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Tannengasse

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So schnell nach dem Essen habe ich mich noch nie an meine Hausaufgaben gesetzt. Normalerweise schmeiße ich mich erst mal aufs Bett, spiele Computer oder blättere in irgendeinem Magazin, ohne es richtig zu lesen.

Aber jetzt ist es anders. Hausaufgaben gehören zu Jakob, und der ist nicht hier. Alles was Jakob ist, muss schnell erledigt werden, um Platz zu machen für Jeremy.

Natürlich könnte ich einfach drauf pfeifen. Einfach keine Hausaufgaben mehr machen, nicht mehr für Tests und Schularbeiten lernen, einfach Tourist spielen. Lust dazu hätte ich. Aber das geht nicht. Ich war immer gut in der Schule und es würde auffallen, wenn meine Noten plötzlich absacken. Man würde fragen, was los ist. Ob etwas los ist. Das will ich vermeiden. Außerdem fehlen mir nur noch eineinhalb Jahre. Zehneinhalb habe ich schon rum, und das Ganze jetzt sausen zu lassen, wäre Leichtsinn.

Ich habe keine Ahnung, was ich nach der Schule machen will. Es gibt kein Fach, das mich besonders begeistert, ich kann noch nicht mal sagen, ob ich eher der mathematische oder der Sprachen-Typ bin. Viele würden wahrscheinlich gleich auf Sprachen tippen, aber ich glaube nicht, dass das stimmt. Mein Englisch ist wegen der Au-pairs akzentfrei, nicht weil ich so talentiert bin. Mein Französisch ist Durchschnitt und ich habe keinerlei Ehrgeiz, irgendwelche anderen Sprachen zu lernen. Aber auch Mathe oder Physik finde ich nicht umwerfend.

Eigentlich interessiert mich gar nichts besonders. Richtig schwer fällt mir aber auch nichts. Wenn jemand gut erklären kann, verstehe ich es. Wenn ich mich hinsetze und lerne, merke ich es mir. Kann es mir niemand erklären oder bin ich zu faul zum Lernen, dann kapiere ich auch nichts. So ist das. Wenn mich jemand nach meinen Berufswünschen fragt, weiß ich keine Antwort. Am liebsten wäre ich Synchronsprecher für Filme. Das würde mir gefallen. Nachsprechen, was andere spielen. Nicht selber spielen müssen. Nicht ich selber sein müssen. Einfach im Dunkeln sitzen und die Leben anderer Menschen spielen. Das wäre etwas für mich.

So aufgeregt war ich beim Hausaufgabenmachen noch nie. Ständig drehe ich mich zur Tür um und zucke bei jedem Knacken zusammen, obwohl ich weiß, dass Andi erst um sechs Uhr heimkommt.

Den Aufsatz müssen wir erst nächste Woche abgeben, aber ich beschließe, ihn schon heute fertig zu schreiben. Wer weiß, wie viel Zeit ich in den nächsten Tagen dazu habe.

Andi will gleich ums Eck abendessen und ich tue ihm den Gefallen. Ein indisches Lokal, von dem er meint, dass Jeremy es unbedingt probiert haben muss.

»Und, wo warst du heute?«, fragt er, nachdem der Kellner die Teller vor uns hingestellt hat.

Auf die Frage bin ich vorbereitet. »Ich habe mal mit dem klassischen Sightseeingprogramm angefangen. Innenstadt und so, Stephansdom, Oper …«

Andi nickt und schiebt sich ein Stück frittiertes Gemüse in den Mund. Pakora heißt das. Muss ich mir merken. Muss mir all diese Dinge merken, die Jeremy sicher weiß, ich aber noch nicht.

»Dann wollte ich in ein typisches Wiener Kaffeehaus, aber ich habe nur so Touristenscheiße gefunden. Ich bin dann im Café Museum gelandet …«

»Brr.« Andi schüttelt sich. »Furchtbar.«

Ich nicke. »Außer mir waren nur Japaner da.«

Andi lacht. »Ich werd dir mal sagen, welche gut sind.«

Darauf habe ich gehofft. Die nächste halbe Stunde verbringt Andi damit, mir versteckte Wiener Kaffeehäuser aufzuzählen, von denen ich tatsächlich die meisten nicht kenne und somit ganz echt und ehrlich überrascht sein kann.

