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Sahneschnittchen

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Noch am gleichen Nachmittag wollte Nora ihre Idee mit den Chamäleon-Augen umsetzen, aber dieses Noch fünf Tage und du fährst mit ihm … funkte ihr ständig dazwischen. Emily sagte etwas.

Nora antwortete mit einem fragenden „Ja?“.

„Du bist nicht bei der Sache“, tadelte Emily sie.

Dass ihre Freundin damit vollkommen richtiglag, machte Noras Versunkenheit nicht besser. Sie musste aufhören, an Paul und sein Lächeln zu denken, sonst klopfte ihr das Herz bis zum Hals. Dabei hatte er nichts weiter getan als einen Stuhl heranzuziehen, die Hände gefaltet und sie forschend betrachtet. Bevor er mit seiner dunklen Stimme das Wort an sie richtete. Sie ging ihr durch und durch und hallte immer noch in ihr nach …

„Du Glückliche, wenn ich nicht deine allerbeste Freundin und zu praktisch hundert Prozent selbstlos wäre, müsste ich dir vor Eifersucht den Kopf abreißen. Du tust immer so unschuldig, dabei hast du es faustdick hinter den Ohren. Du auf einer Fahrt mit ihm.“ Emily kicherte entzückt. „Oh, wie süß, du wirst ja ganz rot.“

„Nichts da, Emi! Eine Affäre am Arbeitsplatz? Das fehlt mir gerade noch.“ Nora reckte ihren Kopf vor und starrte auf den Bildschirm. Und das meinte sie absolut ernst. Aus so etwas erwuchs nichts Gutes. Man verbrachte ein paar Tage im Liebesrausch und dann …?

„Ist dir entgangen, was für ein Schnuckel er ist? Der süßeste Chef seit Menschengedenken. Du weißt ja, ich stehe auf dem Standpunkt, dass kein Mann ein Sixpack haben muss, wenn nur seine Bauchmuskeln ordentlich trainiert sind.“ Emily zwinkerte ihr zu.

„Du bist unmöglich.“ Nora schüttelte den Kopf.

„Er ist aber auch so ein Sahneschnittchen.“

Sie hielten kurz inne und lauschten energischen Schritten, die rasch näherkamen.

„Wo sind die Sahneschnittchen?“ Andreas Rehn schaute bei ihnen zur Tür herein. Abgesehen von ihnen beiden war er momentan der einzige anwesende Animator, ein talentierter Zeichner. Derzeit aber mit einem anderen Projekt als Crystal of Artica befasst. Er war ein erklärter Fan von Evillive und arbeitete mit Hingabe an dem Splatterspiel.

„Hallo, Andy.“ Nora winkte ihm zu.

Nach Emilys Auffassung müsste ihr Besucher selbst ein Sahneschnittchen sein. Wie Paul war Andreas gut gebaut, dabei ziemlich groß und schlank. Seine bernsteinbraunen Augen waren auch nicht zu verachten, vor allem, weil er meist freundlich dreinschaute. Außerdem gehörte er eindeutig zu den Männern im Haus, die ihrer Freundin bewundernde Blicke nachschickten.

Nora beobachtete ihre Freundin aufmerksam. Emily tat unbeteiligt, zog aber ihre Bluse vor ihm zurecht, obwohl es nicht nötig gewesen wäre. Heute trug sie eine schwarze Hose, dazu ein tailliert geschnittenes buntes Oberteil mit geometrischen Mustern, das sie letzte Woche auf einer gemeinsamen Shoppingtour gekauft hatten.

Es hatte Nora ziemliche Mühe gekostet, ihre mit üppigen weiblichen Rundungen gesegnete Freundin davon zu überzeugen, dass Kleidung in Form von Kartoffelsäcken nicht zur Lösung eines Figurproblems beitrug. Mit nicht so weit geschnittenen Kleidern kamen die Kurven ihrer Freundin deutlich besser zur Geltung und sie sah zudem noch schlanker aus.

„Wie wäre es mit einer Begrüßung, bevor es zum Kuchenschnorren geht?“, schlug ihre Freundin spitz vor.

„Aber immer. Dann sag ich hallo, schön euch beide zu sehen. Zurück zu den Sahneschnittchen …“

Er sah sie erwartungsvoll an. Für Emily war er eine Art rotes Tuch. Mit seinen dunklen Locken und den braunen Augen ähnelte er ihrem Ex Lucas. Allerdings sah Andy um Klassen besser aus. Angeblich verübelte Emily ihm, dass man ihm seine Leidenschaft für Süßes absolut nicht ansah. Es stimmte. Der Mann futterte ohne Ende und nichts setzte am Bauch oder sonst wo bei ihm an. Das wurmte, erbitterte und empörte ihre Freundin. Durchaus nachvollziehbar.

