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Kalte Schauer

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Ein kalter Schauer überlief Emily. Sonst lachte sie Nora immer aus, wenn die Freundin von einem kühlen Windhauch im Zimmer sprach, der im Winter unangenehm über die Wangen strich. Inzwischen glaubte sie ihr jedes Wort.

Die Luft kam Emily nicht nur kalt, sondern eisig vor. So, als ob jemand sie in einen Gefrierschrank gesteckt und die Temperatur auf minus fünfundzwanzig Grad heruntergeregelt hätte.

Erst schlüpfte sie bei der Kälteattacke in ihren Pullover, den sie in der Früh ausgezogen hatte. Kurz darauf streifte sie ihre Winterjacke über. Sogar Schal und Mütze zog sie an und war zum Aufbruch bereit. Aber sie brachte es nicht fertig, nach draußen in die Kälte zu gehen.

Ihr Kopf schmerzte zum Zerspringen und trotz der Winterkleidung fror sie immer noch erbärmlich. Dabei hatte sie die Heizung im Zimmer vorhin kontrolliert. Sie war auf die höchste Stufe gestellt. Emilys Zähne klapperten trotzdem aufeinander und sie überlegte, ob sie aufstehen und in der Küche Wasser in den Kocher geben sollte. Ein dampfender Tee wäre gut. Nicht um ihn zu trinken – sie wollte nichts, nur ihre eisigen Hände um die heiße Tasse legen. Vielleicht würde es ihr dann besser gehen?

Aber die paar Schritte bis in die Küche kamen ihr mit den zittrigen Beinen wie eine unüberwindbare Hürde vor. Alles schmerzte. In ihrem Kopf dröhnte es, als ob jemand die Bässe voll aufgedreht hätte. Ihr war schwindelig. Außerdem hatte sie keine Ahnung, wie sie nach Hause kommen sollte, ohne umzukippen. Ächzend rollte sie so dicht wie möglich an den Heizkörper. Sie faltete die Arme übereinander und ließ den Kopf darauf sinken. Sehnsüchtig schielte sie auf den Boden. Mit einer Decke dort unten liegen war besser als das hier. Aber das ging nicht, sie würde nie wieder hochkommen.

Im Haus war es unheimlich still und ruhig. Bestimmt arbeitete heute keine Menschenseele mehr. Die meisten Kollegen hatten ihren freien Tag und der Rest war in Urlaub. Emilys Blick ging zu dem Schreibtisch ihrer Freundin und dem leeren Stuhl. Nora und Paul waren viel zu weit weg, als dass sie kurz vorbeikommen konnten, um ihr zu helfen.

Emily nestelte ihr Handy hervor und scrollte über ihre Telefonliste. Sollte sie die Mutter anrufen? Nein, lieber nicht. Dann wollte der Vater bestimmt mitkommen … Die Fahrt dauerte für die Eltern über eineinhalb Stunden. Die beiden würden nicht zurückfahren, sondern gemeinsam in Emilys kleiner Wohnung hocken, sich gegenseitig angiften und ihr das Leben zur Hölle machen. Das endete regelmäßig damit, dass sie einem von beiden recht geben sollte und der andere beleidigt war. Die beiden machten ihr zu viel Stress.

Emily ging weitere Namen durch. Lena, Susi und Mona hatten kleine Kinder zu Hause. Und sonst? Blieb die eine nette Nachbarin. Nein, das ging ja nicht! Die Frau war gestern auf die Malediven geflogen.

Emily schluckte schwer. Ihr blieb nur eine Option: Ein Taxi rufen. Zu Hause würde sie eine Wärmflasche mit ins Bett nehmen und schlafen, bis sie wieder gesund war.

Oder sollte sie zum Arzt gehen? Ob ihr Hausarzt noch in der Praxis war? Die Nummer hatte sie dummerweise nicht eingespeichert. Also suchte sie im Internet danach und machte einen Screenshot. Sogar diese simple Unternehmung fand sie mühsam. Und der Gedanke, Hilfe organisieren zu müssen, überforderte sie in ihrem erbärmlichen Zustand.

Inzwischen schmerzte jeder Atemzug. Dass sie mehr abgekriegt hatte als einen Schnupfen, war ihr klar. Das hier war eher so was wie eine ausgewachsene Grippe. Mit kaltschweißigen Fingern griff sie nach ihrem Smartphone. Wie konnte das Handy so schwer sein? Sie ächzte leise, als ihr klar wurde, dass sie ein Taxiunternehmen anrufen musste. Sie startete eine Suche.

Gerade, als sie auf die Nummer am Display drücken wollte, hörte sie ein Geräusch. War da jemand? Es dauerte einen Moment, bis sie die Laute einordnen konnte. Leise Schritte auf der knarrenden Treppe. Sie wurden schnell lauter und kündigten jemanden an, der zielstrebig auf das Zimmer zuging. Andreas sah sie, stutzte und kam herein.