»Wirst sehen, du bleibst länger als bis Mittwoch«, schließt er seinen Monolog und lehnt sich zurück. »Ich wette mit dir.«

Jeremy lächelt. »Kann gut sein.«

»Du solltest aber dein Profil updaten«, sagt Andi. »Hast echt Glück, dass es ich war, dem du deine erste Anfrage geschickt hast. Gibt nicht viele, die sich zurückmelden, wenn du weder Freunde noch Bewertungen hast und so wenig Angaben über dich selbst machst.« »Hm, ja«, sage ich verlegen. »Ich habe erst vor kurzem von IYH erfahren, deshalb kenne ich da noch niemanden.«

»Schon klar, aber einige Felder solltest du schon ausfüllen. Müssen ja nicht alle sein. Und ein Foto hochladen. Damit sich die anderen eine Vorstellung davon machen können, wer du überhaupt bist. Mach das echt so bald wie möglich. Ich schreib dir gleich mal mein WLAN-Passwort auf.«

»Ja, klar«, beeile ich mich zu sagen. »Werde ich morgen machen.«

»Ich hätte gern noch ein Mango-Lassi«, sagt Andi zum Kellner, der unsere Teller abräumt.

»Zwei«, sage ich, auch wenn ich so was vorher noch nie getrunken habe.

Als der Kellner die Rechnung bringt, wird mir mulmig. Nicht, weil die Rechnung so hoch ist, sondern weil ich nach dem Zahlen noch zwanzig Euro in der Geldbörse habe. Zwanzig Euro mitzuhaben war eigentlich immer viel. Aber ich kann nicht einschätzen, wofür ich in der nächsten Zeit noch Geld brauche. Fürs Übernachten nicht, aber dass ich auch Essen und ab und zu andere Dinge brauchen werde, daran habe ich nicht gedacht.

Auf meinem Konto ist noch ein bisschen was, aber nicht wahnsinnig viel. Das nächste Taschengeld überweist mir Mart erst wieder in ein paar Wochen.

Also. Damit sich die anderen eine Vorstellung davon machen können, wer ich überhaupt bin.

Nickname: Jay

Name: Jeremy

Age: Sagen wir 18. Ich sehe älter aus, als ich bin, aber viel mehr als achtzehn oder neunzehn nimmt man mir nicht ab. 18 passt, da fragt niemand blöd.

From: Glasgow, Scotland

Languages: English (excellent), German (excellent). French (beginner)

Lernen die Französisch in Schottland? Na ja, warum auch nicht. Andererseits, unterhalten kann ich mich nicht auf Französisch. Also weglassen. English (excellent), German (excellent)

Friends: Zero (0)

Nicht mehr lange. blueballoon stimmt meiner Freundschaftsanfrage garantiert zu, und dann habe ich einen.

About me: So, jetzt kommt’s. Wie ist Jeremy? Ich klicke mich von Profil zu Profil und schaue, was andere da so schreiben.

open-minded, easy-going, interested in getting to know people from other cultures

Mit copy & paste habe ich bald eine wunderbare Beschreibung zusammen.

What I like in other people: honesty, relaxed attitude, a good sense of humour

Nach einigem Überlegen streiche ich honesty wieder.

Current mission: on my way to the balcans

Kann ich später immer noch ändern.

References: Zero (0)

Auch hier bekomme ich hoffentlich bald eine von blueballoon.

Fehlt nur noch das Foto. Das ist das einzige Problem. Was, wenn es jemand sieht, der weiß, wer ich wirklich bin?

Ich durchsuche meine Fotos nach einem, auf dem man mich garantiert nicht erkennt. Auf dem Snowboard. Mit Kapuze und Sonnenbrille.

Das sollte erst mal genügen.

Jeremy hat Spaß in Wien. Er mag die Stadt und er mag die Leute. Ja, er wird länger bleiben. »Hab ich’s doch gesagt.« Andi grinst zufrieden.

Kartoffelstaerke meldet sich nicht auf meine Anfrage und franzfranz teilt mir mit, dass er gerade zu viel Stress im Leben hat, um jemanden bei sich aufzunehmen.

Mona Mour antwortet mit einer netten Nachricht, in der sie mir erklärt, dass sie gerade bei Freunden wohnt, weil ihre Wohnung abgebrannt ist – not really but kind of abgebrannt, schreibt sie, dass ich mich aber gerne wieder melden könne.

Tom Turbo schließlich hat ein Bett für mich. Allerdings erst ab Samstag.

»Mach dir keine Sorgen«, meint Andi. »Bis Samstag kriegen wir dich hier auch noch irgendwie unter.«

Die Mittwochsgäste sind Anat und Yossi, ein israelisches Pärchen, das gerade aus Holland kommt.

»We wanted to take the ferry home from Rotterdam, but it doesn’t run in winter«, erzählt Anat. »The season starts in march so we’ll stay in Europe until then …«

»Why don’t you just fly?«, will ich wissen.

