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Sternwartestraße

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Mein Vater wohnt in der Stadt. Ich weiß seine Adresse auswendig, weil die auf den Weihnachtspaketen steht, wovon jedes Jahr eines kommt. Besuchen war ich ihn auch mal. Vor zehn Jahren. Als er noch keine neue Familie hatte.

Vater ist eigentlich keine passende Bezeichnung für den letzten Menschen, den interessiert, was ich mache.

Wenn ich das Wort mehrmals hintereinander ausspreche, ergibt es überhaupt keinen Sinn mehr. Vatervatervater. Könnte Vase heißen oder Vatikan oder überhaupt nichts.

Aber das geht einem wohl bei allen Wörtern so.

Wieso fahre ich also ausgerechnet zu ihm?

Es gibt Menschen, die würden jetzt etwas von Schicksal faseln und davon, dass es unergründliche Kräfte gibt, die uns dorthin lenken, wo jemand auf uns wartet.

Mein Vater hat bestimmt nicht auf mich gewartet. Er hat mir die Tür nicht deshalb geöffnet, weil er sie öffnen wollte. Er hat mich reingelassen, weil er nicht wusste, was sonst tun.

Was macht man auch, wenn der eigene Sohn plötzlich an der Haustür klingelt?

Als ich außer Atem im dritten Stock ankomme, steht er in der Tür. »Jakob! Was führt dich hierher?«

»Hallo«, murmle ich.

Er macht keine Anstalten, mich hereinzubitten. »Kann ich dir irgendwie helfen?«

»Hast du Besuch oder so? Störe ich?«

»Ah … nein.« Er macht einen Schritt zurück und ich trete ins Vorzimmer. Der Parkettboden knarrt. Es ist ruhig in der Wohnung, Gudrun und die Kinder sind anscheinend nicht da. Wir stehen uns schweigend gegenüber. Eigentlich wäre ich dran mit Erklären, aber mir fällt nichts ein. Seine Haare sind etwas länger und er hat eine neue Brille. Vielleicht aber auch nicht.

»Kann ich heute bei dir schlafen?«

Wahrscheinlich wäre es geschickter gewesen, nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen. Aber bis vor zehn Minuten habe ich selber noch keine Ahnung gehabt, was ich hier wollte.

»Hast du den Bus verpasst?« Er sieht auf die Uhr. »Du hast den Bus verpasst.«

Ich nicke. So kann man es auch sehen.

Mein Vater runzelt die Stirn und seufzt. Ich kann die Gedanken hinter seiner Stirn lesen. ›Da ist ein Fremder in deiner Wohnung‹, denkt es da. ›Du möchtest ihn am liebsten rausschmeißen. Aber er ist dein Sohn. Söhne schmeißt man nicht raus.‹

Er sieht noch einmal auf die Uhr und überlegt. »Wenn wir schnell sind, könnte ich dich vielleicht noch nachhause fahren.«

»Das wäre toll«, lüge ich, »aber es würde nichts bringen. Ich hab nämlich meinen Schlüssel verloren. Und Mum und Mart kommen erst morgen früh wieder.«

Mein Vater seufzt noch mal. »Pass ein bisschen besser auf deine Sachen auf.«

»Ich glaub, den hat mir wer geklaut«, sage ich schnell. »Als ich aus der U-Bahn ausgestiegen bin, war meine Tasche offen.«

»Aber sonst ist noch alles da?«, fragt mein Vater besorgt.

Ich stelle meine Umhängetasche auf den Boden. »Ich glaube schon.« Es kommt mir blöd vor, einfach so herumzustehen, also beginne ich, in der Tasche herumzukramen. »Ja, alles da«, sage ich. »Nur der Schlüssel fehlt. Vielleicht ist er mir doch herausgefallen.«

»Ich glaube nicht, dass das für deine Mutter in Ordnung ist, wenn du hier schläfst.«

Es gibt wohl nichts, womit er mehr recht hat. Dass ich irgendwann mal meinem Vater verzeihe, muss sich für sie wie ein Schlag in die Magengrube anfühlen. Aber sie hat mich schließlich auch nicht gefragt, wie es sich angefühlt hat, stattdessen Mart vorgesetzt zu bekommen. Und mit Verzeihen hat das hier nichts zu tun. Ich finde, wenn er mich als Kind auf die Straße gesetzt hat, hat er die Verpflichtung, das wieder gutzumachen, indem er mich jetzt bei sich schlafen lässt. Nicht, dass ich mich an damals wirklich erinnern kann.