„Mag eine von euch einen Kaffee?“

Nora schüttelte den Kopf. Manchmal tat er ihr leid. Besonders Emily konnte garstig werden, wenn er versuchte, freundlich zu sein. Also nahm er nur noch Bestellungen an, statt ihnen unaufgefordert Kaffee zu bringen.

„Nein, danke.“ Auch Emily lehnte ab.

Er trat den Rückzug an. Nora lächelte ihm aufmunternd zu. Sie schätzte nicht nur seine Arbeit, sondern auch ihn sehr.

„Musst du immer so kurz angebunden zu ihm sein, Emi?“

„Ja“, lautete die knappe Antwort.

Meist saß Andreas oben im ersten Stock hochkonzentriert an seinem Computer, tief in die Welt von Evillive versunken. Anfangs dachte sie, dass er nichts von der Außenwelt mitbekam, wenn er arbeitete. Sobald man aber Wörter wie Kuchen, Pralinen oder Schokolade auch nur hauchte, schoss er vom Computer hoch und suchte nach der Quelle. Die er mit schlafwandlerischer Sicherheit entdeckte. Insgeheim war Nora von seiner Fähigkeit fasziniert, zielstrebig das Richtige zu finden.

Schon war er verschwunden. Vermutlich in die Küche am anderen Ende des Gangs, wo ein Kaffeeautomat stand, für dessen Bedienung man geradezu ein Diplom brauchte. Andreas kam damit zurecht wie ein gelernter Barista. Was er einem seiner studentischen Aushilfsjobs in einem Café zuschrieb. Netterweise fragte er immer nach, ob noch einer außer ihm etwas wollte.

„Du behandelst ihn unmöglich. Dabei ist er ein anziehender Mann.“ Ihr Typ war er nicht. Aber Nora wusste eins: Dass Emily theoretisch vollkommen verrückt nach ihm sein müsste, weil er genau in das Beuteschema ihrer Freundin passte.

„Willst du ihn? Bitte sehr, du kannst ihn haben“, gab Emily frostig zurück.

„Hoffentlich ist er nicht wirklich an dir interessiert. Sonst würde er bei deinem Ton einen Kälteschock kriegen und zu einem Eisblock gefrieren.“

„Sein Pech.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, lenkte Emily das Thema in Bahnen, die ihr zusagten. „Zurück zu dir, Nora. Du schaffst es vielleicht, alle anderen zu täuschen. Ihn eingeschlossen.“

„Andreas?“, fragte sie im Unschuldston, obwohl sie genau wusste, wen ihre Freundin meinte.

„Das glaubst du selbst nicht.“ Emily verdrehte die Augen. „Nur, dass du es weißt: Du bist für mich wie ein offenes Buch. Dein Gesicht sagt alles.“

„Emi, mir wäre es lieber, du würdest dich um dein eigenes Liebesleben kümmern, wenn es darauf hinausläuft.“

„Du magst ihn mehr, als du zugibst. Aber wenn du ihn nicht willst, ich nehme ihn mit Kusshand.“ Emily spitzte die Lippen, hob ihre Hand und hauchte sanft Richtung Tür. „Stell dir das mal vor. Eine Woche mit mir in einem Hotel in den Bergen. Ein Aperitif vor dem Skifahren, statt des Skifahrens, und nach dem Skifahren – und er wäre verloren."

„Du verrücktes Huhn. Selbst, wenn du einen vierfachen Salto rückwärts aus dem Stand machst, kann ich dir die drei Tage mit ihm nicht abtreten.“

„So fasst du das auf? Ich will doch gar nichts von Paul. Wirklich nicht!“

„Das überzeugt mich jetzt nicht. Da musst du dich schon ein bisschen mehr ins Zeug legen.“ Nora lachte und Emily fiel ein.

„Das war gut. Wann fahrt ihr eigentlich genau? Dienstag? Am Vor- oder Nachmittag?“

„In der Früh, nehme ich an. Vielleicht hat Paul mir eine Nachricht geschickt?“ Nora zog ihr Handy aus der Hosentasche und entsperrte es.

