. »Nein, ich komme gerade aus München. Vor zwanzig Minuten hat mich mein Kumpel abgesetzt.«

»Aber dein Profil zeigt an, dass du gestern in Wien warst«, bleibt Tom dabei. »Hast dich zumindest gestern Nachmittag hier eingeloggt.«

»In … Wien … eingeloggt?«, stammle ich und gleichzeitig denke ich Scheißescheiße. Dass das Profil anzeigt, wo man sich zuletzt eingeloggt hat, ist mir nicht aufgefallen. Was soll ich jetzt sagen? Bloß nicht die Nerven verlieren.

Aber Tom lacht nur. »Ach, so was kommt vor. Ein Freund von mir ist ständig in Stockholm eingeloggt, dabei war der noch nie in Schweden. Manchmal spinnt das System einfach.« Ich lache erleichtert, aber mein Herz klopft wie verrückt. Ich muss auf solche Dinge besser achtgeben. Nicht, dass mich eine Kleinigkeit verrät.

Tom Turbo ist anders als blueballoon. Er will sich mit mir unterhalten. Richtig. Über Schottland und so.

Ich erzähle ihm alles, was ich von Kendra weiß. Ja, es regnet ständig. Ja, die Highlands sind faszinierend, aber den öffentlichen Verkehr kann man vergessen. Nein, wir spielen nicht alle Dudelsack, aber ich habe tatsächlich einen Kilt zuhause. »So wie man hier ein Dirndl hat oder eine Lederhose.« Ich spreche es ›Dörndl‹ aus und ›Leyderhose‹.

Tom lacht. »Ich hab sowas nicht.«

Ich auch nicht, aber woher soll Jeremy das wissen.

Tom will ein Foto von Jeremy im Kilt sehen, aber Jeremy winkt ab. Dafür erzähle ich, was Kendra mir erzählt hat. Dass nämlich jeder Clan ein eigenes Stoffmuster hat, und wenn man nicht vor allzu kurzer Zeit eingewandert ist, weiß man auch, zu welchem Clan man gehört und welchen Stoff man hat. Nicht, dass das im Alltag noch irgendeine Rolle spielen würde. Wenn man Glück hat, gibt es mehrere Familiennamen im Stammbaum und man kann sich den Stoff mit den schöneren Farben aussuchen.

»Schau, so sehen die Kilts unserer Familie aus.« Ich halte Tom mein Handy hin, auf dem ich Kendras Familientracht ergoogelt habe. Hat sie mir damals gezeigt.

»Und welcher Clan ist das?«

Auf die Frage bin ich inzwischen vorbereitet. »Gunn. So heiße ich mit Nachnamen. Es gibt aber genug Leute im Clan, die längst nicht mehr so heißen, die haben trotzdem die Gunn-Tracht.«

Kendra zum Beispiel. Ihren Nachnamen zu klauen, käme mir zu dreist vor, aber zu ihrem Clan würde ich gerne gehören. Außerdem gefällt mir das Muster besser als so manches andere.

»Und die Frauen haben nichts?«, will Tom wissen. »So dirndlmäßig oder so?«

Ich schüttle den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.« Das kann ich zugeben, denn das hat Kendra mir damals auch geantwortet.

»Du und sag, stimmt das, dass ihr drunter keine Unterhosen tragt?« Tom fragt tatsächlich genau die Dinge, die ich Kendra damals auch gefragt habe. Aber klar, das mit den Unterhosen wollen immer alle wissen, hat sie damals gemeint.

»Das hängt davon ab, wie ernst du es nimmst.« Ich grinse. »Und wie sehr du den Leuten in deiner Umgebung vertrauen kannst.«

Tom lacht und will danach nichts mehr über schottische Kleidungsgewohnheiten wissen. Zum Glück.

Tom ist okay, aber auch ein bisschen anstrengend. Ich habe solches Glück mit Andi gehabt, dass ich wohl etwas verwöhnt bin. Schlüssel gibt es diesmal keinen für mich.

Du hast 2 Freundschaftsanfragen steht da, als ich auf IYH einlogge.

blueballoon hat dir eine Freundschaftsanfrage geschickt. Bitte bestätige diesen Link oder weise ihn ab.

Ich bestätige.

blueballoon hat dir eine Bewertung hinterlassen.

Ich scrolle hinunter, um zu lesen, was Andi geschrieben hat.

Dass ich Jeremys erster Gastgeber war, hat man gar nicht gemerkt – so unkompliziert ist es selten mit einem Gast. Wir hatten so viel Spaß zusammen! Viel Glück auf deinem Weg Richtung Balkan, und melde dich auf dem Rückweg, ja?

