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Ein schwer zu erreichendes Level

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Andreas saß seit zwei Stunden ununterbrochen vor dem Bildschirm und zeichnete einen menschlichen Situs: Das anatomisch korrekte Bild des zerschlitzten Bauches eines Mannes, dem man das Gedärm herausgerissen hatte. Höchste Zeit, eine Pause zu machen und nachzusehen, ob Emily nicht doch schon das Weite gesucht hatte. Bevor er die Kaffeemaschine anwarf, würde er unten unverfänglich bei Emily und Nora vorbeischauen. Gut möglich, dass sein Angebot bei den Damen Begehrlichkeiten weckte.

„Meinst du, ich tue das Richtige? Dieser Spieleabend liegt mir schwer im Magen“, hörte er Emily sagen, als er den Gang entlanglief.

„Du bist doch sonst nicht so zögerlich. Sag Nein, wenn er was von dir will und du es nicht erträgst. Was soll denn passieren? Er ist nicht Lucas!“

Emilys Antwort zu hören, hätte Andreas gereizt, aber eine Lauschattacke ging gar nicht. Er überlegte kurz, schlich zwei Schritte zurück und tappte so laut auf, dass die beiden im Zimmer ihn bemerken mussten. Lucas, den Namen hatte er von Kolleginnen aufgeschnappt. Der Name von Emilys Ex löste Würgereize in ihm aus. Zum Teufel mit diesem Kerl. Er lugte ins Zimmer.

„Mag eine von euch Kaffee?“, fragte er.

„Danke, gerne“, gab Nora zurück.

„Von mir aus“, willigte Emily ein.

Für Nora bereitete er einen Milchkaffee mit einem Teelöffel Zucker. Emily bevorzugte Latte macchiato mit reichlich Milchschaum. Als beides fertig war, servierte er den Damen ihre Tassen.

„Bleibt es dabei, Emi?“, fragte er zum Abschied.

„Ja, klar!“

„Dann zieh dich warm an.“

„Wozu? Lange wird der Abend nicht dauern, wenn du mit deinem Level-hundert-Monster gegen meines kämpfst.“

„Warten wir es ab.“ Ihr tapferer Entschluss zauberte ein Lächeln auf Andreas’ Gesicht. Dabei überschätzte sie das Niveau seiner Figur maßlos. Sein Avatar war gutes Mittelfeld und sie offensichtlich ziemlich ehrgeizig.

Er trat den Rückzug an, trabte in den ersten Stock und schaltete im Spielzimmer die Konsole ein. Er hatte Zugriff auf jedes Level. Aber für die ‚Battle‘, wie Emily ihr Treffen spontan getauft hatte, nutzte er natürlich seinen privaten Account. Paul hatte eine Couch für das Zimmer gekauft, auf der Andreas genauso bequem saß wie auf seiner zu Hause. Er prüfte, ob zwei Controller voll aufgeladen waren, und zockte vorab ein wenig Evillive.

Die verabredete Zeit nahte und er war gespannt. Auf die Minute pünktlich und bester Laune spazierte Emily ins Spielzimmer. Sie taxierte erst ihn, dann, sichtlich überrascht, seinen Avatar. Kein Schlächter mit Axt oder Hammer, wie sie wohl vermutet hatte, sondern ein dunkler Magier.

„Ich dachte, du spielst Level hundert.“

Er lachte nur. „Du etwa?“

Sie schüttelte vergnügt den Kopf. Er stellte den Zwei-Spieler-Modus ein und wartete, bis ihr Avatar erschien: Ein Schlächter mit einer Doppelaxt, vor deren Klingen ein Magier Respekt haben musste.

Zuerst mussten sie die Herausforderung festlegen.

„Willst du gleich aufs Ganze gehen und die Hütte der Schlächter suchen?“, wollte er wissen. „Oder vereinbaren wir einen Ort für einen Zweikampf?“

„Ich will das Duell.“

Sie legten Laville als Startpunkt fest, eine kleine Stadt am Hafen. Der Zweikampf sollte in der Arena von Fort Marlot stattfinden. Das klang einfach, war aber knifflig. Wer zu spät zum Kampf kam, den bestrafte das Leben. Im Falle eines Falles würde sein Zauberer zum Vogelfreien erklärt. Wer auch immer ihm begegnete, konnte ihn gefangen nehmen und zur Arena schleifen.

Wo der Avatar, den er monatelang mit Heiltränken versorgt und gepäppelt hatte, unter dem Jubel der Zuschauer gegen andere Versager antreten musste oder gevierteilt wurde. Nach diesem schändlichen Tod konnte man nicht wiederbelebt werden und musste einen Neuanfang starten. So war Evillive und es war ratsam, rechtzeitig zum Zweikampf zu erscheinen. Spätestens zwei Stunden nach dem Herausforderer musste man die Arena erreicht haben.

