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Schützenweg

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»Nein.«

»Was heißt ›nein‹? Ich hab schon alles ausgefüllt.«

Mart rührt sich nicht. Ich schiebe ihm die Formulare näher heran.

»Fehlt nur noch die Unterschrift«, sage ich nachdrücklich.

Mart sieht mich schweigend an. »Welche Unterschrift?«, fragt er schließlich.

»Deine. Hier. Und hier.« Ich zeige auf die freien Felder.

Mart schüttelt den Kopf. »Es gibt keine Unterschrift.«

Er sieht mich mit schmalen Augen an. »Was glaubst du, was das kostet?«

»Ich zahl mir das selber«, sage ich mit fester Stimme. »Ich brauch nur die Unterschrift.«

»Ha, selber. Und mit welchem Geld, wenn ich fragen darf?«

»Ich hab im Sommer gearbeitet.«

»Als Drogendealer?« Mart dreht mir den Rücken zu und geht aus dem Raum.

Meine Mutter lehnt im Türstock und sieht uns zu.

Ich weiß, dass ein Austauschjahr in Australien nicht billig ist. Auch wenn es sich um kein Jahr handelt, sondern nur um ein oder zwei Terms. Mit Flug und Unterkunft in einer Gastfamilie kommen da schon einige Tausend Euro zusammen.

Aber zuerst brauche ich die Unterschrift eines Erziehungsberechtigten. Weil Mart mich adoptiert hat, als ich noch zu klein war, um etwas dagegen zu sagen, ist er das. Wenn er unterschrieben hat, lässt er sich beim Geld sicher auch umstimmen. Ist ja nicht so, dass er keins hat. Außerdem gibt es Stipendien, für die ich mich vielleicht bewerben könnte. Gut genug in der Schule wäre ich, und das außerschulische Engagement, das die da verlangen, kann ich ja zumindest mal behaupten.

Flehend sehe ich meine Mutter an. Die könnte schließlich auch unterschreiben.

Sie seufzt demonstrativ. »Mart weiß schon, was er tut. Glaub mir.«

»Mart will mich nur hierhalten, damit er jemanden kontrollieren kann«, fauche ich. »Dabei hat er doch dich.«

»Jetzt reicht’s aber!« Wenn meine Mutter wütend ist, bekommt ihr Hals lauter rote Flecken.

»Ja, mir reicht’s«, schreie ich. »Ich halt es hier nicht mehr aus! Ich geh zu meinem Vater!«

Verdammt, wo kam das jetzt her?

Mart steht wieder im Zimmer. »Wegen einer Unterschrift brauchst du den Herrn aber nicht zu fragen. Erziehungsberechtigt ist der schon lange nicht mehr.«

»Mir scheißegal«, brülle ich. »Ich zieh zu ihm.«

Mart verschränkt die Arme vor der Brust. »Das schau ich mir an.«

Meine Mutter sagt nichts mehr. Sie starrt mich nur an.

»Ihr werdet schon sehen«, fauche ich.

»Wirst viel eher du sehen«, sagt Mart spitz. »Du glaubst doch nicht wirklich, dass du nach all den Jahren dort einfach so vorbeispazieren kannst?«

Ich muss hier raus. Schnell.

Mart geht sogar zur Seite, als ich mich durch den Türrahmen dränge.

»Sag ihm schöne Grüße von mir«, ruft er mir hinterher. Dann lacht er, kurz und hart.

Was jetzt? Die letzten Monate habe ich durchgehalten, weil ich Australien vor Augen hatte. Für den 2. und den 3. Term hätte ich mich auch jetzt im Oktober noch anmelden können. Mit der Aussicht auf zwei Trimester ohne Mart habe ich es ausgehalten, nicht blöd zurückzureden, sondern einfach nur zu nicken oder den Raum zu verlassen, wenn er zu sehr nervte. Weil ich mir naiverweise eingeredet hatte, er würde irgendwann doch unterschreiben. Auch wenn es im Nachhinein betrachtet nie ernsthaft danach ausgesehen hat.

Mit Lukas habe ich mich oft darüber unterhalten, wie es wäre, einfach wegzufahren. Lange hab ich gedacht, wir könnten das machen. Ich könnte das machen. So wie Henrik, den wir jetzt blöderweise in der Klasse haben.