„Emily, ist etwas nicht in Ordnung? Du siehst elend aus.“

„Reib mir das noch unter die Nase! Willst du mich noch mehr runterziehen?“

„Entschuldige, Emi …“

„Mir ist nur so kalt. Und …“ Sie war so froh, ihn zu sehen, dass sie beinahe in Tränen ausgebrochen wäre.

Er kam näher, legte kalte Finger auf ihre Stirn, um die Temperatur zu fühlen, und griff nach ihrer Hand. „Alles klar. Du hast hohes Fieber. Am besten ich bringe dich nach Hause. Ist dort jemand, der dich versorgt?“

„Nein.“ Emily nieste.

Rasch griff er nach einer Taschentücherbox auf dem nächsten Tisch und hielt sie ihr hin.

„Danke.“

„Kannst du jemanden organisieren, der nach dir sieht?“

„Nein. Das ist doch gar nicht so wichtig. Ich will nur nach Hause.“

„Aber wie soll das gehen, so wie du beieinander bist? Vielleicht ist es besser, wenn ich den Krankenwagen rufe. Ich könnte dir eine Tasche mit Sachen packen, die du in der Klinik brauchst. Das heißt, falls du mir den Schlüssel zu deiner Wohnung anvertraust.“

„Nein!“

„Entschuldige, es war nur ein Angebot.“ Er klang auf einmal sehr viel reservierter. Richtig frostig.

„Hast du was?“ Weil Emilys Kopf so pochte, dauerte es eine Zeit lang, bis sie begriff, was ihm querging. „Ist es wegen des … Schlüssels? Den kannst du von mir aus haben. Aber ich will nicht ins Krankenhaus. Das ist alles, Andy. Bitte nicht!“

„Das ist unvernünftig, Emi!“

„Ich will nicht!“ Sie schüttelte den Kopf heftiger, als sie es hätte tun sollen. Und stöhnte, weil die Bewegung wehtat. Wenigstens sah er wieder so besorgt auf sie herab wie vor der Schlüsselsache. Er konnte es nicht ahnen, aber was für Nora weite Schneefelder waren, bedeuteten Kliniken für Emily. Aber im Gegensatz zu Nora kannte sie den Grund. Sie wusste, dass ihre Ängste die eines Kindes waren. Ein kleines Mädchen, das in einem unheimlichen Haus durch seltsam riechende Gänge in ein Zimmer geführt wurde, in dem ihre Mutter bleich in einem Bett lag. Und so traurig war, weil es doch kein Geschwisterchen für Emily geben würde.

„Ich will Nora!“ Ihre Stimme klang in ihren eigenen Ohren schrill. Tränen der Verzweiflung stiegen in ihre Augen.

„Emi, sei vernünftig! Sie ist nun mal nicht da!“ Er lockerte den verkrampften Griff, mit dem sie ihn gepackt hatte. „Also gut, dann kümmere ich mich um dich, bis sie wieder da ist.“

„Du willst es tun?“ Hatte Andreas das wirklich gesagt? Und Emily eine Lösung für das Problem angeboten?

„Damit meine ich: Ich versorge dich, so lange ich es verantworten kann.“

„Aber du versprichst mir nichts. Du drückst dich immer so geschickt aus, Andy. Danke!“ Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. „Willst du das wirklich?“

„Ich habe es dir angeboten, also ja. Bist du mit dem Auto da? Dann fahre ich dich heim.“

„Hast du überhaupt einen Führerschein?“ Normalerweise wäre sie jetzt verwundert aufgefahren, aber ihr Kopf blieb auf seiner Schulter. „Du fährst doch nie.“

„Du irrst. Aber ich klemme mich nur hinter das Steuer, wenn ich muss. Also selten.“

„Aha. Gibt es einen speziellen Grund?“ Obwohl ihr Kopf pochte, wollte sie mehr wissen.

„Es gab da jemanden, der mir sehr wichtig war. Er hatte einen tödlichen Unfall.“

„Ein guter Freund?“

„Nein, eine Frau.“

Andy schwieg und Emily war es fürs Erste recht. Später würde sie ihn ausfragen über diese Frau. Jetzt hatte sie andere Probleme. Sie musste raus in die Kälte zum Parkplatz. Außerdem graute ihr schon vor den Treppen, die sie zu ihrer Wohnung hochsteigen mussten. Seine Anwesenheit änderte leider nichts an ihrem Elend, dem Schüttelfrost und an den Schmerzen beim Atmen. Schade, wenn es so wäre, hätte er bei Evillive mit seinem Zauberer gleich noch das Amt des Heilers übernehmen können.

Schneekristallküsse

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