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Zimtsternkatastrophe

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Nora lag, in eine kuschelige Decke gewickelt, gemütlich auf dem Sofa und zappte durch das Programm. Unzählige Sender, leider nichts dabei, das sie interessierte. Tierdokus gingen sonst immer, aber den Film, den sie heute zeigten, kannte sie schon. Ebenso die Liebeskomödie in einem anderen Programm. Sie schaltete ab und legte die Fernbedienung auf den zierlichen Holztisch.

Kurz nach ihrem Einzug hatte sie das Möbelstück auf dem Flohmarkt ergattert. Die Erben einer alten Dame hatten es ausrangiert und für einen moderaten Betrag verkauft. An die hundert Jahre war es nach den Schilderungen der Verwandtschaft sicher alt. Begeistert über den Fund war Nora darangegangen, die Platte und die sanft geschwungenen Beine abzuschmirgeln, alles zu verleimen und neu zu lackieren.

Auf dem schmucken dunklen Nussbaumtisch stand passend zur Jahreszeit ein kleines Sträußchen aus Tannenzweigen mit winzigen roten und silbernen Kugeln, die Nora daran aufgehängt hatte. Die Äste nadelten nach zwei Wochen in der Wärme, doch sie dufteten immer noch intensiv nach Harz, Wald und ein wenig nach Vanille, Bratapfel und Zimt.

Statt ihre Geschenkeliste zu ergänzen, klickte Nora ungeduldig auf einen Kugelschreiber. Spitze rein, Spitze raus. Sie brauchte einen Geistesblitz, eine zündende Idee für Emilys Geschenk. Das Überlegen half ihr dabei, sich von den hartnäckigen Gedanken an Paul abzulenken. Unentwegt kreisten sie in ihrem Kopf, wo ihr Chef erschreckend selbstverständlich herumspukte.

Jetzt schon wieder. Zu gerne hätte sie gewusst, ob er bei der unerwarteten ‚Einladung‘ für sie seine Hände im Spiel gehabt hatte. Nein! Stopp! Es war viel besser für ihren Gemütszustand, wenn sie darüber nachgrübelte, was sie Emily schenken wollte.

Seufzend legte Nora den Stift beiseite und blätterte in einem Reklameheftchen. Es wurde ihr regelmäßig zugestellt, obwohl ein Bitte-keine-Werbung-Sticker an ihrem Briefkasten klebte. Sie überflog den Programmteil. Vielleicht Kinogutscheine? Emily besaß eine Schwäche für kleine Programmkinos und schräge Filme. Aber Eintrittskarten in einer entsprechenden Box hatte Nora letztes Jahr schon gehabt. Ob das die Freude wirklich schmälern würde?

Nora stapfte zum Fenster und sah vom dritten Stock auf einen kleinen Park hinunter. Die großen Gärten auf der anderen Straßenseite gehörten zu Häusern, die um die vorletzte Jahrhundertwende gebaut worden waren. Sie lagen im Schein der Straßenlaternen und sahen bei dem Licht und von oben wie eine perfekte Straßenzeile in einem Spiel von LikeLeips aus.

Viele Gärten waren mit Lichterketten geschmückt. Aber ein enthusiastischer Weihnachtsfan hatte seinen Garten so hell illuminiert, dass die Bemühungen unweigerlich auffallen mussten. Nora schmunzelte. Sie lebte noch nicht lang in diesem Viertel, aber sie kannte den alleinstehenden älteren Herrn, dem Haus und Garten gehörten, von kurzen Plaudereien.

Soweit das Wetter es zuließ, werkelte er draußen, unterbrach die Arbeit aber gerne für kurze Schwätzchen. Und sie hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet er solche Freude an Rentieren mit Schlitten, Weihnachtsmännern, Wichteln und unzähligen Sternen und Kugeln jeder Größe hatte. Sie lächelte, als sie die warmen Lichter sah, und beschloss, nach einer besonders hübschen Weihnachtsdeko für ihn zu suchen. Der Garten des alten Herrn sah mit ein wenig Abstand richtig zauberhaft aus. Hoffentlich hielt der Schmuck dem ersten richtigen Wintereinbruch stand. Nora ging zurück zum Sofa und nahm Platz.