Auch von Yossi und Anat ist was da. Freundschaftsanfrage und Bewertung.

You have to love Jeremy! steht da. In this superficial world it is rare to find people who are so much themselves. We’re sure our paths will cross again in Vienna and if you ever decide to travel with us you are more than welcome!

People who are so much themselves, denke ich. Ich weiß nicht, ob ich schockiert oder geschmeichelt sein soll. Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem. So much myself.

Ich mache mich daran, ebenfalls Bewertungen zu hinterlassen, als Tom mir über die Schulter schaut. Hastig drücke ich die Seite weg. Wenn er sieht, dass ich Andi eine Bewertung hinterlasse, merkt er, dass ich tatsächlich schon in Wien war.

»Wollt nur sagen, dass das Essen fertig ist. Hättest ruhig noch fertigmachen können. Die Nudeln laufen nicht davon.«

Ich stehe auf und schiebe den Stuhl auf die Seite. »Ach, das, was ich tun wollte, auch nicht«, sage ich locker, obwohl ich mich ärgere, dass ich Andi und den beiden nicht gleich eine Bewertung hinterlassen kann. »Und Nudeln werden kalt.«

Tom gabelt mir Spaghetti auf den Teller. »Soße nimm dir einfach selber.«

»Mhm.« Ich leere einen Schöpflöffel voll über meine Nudeln und greife nach dem Parmesan. »Wie hat dir München gefallen?«, will Tom wissen.

»Warst du noch nie dort?«

Er schüttelt den Kopf. »Nur einmal als ich klein war.«

›Ich auch‹, würde Jakob jetzt antworten. Es ist Ewigkeiten her, dass ich einmal mit Lukas und seinen Eltern in Bayern war. Ich kann mich nur noch an Weißwürste in einer Bierhalle erinnern, aber das erscheint mir so klischeehaft, dass ich daran zweifle, dass es wirklich passiert ist.

»Das Technische Museum dort ist sehr genial«, sage ich, denn daran habe ich auch noch vage Erinnerungen. Ich weiß noch, dass ich es toll gefunden habe und mit Lukas einen ganzen Tag lang durch die riesigen Räume gelaufen bin. Ob ich es jetzt noch immer so gut finden würde, weiß ich nicht. Aber auch sonst weiß ich wenig von München.

»Ja, das hab ich auch schon gehört. Was gibt’s denn dort?«

»Ach, alles Mögliche. Alte Flugzeuge zum Beispiel«, sage ich aufs Geratewohl. Ein technisches Museum hat so etwas sicher.

»Das in Wien ist auch nicht schlecht«, meint Tom.

»Ach, echt?« Ich tue so, als würde ich mich brennend für das Wiener Technische Museum interessieren, um Tom davon abzuhalten, mich noch mehr über das in München zu fragen.

Nachdem wir mit dem Essen fertig sind, weiß ich, dass ich am nächsten Tag ins Technische Museum fahren muss, denn ich habe Jeremy mit großem Interesse für alte Dampfmaschinen ausgestattet, und laut Tom gibt es dort eine ganze Menge davon, die noch dazu jeden Sonntag vorgeführt werden. Morgen ist Sonntag, ich muss mir das also wohl oder übel ansehen, selbst wenn ich dazu nicht die geringste Lust habe. Immerhin fragt mich Tom nicht weiter aus.

Am Montag haben wir Englischschularbeit und ich habe das Buch, zu dem wir garantiert eine Aufgabe bekommen, erst zur Hälfte gelesen.

»Was liest du da?«, will Tom wissen.

Ich halte das Buch in die Höhe, so dass er das Cover sehen kann.

»The Picture of Dorian Gray«, liest er vor. »Findest du so was spannend? Wir mussten das in der Schule lesen.«

»Geht so.«

»Warum liest du’s dann, wenn’s nicht gut ist?«

»Wenn ich ein Buch anfange, lese ich es immer fertig.«

»Auch wenn’s scheiße ist?«

»Auch dann.«

Das ist völliger Blödsinn. Ich täte nichts lieber, als das Buch in eine Ecke zu schmeißen, und mich, so wie Tom, von der Millionenshow berieseln zu lassen.

»Gibt’s so was bei euch auch?« Er deutet auf den Moderator, der einem schwitzenden Mann gerade die 200-Euro-Frage stellt.

»Millionenshow? Ja, so etwas gibt es wohl überall, oder?«

»Wie heißt’n das bei euch?«

Ach Tom, musst du diesen ganzen Scheiß fragen? Ich hab doch keine Ahnung, wie das bei uns heißt. Ich weiß nicht mal, ob wir so was überhaupt haben.