»Muss sie ja nicht wissen«, werfe ich also ein. »Aber wenn es so ein großes Problem ist … ich find schon was.« Ich hänge mir meine Tasche wieder über die Schulter und mache einen Schritt Richtung Tür. Aber mein Vater ist schneller. Er legt die Hand auf die Türklinke, noch bevor ich danach greifen kann.

»Jakob, das hast du völlig falsch verstanden«, sagt er schnell. »Du bist immer willkommen hier, das weißt du.«

Ich ziehe mir meine Jacke aus und sehe ihn fragend an. Er nickt und deutet auf den Garderobenständer. »Willst du was trinken?«

»M-hm.«

»Mineralwasser, Apfelsaft, Bier … äh, nein kein Bier für dich, also Mineralwasser oder Apfelsaft?«

»Egal.« Ich setze mich an den Küchentisch. Er stellt ein Glas Saft vor mich hin und setzt sich mir mit einer Flasche Bier gegenüber.

»Gudrun ist nicht da?«, frage ich.

»Die ist mit den Kleinen zu ihrer Mutter gefahren. Kommt erst am Sonntag wieder.«

»Ah.«

Er nimmt einen Schluck Bier.

»Ich hab mir das Rauchen abgewöhnt«, sagt er.

Ich nicke und verziehe die Mundwinkel nach oben. »Toll.«

Er deutet auf den Kugelschreiber, den er in der Hand hin und her dreht. »Deshalb muss ich ständig damit herumspielen.«

»Oh.«

Wir sind nicht dafür geschaffen, miteinander zu kommunizieren. Einige Minuten lang sagen wir gar nichts und halten uns an unseren Getränken fest. Ich wundere mich, dass ich so gar keine Gefühle für ihn habe. Weder bin ich sauer auf ihn noch wütend oder traurig. Es ist, als wäre das alles ausgeschaltet, wenn es um meinen Vater geht. Ich habe auch kein sonderliches Bedürfnis, ihn besser kennenzulernen. Ich will nur ein Dach über dem Kopf und im Moment fällt mir nur er ein.

Plötzlich steht er auf. »Du, ich muss jetzt weg, ich bin mit Freunden verabredet. Du kommst allein zurecht, oder?«

»Ja, klar.« Ich bin mir ziemlich sicher, dass er sich das gerade ausgedacht hat, weil ihm die Situation unangenehm ist. Aber es ist mir egal. Ich bin auch nicht gerade heiß auf eine Unterhaltung mit ihm. Er holt Bettzeug aus dem Schrank und wirft es auf das Sofa. »Du kennst die Wohnung.« Es ist mehr eine Feststellung als eine Frage. Ich nicke, obwohl ich mich nicht mehr richtig erinnern kann. »Danke.«

Er lächelt gequält. »Mein Haus ist dein Haus.«

Dann ist er weg.

Ich bin froh darüber, alleine zu sein. Stelle mein leeres Saftglas in die Spüle und hole mir ein Bier aus dem Kühlschrank. Dann wandere ich durch die Zimmer und streiche über die Einrichtungsgegenstände. Alles hier sieht teuer aus. Teuer, aber geschmackvoll. Die Küchenzeile mit den Steinplatten. Der dunkle Esstisch mit den verschnörkelten Beinen. Das Ledersofa im marokkanischen Eck, in dem alles aus Marokko ist oder zumindest so aussieht. Die Bilder an der Wand. Das ökologisch korrekte Holzspielzeug für die Kleinen.

Was zum Teufel mache ich hier? Es wäre so leicht, einfach zu Lukas zu gehen oder noch ein paar Runden zu laufen, bis ich mich wieder beruhigt habe.

Aber etwas ist anders.

Ich gehe nicht mehr zurück.

Dabei war der Streit diesmal gar nicht so besonders schlimm. Nicht schlimmer als sonst. Es gibt Menschen, die würden sagen, es war der Vollmond. Oder der Schütze, der gerade das Haus des Wassermannes durchquert hat. Man könnte auch dem Klimawandel die Schuld geben. Oder Feinstaub, Gluten und Laktose.

Als ich am nächsten Tag aufwache, steht mein Vater mit einer Tasse Kaffee in der Hand am Fenster. Sobald er hört, dass ich mich bewege, dreht er sich zu mir um.