Die ersten Räuber tauchten auf, denen er mit dem Blasrohr Schlafwurz in die Augen pustete. Ein kurzer Blick auf Emilys Bildschirmhälfte zeigte ihm, dass sie auf einen Zwerg mit Siebenmeilenstiefeln gestoßen war. Sie schwang das Beil, machte den Winzling ohne Skrupel einen Kopf kürzer und streifte die Stiefel über.

Keine gute Wendung für ihn. Zeit, seine Pfeife herauszuziehen. Er pfiff dreimal und die dunkle Fee erschien, die er im letzten Spiel mühsam unter seinen Bann gezwungen hatte. Beinahe wäre sein Kopf in ihrem mit spitzen Zähnen bewehrten Maul gelandet. Er schickte sie als Botin zu dem Zwergenvolk, das von Emilys Frevel unterrichtet werden musste.

Sie hatte seine Aktion am Monitor mitbekommen und boxte ihn lachend in die Seite. „Bist du fies! Jetzt muss ich die Stiefel verschenken.“

Sein Magier lauerte einem Tollfuchs auf, der als ausdauerndes Reittier fungieren konnte, wenn er einen nicht vorher tot biss oder mit der Trollseuche ansteckte. Mit einem Auge schielte er zu Emilys Schlächter, der einen Barden beschwatzte, eine Lachlaute ohne Saiten gegen die Siebenmeilenstiefel einzutauschen. Der arme Kerl war so gut wie tot. Und Emily um ein nützliches Utensil reicher, so sie die Saiten für ihr Instrument auftrieb. Da lag der Haken: Einhörner waren nun einmal nicht so leicht zu finden und Haare von ihrem Schweif gaben die wehrhaften Biester freiwillig nicht her. Dazu bedurfte man der Künste eines Magiers.

„Schau mal, diese Lichtung! Hier war ich noch nie!“ Emily stieß einen begeisterten kleinen Schrei aus. „Das silberne Licht und die vielen weißen Blumen.“

„Pass auf, dass die Todesfeen dich nicht umgarnen. Wenn du zu lange bleibst, wachst du nie wieder auf“, flüsterte er ihr ins Ohr und beobachtete amüsiert, wie sie ihren Schlächter mit Tränken versorgte und losrennen ließ. Das scheuchte natürlich die Todesfeen auf.

Sie dankte ihm nicht für seinen Tipp, obwohl er ihr das Leben gerettet hatte … Sie war fürs Erste mit Flüchten und Kämpfen beschäftigt. Wo sie hinschlug, spritzte Blut auf. Seinen Magier hatte unterdessen die Trollsucht gepackt und er musste unbedingt eine gelbe Kröte finden …

Zwischendurch bestellten Andreas und Emily Pizza, die sie restlos aufaßen. Se leerten eine Flasche Weißwein und spielten mit neuen Kräften weiter. Emilys Schlächter kannte kein Erbarmen, sein Zauberer dafür jede Menge Tricks und Kniffe. Diese ‚Battle‘ machte Andreas einen Heidenspaß. Emily war eine würdige Gegnerin. Selten, dass ihm jemand so Kontra gegeben hatte, aber die entscheidende Runde ging nach knapp fünf Stunden an ihn.

„Nein, so ein Mist! Verloren!“ Emily sank in das Sofa zurück. „Dein verfluchter Magier mit diesem Blutschwur. Das nächste Mal falle ich nicht darauf herein. Lass dir gratulieren.“

Sie boxte ihm freundschaftlich in die Schulter. „Aber die Plätzchenbattle gewinne ich. Wo wir gerade dabei sind: Hast du dir inzwischen überlegt, wie wir den Sieger bestimmen? Dass ich deine und du meine Plätzchen bewertest, kommt mir nicht in die Tüte.“

„In die Keksdose würde besser passen“, warf er ein.

„Stimmt, und wenn sie leer ist … Andy, das ist es. Der, dessen Plätzchen zuerst aufgegessen sind, hat gewonnen. Einverstanden?“

„Mit allem, was du sagst.“ Zu gerne hätte er ihr Gesicht berührt und die freche Strähne, die ihr in die Stirn fiel, hinter das Ohr gestrichen.

Als er den Arm ausstreckte, schreckte sie zurück und ihr Lächeln verschwand. Aber sie sprang wenigstens nicht auf. Wohlweislich fasste er Emily nicht an, trotzdem spürte er die Wärme ihrer Wangen in seinen Fingerspitzen. Fasziniert betrachtete er ihre warmen braunen Augen, in denen goldene Sprenkel glänzten. Vielleicht? Irgendwann einmal? Er stellte stumme Fragen. Schließlich senkte sie den Kopf. Einen Augenblick lang kitzelten ihre Haare seine Fingerspitzen und er zog die Hand zurück.

„Wir sehen uns übermorgen.“ Emily kam auf die Beine. „Und das heute war nicht das letzte Wort. Ich will Revanche.“

„Sollst du kriegen.“ Er unterdrückte den Impuls, ihr nachzusehen, und suchte Aufladekabel für die Controller.

Schneekristallküsse

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