»We don’t take planes«, sagt Yossi. »Do you know how bad that is for the environment?«

»Äh …«, stottere ich. »Äh … I didn’t fly here from Glasgow either.«

»Did you hitchhike?«, fragt Yossi.

»Äh …« Ich weiß nicht, wie ich ›Mitfahrgelegenheiten‹ auf Englisch sagen soll. »I always knew someone who gave me a lift«, erkläre ich also.

»We basically only ever hitchhike«, wirft Anat ein. »It’s cheaper.«

»Why don’t you hitchhike back to Israel then?«, will ich wissen.

Alle drei sehen mich entgeistert an. »We can’t get there overland«, sagt Anat.

»The route would go through places like Syria.«

»Oh … äh … sure«, murmele ich und sehe zu Boden. Bestimmt laufe ich gerade knallrot an. Aber weder Yossi noch Anat scheint das zu stören, und Andi macht sich daran, die erste Flasche Rotwein zu öffnen.

Andi füllt unsere Gläser. »How do you say ›cheers‹ in Hebrew?«, will er wissen.

»Le’chájim«, sagt Anat.

»Na dann le’chájim«, ruft Andi und hebt sein Glas. »To the environment! To life! To Vienna!«

Die erste Runde mache ich noch mit, aber als Andi nachschenken will, halte ich mein Glas mit der Hand zu. »Ach komm«, ruft Andi.

»Ihr Briten sauft doch sonst auch wie die Löcher.«

Ich schüttle den Kopf. »No, thanks. Wirklich nicht.«

Nicht, dass ich keine Lust hätte, mich zu betrinken. Richtiges Betrinken in einer richtigen Wohnung, nicht im Keller von Freunden, wo man immer befürchten muss, dass die Eltern die Stiege runterkommen. Ein paar Gläser noch und dann mit Andi, Yossi und Anat um die Häuser ziehen. Um richtige Häuser in der Stadt, nicht um die Einfamilienhäuschen torkeln und danach ins Tankstellenklo kotzen.

Ich möchte so gerne, aber ich traue mich nicht. Dass ich am nächsten Tag in die Schule muss, ist nicht so schlimm, das kriege ich schon irgendwie hin. Aber was, wenn ich mich verplappere?

Ganz sicher ist sich Jeremy seiner selbst noch nicht. Es gibt viele Details, die ich mir noch nicht überlegt habe. Ich weiß noch nicht mal seinen Nachnamen. Da ist es mir zu riskant weiterzutrinken.

Trotzdem genieße ich den Abend. Anat, Yossi und Andi leeren ein Glas nach dem anderen und diskutieren über alles Mögliche. Dass ich von den meisten Dingen keine Ahnung habe, ist egal. Es tut gut, sich zurückzulehnen und einfach zuzuhören.

Für einen kurzen Moment sehe ich mich von außen. Sehe mich auf der Küchenbank sitzen als Teil einer Gruppe, von der ich vor ein paar Stunden noch keine Ahnung hatte, dass es sie gibt. Mein Leben als Jakob kommt mir plötzlich unendlich weit weg vor. Als wäre ich schon seit Wochen unterwegs. Als wäre mein Abgang nicht erst zwei Tage her.

»Jeremy is drunk«, kichert Anat und stößt Yossi an. »Look, how he’s smiling all the time.«

»He is just happy«, stellt Andi fest. »Vienna makes him happy.«

Ich lächle noch breiter und nicke. So soll das Leben sein, denke ich.

Andi hat Anat und Yossi im Wohnzimmer einquartiert und mir eine Isomatte auf den Boden seines Schlafzimmers gelegt. Da ich mit Andi im gleichen Zimmer schlafe, traue ich mich nicht, den Wecker zu stellen. Das Vibrieren meines Handys würde Andi vielleicht merken, und Jeremy hätte ziemlichen Erklärungsbedarf. Ich hoffe darauf, dass Andi in die Arbeit muss, aber als ich um halb elf verschlafen durchs Zimmer blinzle, liegt er immer noch im Bett und schnarcht leise.

Er hat sich anscheinend freigenommen und ich beschließe, dasselbe zu tun. Einmal ist keinmal, und jetzt noch in die Schule zu fahren, hätte auch keinen Sinn mehr.

Eine Entschuldigung brauche ich aber für den Fehltag. Wenn ich bei meinem Vater wohne, kann er die doch unterschreiben, oder? Nachdem noch niemand in der Schule je die Unterschrift meines Vaters gesehen hat, kann ich eine erfinden, denke ich.

Warum meldet sich Mart eigentlich nicht?

Warum meldet sich meine Mutter nicht?

Soll ich mich bei ihr melden?

Sicher nicht. Darauf warten die doch bloß.

Morgen ist woanders

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