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Gemeinsamkeiten

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Am Dienstagmorgen machte Paul ein angenehm überraschtes Gesicht, als er Nora begrüßte und ihren kleinen Trolley sah. Sie hob ihn aus dem Kofferraum, drückte auf die Fernbedienung und sperrte ihr Auto ab. Schwer tragen musste sie nicht. Sie wollte zu seinem Kleinwagen wechseln, der gleich neben ihrem parkte. Aber Paul hielt sie davon ab.

„Den nehmen wir nicht, Nora.“ Er wies auf die andere Straßenseite, wo eine sportlich geschnittene Limousine stand. „Auf der Autobahn möchte ich nicht andauernd hinter LKWs hertuckern.“

„Du hast dir ein neues Auto …?“

„Nicht gekauft, gemietet. So halte ich das bei Dienstreisen immer.“

„Ach so, das hatte ich noch nicht mitgekriegt.“ Sie sah kurz zu ihm auf. Er war groß, aber nicht so, dass er bei jedem Türsturz den Kopf einziehen musste. Bis zum Kinn reichte sie ihm … fast.

„Mit dem Auto finde ich es nach Garmisch-Partenkirchen bequemer. Außerdem setze ich die Ausgaben von der Steuer ab. Es ist schön, dass du mitfährst, Nora.“

Wie nachdrücklich er ihren Namen betonte.

„Selbstverständlich hätte die Firma dir auch eine Fahrt mit der Bahn bezahlt.“

„Warum umständlich, wenn es auch einfach geht?“ Sie zippte den Reißverschluss ihrer Jacke herunterunter. Zum Vorschein kam ihr Reisedress: Weiße Bluse, blauer Pullover und ein Seidenschal.

„Wow, du siehst toll aus!“

Seine spontane Reaktion freute sie so, dass sie am liebsten ein Dauergrinsen aufgesetzt hätte. Er war sonst sehr zurückhaltend, was persönliche Komplimente anging. Dass einige Kolleginnen ihm Avancen machten, hatte Nora längst mitgekriegt. Da glühten manchmal rote Funken der Eifersucht auf.

Aber Paul war bekannt dafür, dass die Tür seines Zimmers bei den Treffen immer einen Spalt offenstand und jeder prinzipiell zu jeder Zeit hineingehen konnte. Ob er schon einmal schlechte Erfahrungen gemacht hatte? Was auch immer dahintersteckte, diese Maßnahme fand Noras uneingeschränkten Beifall.

„Wie machst du das mit deinen Augen?“ Er musterte sie verblüfft. „Heute würde ich jeden Eid schwören, dass sie blau sind.“

Dass ihm diese Eigenheit an ihr aufgefallen war! Nora legte ihre gesteppte, mit Daunen gefütterte Winterjacke auf dem Rücksitz ab und nahm auf dem Ledersitz Platz, während er ihr Gepäck im Kofferraum verstaute.

Den Knoten des weißblauen Seidenschals, den rote Akzente belebten, löste sie mit geschickten Fingern. Heute Morgen hatte sie ihn kurzentschlossen statt des dickeren um den Hals geschlungen. Behutsam klappte sie den Beifahrerspiegel hinunter, um den Sitz ihrer weißen Bluse zu prüfen. Sie richtete den Kragen und betrachtete flüchtig ihr Gesicht. An der zarten Röte ihrer Wangen trug Rouge nicht die Schuld: Sie hatte keins aufgetragen.

Paul stieg ein und startete den Motor. Vorschriftsmäßig setzte er den Blinker und fuhr los. Aus dem Radio erklangen klassische Klänge. Nora hätte nicht gedacht, dass Paul ein Typ für diese Musikrichtung war, immerhin wirkte sein Äußeres eher lässig. Er trug vorwiegend Jeans mit T-Shirts und in der kälteren Jahreszeit Pullover, Hoodies oder Jacken drüber.

Momentan trug er einen weich aussehenden Pullover, vielleicht aus Kaschmir, dessen Farbe das dunkle Hyazinthenblau seiner Augen unterstrich, das sie faszinierend fand. Vom ersten Moment an. Mit seinem offenen, freundlichen Blick hatte er sie beim Einstellungsgespräch im Juni empfangen. Er hatte ihre Gedanken von Anfang an weit mehr beschäftigt und verwirrt, als es gut für sie war. Was hieß hier hatte? Nora richtete ihre Aufmerksamkeit auf das meisterhaft verarbeitete Holz des Armaturenbretts und der Innenverkleidung und lauschte der Musik.

Geigen setzten ein. Welches Stück gespielt wurde, wusste sie nicht. Sie besaß nicht genug Ahnung, um da mitreden zu können. Ab und zu war sie in Stimmung für diese Art Musik, aber vier oder fünf Stunden? Na gut, wenn es sein Geschmack war.

„Entschuldige.“ Es dauerte nicht lange und er tastete an verschiedenen Knöpfen des Radios herum. „Macht es dir was aus, wenn ich einen anderen Sender suche?“

„Geht es dir auch so?“, fragte sie erleichtert. „Mal in kleinen Dosen Klassik zu hören ist ja okay, aber die ganze Zeit über … Es sei denn, du bist ein Fan, dann nehme ich alles zurück, halte den Mund und höre gesittet zu.“

„Obwohl du die Musik nicht so magst?“

„Das nennt man Höflichkeit.“ Na also, sie konnte in seiner Gegenwart ja doch schlagfertig sein.