Zu ihrem Leidwesen kündigte der Wetterbericht seit Tagen heftige Schneefälle an, die besonders in höheren Lagen wegen stürmischer Winde zu chaotischen Verkehrsverhältnissen führen könnten. Sie warf einen Blick auf ihr Handy und die entsprechenden Apps. Amtliche Warnungen gaben die Verantwortlichen jetzt natürlich noch nicht heraus, aber die unheilverheißenden Symbole auf dem Monitor sagten alles.

Ob sie Paul anrufen sollte? Und ihm klipp und klar sagen, dass sie nicht mitkommen wollte, wenn Schneechaos drohte? Sie grübelte hin und her und verwarf die Idee schließlich.

Nicht nur wegen des merkwürdigen Bildes, das er in dem Fall von ihr bekommen würde. Schließlich sollten die Stürme frühestens am Freitag einsetzen. Es gab noch einen weit wichtigeren Grund. Sie legte das Handy zur Seite. Wenn sie ehrlich war, wollte sie gegen jede Vernunft mit Paul zusammen sein. Ihn besser kennenlernen. Und dann …? Dem Sehnen nachgeben und eine Affäre mit ihm beginnen? Unsinn! Es gab so viele andere Möglichkeiten. Sie würde fahren und locker bleiben wie Emily.

Das war das Stichwort.

Bei ihrer Rückkehr blieb gerade noch eine Woche bis Weihnachten. Nicht mehr viel Zeit, nach einem Geschenk für ihre Freundin zu suchen. Besser, sie ging es gleich an. Sie griff nach dem Kugelschreiber und klickte wieder. Vielleicht wurde sie im Schreibwarengeschäft fündig. Dort lag schon das neue Programm der Volkshochschule aus. Ein veritabler Katalog, der ihr zu groß für die Tasche gewesen war.

Schon voriges Jahr hatte Nora mit dem Schnupperkurs Tanz dich fit als Geschenk für ihre Freundin geliebäugelt, und je länger sie jetzt über die Idee nachdachte, desto besser gefiel sie ihr vor. Als Teenager war sie mit Emily auf Partys gegangen, wo sie ausgelassen getanzt hatten, und natürlich zu den Kursen in der Tanzschule. Was hatten sie gegluckst und gekichert, wenn es mit den Schritten und den großen Füßen der Jungs nicht geklappt hatte. Der arme Tanzlehrer. Lächelnd füllte Nora die Maske am Computer mit den gewünschten Daten aus und schickte die Anmeldung für ihre Freundin und sich selbst ab. Das war es! Genau das Richtige.

Als das Handy klingelte, fuhr Nora zusammen, nahm das Gespräch aber ohne zu zögern an. Emilys spezieller Klingelton. Als ob ihre Freundin geahnt hätte, dass Nora gerade an sie dachte.

„Hallo, Nora? Du musst mir helfen! Ohne dich bin ich aufgeschmissen. Ich schaffe das einfach nicht. Wie kann man so was nur mögen? Das war eine vollkommen bescheuerte Idee von mir!“

„Worum geht es denn?“

„Na, ich hab den ganzen Nachmittag von nichts anderem geredet.“

„Also geht es um Paul und mich?“, hakte Nora nach.

„Wie? Nein, natürlich nicht. Wie kommst du denn darauf? Ich sage nur ein Wort: Battle. Ich war vom Ehrgeiz zerfressen und vollkommen verrückt. Das ist dir doch klar?“

„Ich verstehe nicht ganz.“ Nora war zu ihrer Küchenzeile geschlendert und ließ Wasser in den Kocher gluckern.