„Hast du die Info schon? Wenn du nämlich am Vormittag fährst, werde ich den Dienstag schwänzen und endlich Geschenke einkaufen gehen. Langsam wird es Zeit. Nur noch zwei Wochen … Hast du eigentlich schon etwas für deine Mutter besorgt?“

„Ja, ich schenke ihr einen Gutschein. Im Frühling kann sie ihn einlösen und ich begleite sie zu einer kleinen Gärtnerei, die spezielle Tomatensorten führt.“

„Lohnt das den Aufwand für ihren kleinen Balkon?“

„Sie ist derart wild danach, dass ich ihr als Vorgeschmack auf die Pflanzzeit schon einmal ein Päckchen Samen von schwarzen Tomaten mit Töpfchen und Erde zum Selbstziehen gekauft habe. Das überreiche ich ihr zu Weihnachten, dann hat sie was in der Hand. Außerdem kriegt sie noch ein paar Kleinigkeiten. Ihren Lieblingstee, etwas Süßes …“

Nora scrollte die Nachrichten rauf und runter.

„Und, hat er dir den Starttermin geschickt?“

„Nein, bis jetzt noch nicht.“

„So ein unzuverlässiger Patron.“ Emily seufzte. „Na ja, eigentlich geht es mir gar nicht darum, wann ihr fahrt.“

„Das hätte mich auch schwer gewundert.“

„Du kennst mich eben. Deshalb weißt du auch, dass Weihnachten Stress für mich ist. Ich habe einfach keine Ahnung, was ich meinen Eltern schenken soll. Ein Enkelkind von mir können sie vergessen – wie auch, ohne einen Kerl? Was anderes wollen sie nicht. Und jedes Mal ist es die gleiche Leier: Sei bloß nicht so wählerisch, mein liebes Kind. Du wirst schließlich nicht jünger. Lucas wäre der perfekte Schwiegersohn gewesen. Aber nein! Ihr jungen Leute gebt immer gleich auf, wenn euch mal etwas quer geht, statt dass ihr durchhaltet und kämpft. Wir wollen Enkelkinder. Wann heiratest du endlich? Ich kann es nicht mehr hören. Ich bin achtundzwanzig Jahre alt und soll immer noch so tun, als ob ich ihren Lebensentwurf toll finde. Ehe? Liebe? Wer braucht so einen Mist? Du kennst sie ja. Sie sind immer ganz aus dem Häuschen, wenn ich etwas selber mache, bei dem ich hausfrauliche Fähigkeiten zeige. Ich fürchte, sie glauben daran, dass so etwas in der Art meine Chancen erhöht, einen Mann zu ergattern. Und zwar bevor ich jenseits von Gut und Böse bin. Um dem entgegenzusteuern wären ein paar Enkel-Plätzchen perfekt.“

„Zwei Fliegen mit einer Klappe?“

„Genau!“

Schritte auf dem Flur kündeten von einem Besucher. Es war Andreas, der sie erwartungsvoll anschaute. „Wer von euch beiden backt Plätzchen? Du, Emi? Oder du?“

„Ich habe es nicht so mit dem Backen.“ Nora unterdrückte nur mit Mühe ein Lachen.

Emily sah von ihrem Schreibtisch auf, den sie mit winzigen Feen und mehr oder weniger gruseligen Figuren aus dem LikeLeips-Universum geschmückt hatte, und musterte Andreas von oben bis unten. „Na gut, wenn ich schon mal dabei bin, backe ich ein paar Butterplätzchen mehr.“

Andreas grinste frech. „Schön, ich bringe auch welche mit. Zehn Sorten.“

„Soll das eine Herausforderung sein?“ Emily hob die Brauen. „So was wie eine Challenge? Die nehme ich an. Ich bringe zwölf verschiedene Sorten, aber meine sind von mir höchstpersönlich selbst gebacken.“

„Für was hältst du mich? Meine auch.“

„Du backst?“

„Wieso nicht? Männer können das auch. Also gut, machen wir eine Plätzchen-Battle. Von mir gibt es auch zwölf Sorten. Möge der Bessere gewinnen.“

Die Bessere“, berichtigte Emily ihn prompt.

„Hey, ihr beiden. Ich dachte, dass Weihnachten das Fest der Liebe ist.“

Die Kontrahenten funkelten einander an.

„Hast du dir das gut überlegt, Emi?“, fragte Nora leise.

„Gibt es Probleme?“ Andreas zog die Brauen hoch.