„Kannst du vielleicht …?“ Mit dem Kinn wies er auf das Radio. „Ich persönlich würde dich auch das Auto fahren lassen, aber das geht wegen der Versicherung nicht.“

Während Nora Knöpfe drückte und sie kurz den Sendern lauschten, redeten sie über Sänger und Bands, die sie gerne hörten. Paul gefielen viele Lieder, Künstler und Gruppen aus den Achtzigern, genau wie ihr. Aber nicht nur die Klassiker der Elterngeneration, sondern auch Bands mit aktuellen Titeln. Schließlich stellte Nora einen Sender ein, der ihnen beiden zusagte. Gerade kündigte der Moderator einen Song von Louis Armstrong an: What a wonderful world. Danach folgten zwei Weihnachtslieder. Um diese Jahreszeit wohl unvermeidlich.

Während die Klänge von Last Christmas ertönten, warfen sie einander wie Pingpongbälle die Namen von Songs und Bands zu und stellten fest, dass sie über einen sehr ähnlichen Geschmack verfügten.

Unterwegs machten sie in einer Raststätte Halt und er winkte ab, als sie ihren Kaffee selbst bezahlen wollte, obwohl sie bezweifelte, dass er die Kosten von der Steuer absetzen konnte. Wie ein Gentleman alter Schule hielt er ihr später die Autotür auf und bat sie augenzwinkernd, ihn deswegen nicht zu verklagen.

Nora lachte und musterte sein Profil mit der klassisch geraden Nase, während er losfuhr und auf die Straße schaute. Sein heller Schopf stach von dem Wintergrau ab und es juckte sie, ihre Hände darin zu vergraben. Zu spüren, ob die Haare weich oder widerspenstig waren. So viel stand fest, je mehr Zeit sie mit Paul verbrachte, umso anziehender fand sie diesen Mann. Sie wandte den Kopf ab und schaute aus dem Fenster. Ab und zu warf das Navi eine Anweisung ein.

Die Fahrt in den Winter verging viel schneller, als sie erwartet hatte. Auf dunklem Ackerland lagen einige von Schnee bedeckte Flächen. Nora schauderte es bei dem Anblick der weißen Felder und sie strich über ihre Arme, obwohl sie nicht fror. Das Auto bot ihnen sogar den Luxus einer Sitzheizung.

Die Schneedecke wurde dichter, die dunklen Flecken nackter Erde lugten nur noch wie viel zu flache Inseln aus dem Weiß. Der Anblick erzeugte tiefes Unbehagen in ihr. Auch wenn sie nicht zu ihm hinsah, spürte Nora, dass Paul sie ab und zu musterte. Ob ihm ihre Furcht aufgefallen war?

Anfangs hatte sie noch versucht, ihren Freunden oder Begleitern zu erklären, was los war. Bestenfalls schwiegen sie. Manche taten ihre Ängste als lächerlich ab, was die Peinlichkeit für Nora nur noch schlimmer machte. Sie fand es bitter, wenn sie ihr Innerstes nach außen kehrte und alles, was sie für ihre Offenheit erntete, ein herzhaftes Lachen war. In solchen Momenten wäre sie am liebsten im Boden versunken. Besonders, wenn ein Schulterklopfen folgte oder ein: „Ach was, so schlimm ist das doch nicht.“

Sie fand gar nichts lustig daran.

Früher hatte sie mehr als einmal den Schulbesuch verweigert, weil Schnee lag. Weder gute Worte noch Drohungen brachten sie damals vor die Tür. Treten, schreien, beißen, in ihrer Angst griff sie zu jedem Mittel. Ihre Mutter schickte sie wegen der Phobie schließlich zu einer Therapeutin. Wegen Schnee! Nora begriff durchaus, warum die Leute lachten. Für andere musste es komisch klingen.

„Ist irgendwas?“, fragte Paul. „Du bist so still.“

„Nein, ich bin nur etwas nervös wegen des Meetings.“

„Das kann ich verstehen. Aber deine Arbeit ist wirklich gut.“ Er blinkte und sie fuhren in einen Ort mit urwüchsigen, oft zweistöckigen Häusern, Holzbalkonen und dicken Balken. Sogar Fassadenmalereien gab es zu bewundern. In Verbindung mit dem weihnachtlichen Schmuck der Straßen sah der Ort wie eine Idylle aus. Trotzdem war alles echt … und hier lebten echte Menschen, keine virtuellen.

„Rechts abbiegen. Nach zwanzig Metern haben sie ihr Ziel erreicht“, verkündete das Navi.

Wir sind gut angekommen, tippte Nora in ihr Handy, machte ein Foto und schickte die Nachricht an Emily, die prompt und wie, etliche Herzchen und ebenso viele Fragezeichen zurücksimste.

Vergiss es!!! Na, was sagst du? Sieht das Hotel nicht urig aus? Nora steckte ihr Handy in die Hosentasche und öffnete die Tür. Eiskalte Luft strömte ins Auto. Eilig streifte sie ihre Daunenjacke über, bevor Paul Anstalten machte, ihr hineinzuhelfen.

Der Gedanken, dass er dicht hinter ihr stand, elektrisierte sie. Am Ende würde dieses Gefühl sie dazu verleiten, etwas Dummes zu tun. Etwa zu ihm herumzuwirbeln und ihn anzulächeln und … Schluss damit. Sie nahm ihren Trolley in Empfang und stapfte zusammen mit ihm auf den Eingang zu.

Schneekristallküsse

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