„Zwölf Plätzchensorten! Das kannst du nicht vergessen haben! Und du weißt, dass ich nicht backen kann. Ich habe es gerade versucht, aber es geht nicht. Hier in der Küche pappt alles. Meine Hände pappen, der Telefonhörer pappt. Alles pappt. Nora, es ist grauenvoll.“

„Was ist denn passiert?“

„Dieser Teig kostet mich den letzten Nerv. Den habe ich erst nach stundenlangem Schrubben von den Händen gekriegt. Das Zeug klebt wie der Teufel. Nur nicht da, wo es soll: auf dem Backpapier oder wenigstens dem Backblech. Ich würde ja nichts sagen, wenn mir der Süßkram schmecken würde. Aber ich mag ihn nicht mal besonders. Ich backe nie, wenn man von Pizza und Quiche absieht. Trotzdem habe ich versprochen, zwölf Sorten zu backen. Ich muss geisteskrank gewesen sein. Hättest du mich nicht davon abhalten können?“

„Dich? Von irgendwas abhalten?“ Belustigt goss Nora das brodelnde Wasser in die Kanne, in die sie Ingwertee mit Orange gegeben hatte.

Schließlich schenkte sie die goldbraune Flüssigkeit in einen Henkelbecher ein. Auf ihm prangten weihnachtliche Motive aus Elchen, Schlitten und Weihnachtsmann. Das restliche Jahr über stand er in der hintersten Ecke im Geschirrschrank. Nicht aber im Advent.

„Was wolltest du denn backen?“

„Na, Zimtsterne, die isst meine Mutter furchtbar gerne. Ich habe das Rezept gelesen, es klang ganz einfach …“

„Da kann ich dich beruhigen. Emi, an denen bin ich auch gescheitert.“

„Aber bei dir hing hinterher bestimmt nicht die Hälfte des Teigs unter der Decke.“

Noras Augen wurden groß. „Wie hast du das denn fertiggebracht?“

„Als ob das schwer wäre. Du rührst den blöden Teig für eine zweite Portion, weil du denkst, dass beim ersten Versuch was schiefgelaufen ist. Dann ruft deine Mutter an. Um dich mit der Krankengeschichte von Tante Hedwig zu nerven. Ich frag dich, wer will bitte schön etwas über Hämorrhoiden hören? Du hebst aus lauter Verzweiflung und Versehen das Handrührgerät, nur dass du vergisst, es vorher auszuschalten. Schon ist die Sauerei fertig.“ Auf einmal prustete Emily los. „Du müsstest sehen, wie es hier ausschaut.“

„Soll ich vorbeikommen?“ Nora nippte vorsichtig am dampfenden Tee, der nach Orange und Ingwer duftete. Sie wohnten nicht viel mehr als zwanzig Gehminuten entfernt. Ein kleiner Spaziergang oder fünf Minuten Autofahrt, wenn es dringend war …

„Ach was, vielleicht habe ich ein bisschen übertrieben.“

„Doch keine Decke voller Teigflecke?“ Nach der dramatischen Schilderung klangen die Worte aus Emilys Mund geradezu beruhigend.

„Nein, nur ein paar. Das meiste habe ich schon von den Schränken gewischt. Aber das ist eigentlich nicht das Thema. Jedenfalls nicht das wichtige. Du sollst mir sagen, was ich tun kann, um mich bei dieser blöden Battle nicht vollständig zu blamieren. Überleg dir was, bitte.“

„Gut, ich versuche es. Aber nicht drängen.“ Nora nahm auf dem Sofa Platz und stellte den Tee auf dem Tisch ab. Sie war selbst nicht die große Bäckerin, aber … „Also, ich habe ein Butterplätzchenrezept, wenig Zucker, für Fett gilt das leider nicht. Aber es geht so einfach, den Teig kriegst auch du hin.“

„Auch du kriegst das hin … hey!“, protestierte Emily. „Die Zimtstern-Katastrophe lag nicht an mir. Jedenfalls nicht nur.“

Nora fuhr fort. „Wenn der Teig fertig ist, rollst du ihn aus. Du stichst deine Plätzchen aus und bepinselst nach dem Backen alles mit Glasur und streust bunte Zuckerkügelchen drüber. Oder was du als Gebäckschmuck hast. Fertig.“

„Rote und grüne Streusel und silberne Perlen. Danke auch für die Anweisung, aber wirklich, wie man sie streut, weiß ich selbst. Das ist dann eine Sorte. Bleiben elf.“