Ein Jahr nach England. Oder Kanada. Oder Australien.

Als ich letztes Jahr Mart mit der Idee kam, dass ich ein Jahr im Ausland verbringen wollte, hätte ich gleich wissen können, dass das nie etwas wird. »Wer soll das bitte finanzieren?«, fragte er mich streng.

»Äh …«

Er sah mich mit spöttischem Grinsen an. »Ich, meinst du?«

Ich nickte vorsichtig.

Da explodierte er. »Glaubst du, mein Geld kommt einfach so von nichts?«

Er zeigte mit ausgestrecktem Arm in alle Richtungen. »Was glaubst du, woher das kommt? Das ist harte Arbeit. Lern du erst mal für dein Geld zu arbeiten, dann kannst du fahren, wohin du willst.«

Ich wusste, dass so ein Auslandsjahr Geld kostete, ich war ja nicht blöd. Aber so, wie ich es verstand, hatten wir Geld. Besser gesagt, hatte Mart Geld. Er gab es auch für mich aus. Bloß nicht unbedingt für das, was ich wollte.

Schon in der Volksschule wäre ich lieber mit den andern Kindern in den Hort gegangen, als von meinem jeweiligen Au-pair von der Schule abgeholt zu werden. Klar, nett waren die alle. Aber sie waren nur ein schlechter Ersatz für Freunde, die sich zum Fangenspielen trafen, gemeinsam an fremden Türglocken klingelten oder sich Süßigkeiten aus dem Automaten zogen.

Beneidet hatte ich sie immer, die Hortkinder mit ihren zerrissenen Ärmeln und dreckigen Hosen. Ich dagegen war schrecklich wohlerzogen. Der kleine blasse Junge mit der Geige und dem britischen Akzent, wenn er McDonald’s sagte oder Slackline oder Shopping Center. Zum Kotzen. So wohlerzogen, dass ich gar nicht in den Spiegel schauen wollte.

Die Hortkinder hatten in Wahrheit gar keine zerrissenen Ärmel oder dreckigen Hosen. Eigentlich sahen sie genauso aus wie ich und wahrscheinlich erlebten sie gar nicht jeden Nachmittag die aufregendsten Abenteuer. Wahrscheinlich saßen sie genauso wie ich vor dem Computer und spielten Moorhuhn. Trotzdem beneidete ich sie. Sie hatten einander. Ich hatte einen schönen britischen Akzent, an den ich mich abends beim Einschlafen kuscheln konnte.

»Außerdem machen die nicht den gleichen Stoff wie bei uns«, war das nächste Argument. »Du wirst das Jahr wiederholen müssen. Das kommt nicht in Frage.«

»Wenn ich mich anstrenge, kann ich den Stoff ja nachlernen.«

Mart lachte spöttisch auf. »Sicher. Wahrscheinlich wirst du sogar gleich ein Jahr überspringen.«

»Du sagst doch selbst immer, dass ich intelligent bin«, wandte ich ein. »Dann kann ich das doch schaffen.«

»Daran zweifle ich auch nicht. Aber ich zweifle daran, dass du deine Faulheit überwindest und es auch tatsächlich tust.« Seine Stimme wurde freundlicher. »Jakob, ich verstehe, dass das im Moment interessant klingt. Aber in deinem Alter hat man nur den Augenblick im Kopf, nicht das große Ganze. Ich war auch einmal jung, ich weiß, wovon ich rede. Wäre damals mein Vater nicht gewesen, der mir meine Flausen ordentlich ausgetrieben hatte, dann würde ich nicht dort stehen, wo ich jetzt bin. Und ihr auch nicht.«

Ich war verdammt froh, dass Marts Vater gestorben war, bevor wir ihn kennenlernen konnten. So wie ihn Mart beschrieb, war er wohl kein angenehmer Zeitgenosse.

»Auslandserfahrung, das ist doch, auf was es ankommt«, versuchte ich, Mart doch noch zu überzeugen.

Mart blieb hart. »Die kriegst du noch früh genug. In jedem Studium gibt es Austauschprogramme. Dann kannst du hingehen, wohin du willst.«

»Aber ich will jetzt weg«, rief ich verzweifelt, obwohl ich wusste, dass das bei Mart am wenigsten zog. »Verstehst du? Jetzt! Nicht irgendwann später, wenn ich studiere.«

Dass ich gar keine Lust hatte, auf die Uni zu gehen, brauchte ich ihm ja nicht zu erzählen.