»Guten Morgen.«

»Morgn«, nuschle ich.

»Hätte ich dich aufwecken sollen?«, fragt er unsicher. »Ich wusste nicht, ob du samstags Schule hast.«

Ich schüttle den Kopf und reibe mir die Augen.

»Gut geschlafen?«

»Mhm.«

»Soll ich dir einen Kaffee machen? Oder Tee? Oder …«, er zögert, »Kakao?«

»Danke, geht schon«, murmle ich.

Ich will nicht aufstehen, denn sobald ich aufstehe, muss ich irgendetwas tun. Aber was, weiß ich nicht. Meinem Vater geht es vermutlich genauso.

»Vielleicht doch Kaffee?«, sage ich also.

Mein Vater nickt, sichtlich erleichtert, und macht sich an der Espressomaschine zu schaffen.

Weil er so ungewöhnlich freundlich ist, nehme ich all meinen Mut zusammen. Mein Herz klopft so stark, dass mir fast die Luft wegbleibt.

»Sag mal, könnte ich vielleicht eine Zeit lang bei dir wohnen?«, stoße ich schnell heraus.

Mein Vater sieht erschrocken aus. »Hier, meinst du? Bei uns?«

Ich nicke vorsichtig.

»Äh …«

»Es geht zuhause nicht mehr«, bringe ich gerade noch heraus. »Ich kann nicht mehr.«

»Du kannst nicht mehr«, wiederholt er abwesend. »Und du denkst, bei uns kannst du?«

Ich zucke die Achseln. »Du willst mich nicht.«

Er lächelt verkrampft. »Jakob, das hat nichts mit Wollen zu tun. Natürlich kannst du hier ein paar Tage übernachten. Mein Haus ist dein Haus.«

Ich verziehe mein Gesicht zu einem Grinsen, das wahrscheinlich ebenso gequält wirkt wie seines.

»Aber am Montag kommt Gudrun zurück und was glaubst du, was dann hier los ist, wenn die Kleinen hier herumturnen?«

Ich presse die Lippen aufeinander. Die Kleinen. Meine Geschwister. Irgendwie.

»Schau mal, bis morgen Abend kannst du hierbleiben. Dann hat sich sicher zuhause alles wieder beruhigt.« Er lächelt bemüht. »Ich weiß, es ist nicht leicht als Teenager. Aber das ist es woanders auch nicht. Glaub mir.«

Er steht auf und stellt seine Tasse in die Abwasch. »Ich muss in die Arbeit.«

»Am Samstag?«

»Man kann sich’s leider nicht aussuchen.« Er legt einen Schlüssel vor mich auf den Esstisch.

»Den kannst du bis morgen haben. Und nimm dir einfach aus dem Kühlschrank, was du willst. Weiß nicht, ob was für dich drin ist, aber wenn ja, bedien dich.«

Mein Haus ist dein Haus. Ein paar Tage lang.

Der Inhalt des Kühlschranks passt zum Interieur der Wohnung. Bewusste Ernährung. Teuer, aber mit echtem Wert. Kaum Produkte aus dem Supermarkt, Antipasti vom Italiener, Kürbiskernöl vom Bauern, Fair-Trade-Orangendirektsaft statt Konzentrat.

Ich kann verstehen, warum sie mich nicht wollen.

Dann eben nicht. Ich dränge mich sicher nicht auf.

Eine halbe Stunde nach meinem Vater verlasse ich die Wohnung, schmeiße die Tür hinter mir zu und den Schlüssel in den Briefkasten. Auf dem Esstisch habe ich einen Zettel hinterlassen:

Dich brauch ich eh nicht.

Nicht, dass ich wieder nachhause will. Aber wohin sonst, weiß ich auch nicht.

Mart und meine Mutter wohnen in einem Vorort außerhalb der Stadt. Inmitten von Einfamilienhäusern mit kleinen und mittleren Gärten. Die Straßen haben Namen wie Fliedergasse oder Rosenweg und jede halbe Stunde geht ein Bus in die Stadt. Am Wochenende nur einmal die Stunde.

Als ich um die Ecke zur Busstation biege, sehe ich gerade noch die Bremslichter, dann biegt der Bus um die Ecke. Muss ich also eine Stunde warten. Als wüsste die Buslinie, dass ich da eigentlich gar nicht hinwill.

Morgen ist woanders

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