Blitzschnell lege ich mir im Kopf eine Geschichte zurecht, in der Jeremys Eltern Zeugen Jehovas sind und er somit keinen Fernseher hat. Ich weiß zwar nicht, ob Zeugen Jehovas das Fernsehen verboten ist, aber etwas Besseres fällt mir auf die Schnelle nicht ein.

Doch zum Glück stellt der Moderator gerade eine Frage, auf die Tom anscheinend die Antwort weiß.

»Ungelegte, du Dillo!«, ruft er dem Mann im Fernseher aufgeregt zu.

»Ungelegte!« Dann dreht er sich zu mir. »›Um welche Eier soll man sich nicht kümmern?‹ heißt die Frage und dieser Schwachkopf ist sich nicht sicher, ob er ›hartgekochte‹ sagen soll!«

»Wollen Sie jetzt schon Ihren Telefonjoker verbrauchen?«, fragt der Moderator süffisant.

Seine Frage an mich hat Tom anscheinend vergessen. Ich atme erleichtert auf. Gleichzeitig ärgere ich mich über mich selbst. Ich muss mir Jeremys Vergangenheit besser überlegen. Doch ich weiß, dass ich nicht auf alle Fragen vorbereitet sein kann. Wer kann damit rechnen, dass Tom den Namen der britischen Millionenshow wissen will.

»Meine kleine Nichte sagt immer ›Melonenshow‹«, erzählt er lachend.

»Süß«, sage ich, obwohl ich das nicht mal ansatzweise süß finde.

Dann klingelt mein Telefon und rettet mich vor weiteren unangenehmen Fragen. Meine Mutter. Endlich. Ich dachte schon, die meldet sich nie. Schnell mache ich die Wohnungstür auf und setze mich auf ein Fenstersims am Gang.

Tief durchatmen. »Hallo?«

»Hallo. Wo bist du?«

»Das weißt du doch.«

Schweigen.

Es ist komisch. Das Schlimmste, was ich meiner Mutter erzählen kann, ist, dass ich bei meinem Vater leben will. Gleichzeitig ist es das Einzige, das sie akzeptiert. Weil sie weiß, dass sie es akzeptieren muss.

»Ich dachte, du bist vielleicht nur bei Lukas.«

»Nein, bin ich nicht.« Das stimmt sogar.

Schweigen.

»Ist das jetzt deine Rache, oder was?«

»Das hat nichts mit Rache zu tun«, sage ich, so ruhig ich kann. »Ich will einfach ein bisschen Zeit mit meinem Erzeuger verbringen. Das ist mein gutes Recht.«

»Und er will das auch?« Ihre Stimme klingt belegt.

»Ja«, sage ich und bemühe mich, meine Stimme fest klingen zu lassen. »Ja, das will er.«

»Na dann«, sagt sie. Und gleich darauf: »Morgen ist Sonntag.«

»Ich weiß.«

»Willst du morgen zum Mittagessen kommen?«

»Ähm … Mama … also …«

»Es gibt Gulasch.«

»Aha.«

»Ich würd mich wirklich freuen«

Sie tut mir leid. Dabei habe ich mir doch geschworen, dass sie mir nie wieder leidtun wird. Ich seufze. »In Ordnung.«

Komme ich eben zum Sonntagsessen. Das macht man doch so, oder? Es gibt genug Kinder, die manchmal hier, manchmal dort wohnen. Mal bei Mama, mal bei Papa. Ich weiß auch nicht, wieso ich nicht früher auf diese Idee gekommen bin.

Natürlich weiß ich, warum ich nicht auf diese Idee gekommen bin. Weil es nicht geht. Aber das muss meine Mutter nicht wissen.

Bevor ich wieder reingehe, checke ich noch schnell den Namen der britischen Millionenshow.

» Who wants to be a millionaire? heißt die übrigens bei uns«, sage ich beiläufig zu Tom und setze mich neben ihn auf die Couch. »Die Sendung wurde aber 2014 eingestellt.«

»Warum denn das?«

Ich zucke die Achseln. »Keine Ahnung. Schlechte Quoten vielleicht oder wieder irgendein Skandal. 2001 gab es schon einmal einen.« Und dann erzähle ich ihm die Geschichte, wie einem Kandidaten der Hauptgewinn nachträglich aberkannt wurde, weil er sich mit Freunden im Publikum Signale ausgemacht hatte, die ihm die richtige Antwort zeigten.

»Krass«, sagt Tom.

Ich nicke wissend. Danke Wikipedia.

Morgen ist woanders

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