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Nichts Reizvolles

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Nur noch fünf Tage. In Gedanken ging sie das Gespräch mit Paul durch und die Worte klangen in ihr wie Musik. Würdest du mich begleiten? Eine vier- bis fünfstündige Fahrt mit ihm in seinem Auto. Sie hatte es gegoogelt. Es gab nur einen Wermutstropfen: Warum musste der Ausflug ausgerechnet im Winter stattfinden? Diese Jahreszeit war für sie wie ein bleiches Leichentuch. Schnee, Eis und Kälte boten ihr nichts Reizvolles.

Weite weiße Flächen lösten bei Nora Panikattacken mit Herzklopfen und zitternden Händen aus. Sie wusste nicht warum. Sie war ihres Wissens nie in einem Schneehaufen versunken, aus dem man sie in letzter Sekunde befreit hätte, oder gar von einer Lawine verschüttet worden.

Inzwischen beherrschte sie ihre Ängste einigermaßen und ein paar Flöckchen ertrug sie klaglos. Nora drückte ihren Rücken fest gegen die Lehne und kippte prompt nach hinten. Auf der Decke konnte sie mühelos die Erhebungen, Flecken und Kratzer ausmachen.

„Oh je.“ Emily musterte Nora aufmerksam. „Hast du Angst vor der eigenen Courage? Garmisch-Partenkirchen und ein paar Schneeflocken. Das schaffst du, Süße.“

„Sie haben einen Wetterumschwung angekündigt“, erklärte Nora so missmutig, wie es in ihr aussah.

„Das heißt doch noch lange nicht, dass du von Schneeflocken umzingelt wirst!“ Die Stimme ihrer Freundin klang mitfühlend. „Vor allem nicht, wenn der heißeste Mann der Stadt dir Gesellschaft leistet. Einem wie Paul Gaspary würden die meisten Frauen blind in die Hölle folgen. Ja ich weiß, dort liegt absolut kein Schnee. Könnte es sein, dass das ein Ort ist, der dir zusagt?“

Nora versuchte, tapfer zu lächeln. Obwohl ihr eigentlich nicht danach war, ging sie auf Emilys lockeren Ton ein. „Das geplante Höllenlevel hat dich offensichtlich ziemlich beeindruckt.“

„Oh ja, es wird rattenscharf. Voller Rätsel und Geheimnisse.“ Emily strich mit den Fingern eine kinnlange Strähne zurück. Wenn Licht darauf fiel, besaßen die braunen Haare einen leichten Stich ins Rötliche und in der Sonne glänzten sie wunderschön. Nur ein leiser Seufzer kam über Noras Lippen. Emily reagierte prompt. „Ist noch etwas? Wo liegt der Hase begraben …? Oder liegt er im Pfeffer? Den Blick, den du aufsetzt, kenne ich. Hör sofort auf damit, dich selbst fertigzumachen. Deine Hexe ist perfekt. Kein Grund für überflüssige Sorgen! Niemand wird dich feuern. Und schon gar nicht eine Woche vor Weihnachten. Alles ist gut, versprochen.“

„Nein, die von Irving und Bellardi mögen meine Arbeit nicht.“

„Das ist gequirlter Affenmist! Deine Baba Jaga ist so hässlich, dass man zu Stein erstarrt, wenn man sie anguckt. Zumindest in der Welt von ‚Crystals of Artica‘. Einfach perfekt für die Rolle der bösen Hexe.“

„Die letzte Version war ihnen zu sexy, die davor sah ihnen zu harmlos aus, die nächste zu jung, die hier ist ihnen vermutlich zu alt.“ Noras Stimme zitterte. „Fast drei Monate Arbeit nur an Skizzen und Entwürfen und nichts passte ihnen. Wenn das so weitergeht, wird Paul mich feuern.“

„Nein, das wird er nicht. Ihm gefallen deine Entwürfe und dich findet er umwerfend.“

„Nicht so laut! Wenn er uns hört.“

„Kein Grund, rot zu werden.“

„Diese Typen sind ganz große Fische.“ Nora drehte ihren Stuhl zurück.