„Nein, ich weiß, was ich tue.“

„Wie du meinst.“ Nora kapitulierte. Im Hauswirtschaftsunterricht hatte ihre Freundin regelmäßig Schwierigkeiten gehabt, wenn es um Süßspeisen ging. Sie mochte nur Deftiges und bereitete Gulasch und Pizza oder in letzter Zeit auch gerne Vegetarisches perfekt zu. Besonders ihr Curry mit Cashewkernen fand Nora phänomenal.

Wie auch immer, ein As schüttelte ihre Freundin bestimmt noch aus dem Ärmel. Einen Online-Backkurs, von dem Nora nichts mitgekriegt hatte? Am besten sie hielt den Mund und ließ Emily machen. Schließlich erinnerten alle Rezepte, ob herzhaft oder süß, ein wenig an die Mysterien des Chemieunterrichts. Man vermengte Stoffe und Aromen miteinander und schaute, was dabei herauskam.

Sie färbte das Oberteil der Hexe blau.

„Wie gefällt dir das neue Outfit für die Hexe, Emi, und was hältst du von dem Schimmer in ihren Augen?“ Dass ihre Freundin die Debatte um die Plätzchenbattle in die Küche verlagert hatte, war Nora entgangen. Emilys Schreibtischstuhl war leer. Stattdessen stand ihr Chef im Türrahmen.

„Den blauen?“ Paul lächelte. „Mir gefällt er. Wie wäre es, wenn du unseren Geschäftspartnern die Entscheidung überlässt?“

Nora schluckte, bevor sie antworten konnte. „Ja, natürlich, ich nehme alle Entwürfe mit.“

„Die haben dort das komplette Equipment. Computer, die gleichen Programme wie wir hier, die Brillen. Es dürfte reichen, wenn du das ganze Material in die Cloud schiebst, damit sie darauf zugreifen können. Vieles davon haben sie ohnehin schon.“

„Ja, das ist richtig.“ Nora konnte einfach nicht aus ihrer Haut. „Aber ich werde zur Sicherheit ein paar der Bilder auf einen Stick ziehen und auch Ausdrucke mitnehmen. Falls das Internet in den Bergen Zicken macht. Außerdem mag ich es, etwas in der Hand zu haben.“

Paul nickte verständnisvoll. „Alles klar. Sicher ist sicher.“

Deswegen entwarf und kolorierte Nora die Vorzeichnungen praktisch immer altmodisch auf Papier.

„Damit bist du vermutlich noch eine Weile beschäftigt.“ Er machte Miene zu gehen. „Ich hole dich dann am Dienstag gleich in der Frühe ab. Spätestens um sieben? Ginge es auch etwas …“

„… eher? Wäre dir halb sieben lieber?“

„Eigentlich ja. Je nach Wetter und Verkehr fahren wir vier bis fünf Stunden, wenn es gut läuft. Wo soll ich dich abholen? Bei dir zu Hause?“

Er, lässig an den Türrahmen gelehnt, sie, im Negligé, bat ihn auf einen Kaffee herein … Schluss mit den Flausen! Nora verzichtete auf den Von-der-Haustür-Abhol-Service, der ihre Fantasie gerade viel zu sehr ankurbelte.

„Ich möchte lieber hierherkommen, das ist einfacher für dich. Schon wegen der Parkplätze.“

„Ja, klar, wenn dir das lieber ist, treffen wir uns hier. Bis dann, falls wir uns vorher nicht mehr sehen.“

Er machte kehrt. War da eben so etwas wie Enttäuschung in seinem Blick aufgeflackert? Nora hätte Paul am liebsten zurückgerufen, um ihm zu versichern, dass er sie gerne auch zu Hause abholen konnte.

Nein, nichts davon würde sie tun!

Der Teil von ihr, der noch ein Mindestmaß an Vernunft besaß, beglückwünschte sie zu ihrer Weitsicht. Keine Affäre am Arbeitsplatz und schon gar keine mit dem Chef. Alles im Vorfeld abblocken. Punkt. Der Rest von ihr wollte dummerweise nichts anderes, als in der Nähe dieses Mannes sein, seine markanten Gesichtszüge betrachten, mit den Fingern durch seine Haare fahren und seine Lippen küssen.

Sie hatte den Verstand verloren, so etwas auch nur zu denken. Trotzdem hielt sie inne und schnupperte. Lag da noch eine Spur seines Dufts in der Luft? Ein Hauch von Zitrone, Moos und Gräsern? Schluss mit dem Irrsinn, sie hatte zu arbeiten. Viel zu fest packte sie die Maus, die ergonomisch geformt und trotzdem hart war.

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