„Wie wäre das: Du kannst Sterne aus dem Teig ausstechen. Dazu in die Hälfte der Sterne jeweils ein Loch. Auf die andere Hälfte gibst du nach dem Backen heiße Marmelade. Du klappst die Hälften zusammen und …“

„Das ist genial. Schon zwei Sorten. Wenn ich sie dafür ausgebe.“

„Das ist der Sinn dahinter. Oder du ersetzt einen Teil des Mehls durch Mandeln, gibst Vanille dazu, formst kleine Bögen und wälzt sie in Vanillezucker.“

„Ich könnte dich küssen“, erklärte Emily verzückt.

„Warte, ich hole mein Rezeptbuch.“

„Dafür berate ich dich beim Kofferpacken für Garmisch-Partenkirchen. Heiße Dessous und so.“

„Na, dann schreib mal auf.“ Nora fing an zu diktieren. „Zweihundertfünfzig Gramm Mehl, fünfundsechzig Gramm Zucker, ein halbes Päckchen Backpulver, eine Prise Salz, hundertfünfundzwanzig Gramm Butter oder Margarine und ein Ei …“

„Genial, das hab ich alles da. “ Emily war so tatendurstig, dass sie gleich anfangen wollte.

Sie beendeten das Gespräch. Nora betrachtete den dunklen Fernsehapparat und das Regal, das um das Gerät herumgebaut war. Ihr Blick blieb an einem verblassten Foto hängen. Damals, als ihre Mutter es ihr geschenkt hatte, leuchteten die Farben sicher viel intensiver. Aber an die Zeit hatte sie keine deutliche Erinnerung mehr.

Jahrelang hatte das Bild seinen Platz in Noras Kinderzimmer gehabt. Manchmal hatte sie es von der Wand genommen. Und dem lächelnden Mann, der dort unbeweglich hinter Glas stand, ihren Kummer anvertraut.

So lange schaute sie das Bild schon an und ihr Vater kam ihr immer noch fremd und vertraut zugleich vor. Mit gerade mal achtundzwanzig Jahren war er an Leukämie gestorben und mit ihm alles, was sie außer ihrer Mutter an Familie hatte. Seine Eltern waren schon Jahre vor ihrer Geburt bei einem Unfall umgekommen. Geschwister hatte er keine gehabt. Genauso wenig wie die Mutter. Auch von dieser Seite gab es keinerlei Verwandtschaft.

Oft genug hatte Nora das Fehlen von Omas und Opas, Tanten, Onkel und Cousins und Cousinen bedauert. Etwa, wenn Emily oder andere Freundinnen Familienfeste feierten und alle durcheinanderredeten und lachten. Inzwischen wusste Nora, dass nicht alles Gold war, was glänzte. Aber ein kleiner Anflug von Neid blieb doch.

An ihren Vater hatte sie leider kaum mehr Erinnerungen. Was sicher daran lag, dass sie bei seinem Tod nicht einmal vier Jahre alt gewesen war. Ungestüm sprang Nora auf. Sie ging ans Regal und strich mit den Fingerspitzen zart über das Bild.

Der Mann darauf war groß und schlank und strahlte mit einem jungenhaften Lächeln in die Kamera. Er hielt eine jüngere, zierliche Ausgabe ihrer Mutter im Arm und ein kleines Mädchen mit großen Augen auf dem anderen. Die ungewöhnliche graugrünblaue Farbe ihrer Iris und das Dunkelblond der Locken hatte Nora von ihrem Vater geerbt. Die Mutter lächelte immer, wenn sie das erzählte.

Nora hätte gerne mehr von ihm gewusst – wie er so gewesen war, woran er geglaubt und was er erhofft hatte. Aber je mehr sie über ihn, sein Leben und sein Ende wissen wollte, desto schweigsamer wurde ihre Mutter. Fast so, als ob Nora auf ein Geheimnis stoßen könnte, wenn sie weiter in die Tiefe drang. Aber an Leukämie gab es nichts Geheimnisvolles. Nur Trauriges.

Schneekristallküsse

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