Sie hatte ihrer Hexe eine enge, glänzende Hose verpasst – natürlich in Schwarz. Darüber trug sie einen langen Rock, ebenfalls in Schwarz, der in drei Stufen von der Taille hinunterfiel. Vorne war er ungefähr bis zum Schritt offen, sodass man bei jeder Bewegung ihre enge Hose sah. Kein nacktes Bein wie bei der Sexy-Version, und ein einigermaßen züchtiger Ausschnitt.

„Jetzt übertreib nicht, die arbeiten auch nur einem Studio in Amerika zu. Stell dir mal vor, wie es wäre, wenn dein Name irgendwo im Abspann eines Sechzig-Millionen-Dollar-Projekts liefe.“

„Ich würde im Kino laut Da, das bin ich kreischen, wenn ich ihn entdecke. Oh, Emi, ich will nicht in der Probezeit rausfliegen.“

„Das wird nicht passieren. Hauptsache du wirfst jetzt nicht das ganze Konzept um und kritzelst auf den letzten Drücker etwas Neues in den Computer! Wenn, dann änderst du höchstens ein paar Kleinigkeiten, okay? Deine Baba Jaga gefällt uns allen, verstanden?“

„Zu Befehl!“

„Na, das werden wir ja dann sehen.“ Emily schaute auf ihren eigenen Bildschirm.

Nora griff nach der VR-Brille und dachte an Paul, der sogar mit diesem Ding auf dem Kopf attraktiv aussah. Anziehend, aber auch ein wenig geheimnisvoll mit dem undurchdringlich schwarzen Visier, bei dem man überlegte, ob der Rest des Gesichts hielt, was die kantige Kinnpartie und der fein geschnittene Mund versprachen.

Die futuristische Brille lieferte virtuelle Realität vom Feinsten. Absolut perfekte 3-D-Ansichten mit Panoramabildern, die Nora nach einer kurzen Eingewöhnungszeit das Gefühl vermittelten, im Spiel tatsächlich durch eine reale Gasse zu gehen. In der ein Hund knurrte, dem sie nicht begegnen wollte. Schon war sie mittendrin, rechnete mit einer Attacke und bog hastig in eine belebtere Straße ab.

Auf meisterhafte Art vermittelte die Umgebung den Leuten die Illusion, keinem vorgefertigten Weg folgen zu müssen. Dabei bestand alles in der Welt von Crystal of Artica aus Pixeln und war eigens für dieses Spiel am Computer programmiert. Sie betrachtete ein paar Ansichten ihrer Baba Jaga und zog die Brille vom Kopf.

Noras Blick fiel auf die Vase mit den Tannenzweigen, die Emily auf eines der Fensterbretter gestellt und stilsicher mit roten Kugeln und eher extravagant mit einem gläsernen Weihnachtsmann in Badehose geschmückt hatte. Alle Jahre wieder …

Das passte. Crystal of Artica sollte in zwei Jahren rechtzeitig zum Start des Weihnachtsgeschäfts in mehreren Varianten auf den Markt kommen. Für die exklusive Version benötigte man einen Anzug mit Drucksensoren, der dem Träger Sinneseindrücke vorgaukelte, Spezialhandschuhe und eine VR-Brille. Ob Zauberer, Krieger oder Monster, jedes Wesen wirkte real und handelte im Spiel seinem Charakter entsprechend täuschend echt. Eine Entwicklung, die deutlich an Fahrt aufgenommen hatte, seit die Leute von Irving & Bellardi bei LikeLeips mit im Boot saßen.

Emily hustete. Nora warf ihr einen kurzen Blick zu und schmunzelte. LikeLeips … Von ihr hatte sie erfahren, wie Paul zu dem ausgefallenen Namen für seine Firma gekommen war. ‚Like‛ stand für mögen. Das machte bei einer Spielefirma Sinn. Aber nur dieses eine Wort? Unmöglich! Also tüftelte er stundenlang. Aber alles, was ihm zusagte, war bereits vergeben. Bis ihm ein Einfall kam und er das Wort Spiel von hinten aufzäumte. Kurz darauf ging LikeLeips in die Startlöcher und gleich das erste Produkt schlug wie eine Bombe ein.