Mart schüttelte nur den Kopf.

»Und Fremdsprachen …« Diesmal wollte ich nicht lockerlassen.

Mart verzog die Mundwinkel. »Mit deinem Englisch stellst du sowieso alle Kollegen in den Schatten.«

Er wusste, dass ich wusste, dass er recht hatte. Nachdem wir bei Mart eingezogen waren, um Ärztegattin und Stiefsohn zu spielen, war das erste, was er tat, seine alte Sprechstundenhilfe rauszuschmeißen und stattdessen meine Mutter einzustellen. Das zweite war, ein Au-pair zu uns zu holen, das sich um mich kümmern sollte. Jedes Jahr eine andere. An die erste kann ich mich nicht erinnern, sie hieß angeblich Natalia und kam aus Weißrussland. Meine Mutter sagt, ich war verrückt nach ihr. Wird schon so gewesen sein.

Nach Natalia aber hat Mart beschlossen, dass es Zeit war, etwas für meine Bildung zu tun. Weißrussisch erschien ihm nicht so wichtig, also kam Lindsay und sprach Englisch mit mir. Danach gaben sich Donna-Marie, Joy und Kendra die Klinke in die Hand. Nett waren sie alle und zu sagen hatten sie alle nichts. Ich wollte immer, dass die blieb, die gerade da war. Aber alle wollten sie nach einem Jahr wieder weg. Konnte ich auch gut verstehen.

Kendra war sogar mehr als nett. Sie hat dazu beigetragen, dass mein Akzent zu einem schottischen wurde. Danach habe ich mich erfolgreich dagegen gewehrt, ein neues Au-pair zu bekommen. Ich war alt genug, um alleine auf mich aufzupassen. Kendra war die Coolste von allen. Aber sie hat sich nie wieder bei mir gemeldet.

»Es gibt auch Plätze in China«, schwindelte ich, ohne zu wissen, warum. »Stell dir meine Chancen vor, wenn ich Chinesisch könnte. Aufstrebende Wirtschaftsmacht und so.«

»Es gibt auch chinesische Au-pairs«, sagte er trocken. »Willst du eins?« Er tat so, als ob er überlegte. »Ich glaube, du bist schon ein bisschen zu alt für so was. Aber ich kann gleich mal im Konfuzius-Institut anrufen, die machen sicher auch Jugendkurse.«

Scheiße, nicht dass ich ihn jetzt auf eine Idee gebracht hatte.

Er legte mir die Hand auf die Schulter und seine Stimme wurde wieder weich. »Ach Jakob, ich weiß, in deinem Alter sind Freunde sehr wichtig. Aber du musst doch wirklich nicht immer alles machen, was die anderen tun.«

»Das hat damit doch gar nichts zu tun«, presste ich zwischen den Zähnen hervor. Ja, Henrik aus der Klasse über uns hatte mich und Lukas damals auf die Idee gebracht. Aber Henrik war wirklich nicht das, was man als Freund bezeichnen würde.

Doch es war sinnlos. Ich hätte genauso gut gegen eine Wand sprechen können. Nein, eine Wand konnte mich niemals so wütend machen wie Mart. Ich hasste es, wenn er so tat, als wäre ich ein kleiner, verwirrter Teenager.

Ich wollte einfach weg. Sonst nichts.

»Mach dir nichts draus, ich bin auch nicht gefahren«, versucht Lukas, mich zu trösten.

»Das ist nicht dasselbe. Du wolltest gar nicht richtig.«

»Wollte ich schon«, beharrt Lukas. Aber er weiß, dass ich recht habe. Er wollte nur ›irgendwie‹ weg. Seit seine ältere Schwester ausgezogen ist, hat er doppelt so viel Platz zuhause und findet es gut dort. Ich dagegen wollte wirklich weg. Wirklich wie in wirklich wirklich. Was, wenn ich wirklich zu meinem Vater fahre?

Ich lache bitter auf. Haha, witzig. Nächster Vorschlag.

Warum aber eigentlich nicht? Zurück zu Mart und meiner Mutter gehe ich sicher nicht mehr.

Schließlich hat er mich gezeugt. Das verpflichtet doch zu etwas, oder nicht?

Morgen ist woanders

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