Nora startete eine Suche mit dem Stichwort Hexe. Ein Zeitvertreib, der inzwischen fast zu einer Sucht geworden war. Immer neue Bilder klickte sie an. Grausige Hexen, sexy, sogar nette.

Sei optimistisch, flüsterte eine leise Stimme in Noras Kopf. Warum sonst wollen sie dich persönlich dabeihaben? Eine Mitarbeiterin zu einem Treffen einzuladen, um ihr dabei zu kündigen, machte eigentlich keinen Sinn. Das sagte einem schon die Vernunft. Aber gegen ihre irrationale Furcht kam Nora nicht an.

Sie klickte eine Datei im Baba-Jaga-Ordner an und betrachtete ihre Hexe, die sie aus giftgrünen Augen herausfordernd anfunkelte. Vielleicht sollte Nora den Blick proben? Ihre Iris besaß einen Farbton, der zwischen Blau, Grün und Grau changierte, je nachdem, wie sie gekleidet war. Momentan trug Nora ein tannengrünes Twinset, Shirt und Strickjacke.

Als Ergebnis hatte sie heute Morgen in der Bäckerei von einer ihr völlig unbekannten alten Dame ein Kompliment über ihr Lächeln und ihre hübschen grünen Augen bekommen. Gestern in der blauen Bluse war ihrem Kollegen Andreas das Blau aufgefallen, und Emily gefiel das Grau in ihren Augen, als Nora einen schiefergrauen Pulli anhatte. Vielleicht konnte sie diese Sorte Chamäleon-Augen bei ihrer Hexe anbringen?

Nora drehte das 3-D-Bild der Baba Jaga einmal im Kreis herum. Sie war ihr inzwischen vertraut wie kein anderer Charakter des Spieleuniversums von LikeLeips. Die Frau war eitel, hochmütig, hinterhältig und skrupellos. Sie tötete mit einem Fingerschnippen, besaß einen bösartigen Humor und duldete keinen Widerspruch. Wenn es nach Nora ginge, liebte die Hexe nichts und niemanden. Bis auf Skorpione, Spinnen, Motten und die giftigen Schmetterlinge, die sie ihr gezeichnet hatte. In ihrer Vorstellung dienten sie der Baba Jaga gleichzeitig als Haustiere und Waffen. Sie musterte eine Vogelspinne, die im 3-D-Spiel schockierend realistisch rüberkommen würde.

Für Waffennarren gab es trotzdem noch genug Pistolen, Revolver und Gewehre in der Planung. Abgesehen von Pfeil und Bogen, Buschmessern, Wurfsternen und was der menschliche Erfindungsgeist sonst noch an Waffen auf den Weg gebracht hatte. Spätestens hier fing Emilys Revier an. Sie liebte die Arbeit mit Waffen. Die lag ihr sozusagen im Blut.

Nachdem irgendwann feststand, dass Emily das einzige Kind ihres Vaters, eines passionierten Jägers, bleiben würde, hatte er sie so früh wie nur irgend möglich in einem Sportschützenverein angemeldet. Aus ihr war eine ausgezeichnete Schützin geworden, die etliche Ringe in der Landesliga geschossen hatte und ihre Waffen im Schlaf auseinandernehmen und zusammenbauen konnte. Mit allem, was dazugehörte: Sichern und prüfen, ob eine Patrone im Lauf steckte. Sie wusste, wie stark der Rückstoß bei welchem Modell war, und plante ihn so realistisch in die ‚Virtual Reality‘ ein, dass man mit Schmerzen rechnen durfte, wenn man die Waffe nicht richtig festhielt.

Nora betrachtete die lange Liste mit Dateien. Sie hatte mehr als genug Model-Sheets ihrer Hexe gemacht: Bilder, Zeichnungen und Dateien der Figur in 2-D und 3-D. Lächelnd ging sie an die Arbeit. Noch ist es nicht so weit, dass sie deine Figur auseinandernehmen! Zeig es ihnen, kämpfe.

Schneekristallküsse

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