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Die Bitte

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Nora Brandt legte Stift und Zeichenbrett beiseite und hob und senkte die Schultern, um ihre verspannten Muskeln zu lockern. Meist saß sie im Eifer des Gefechts viel zu verkrampft vor dem Computer. Sie wandte den Kopf und sah aus dem Fenster der ehemaligen Dorfschule. Sie mochte den Ausblick auf die von Bänken umrahmte alte Linde neben der Hauptstraße. Männer und Frauen aus dem Dorf schwatzten sogar mitten im Winter dort.

Gerade hielt ein Wagen bei zwei älteren Herrschaften und der Fahrer plauschte in aller Gemütsruhe, während der Motor weiterlief. Verräterische weiße Wölkchen stiegen aus dem Auspuff. Sie selbst fror lieber, als die Umwelt unnötig zu verpesten. Nora überlegte, ob sie das Fenster öffnen und ihm etwas zurufen sollte, aber er fuhr bereits davon.

Der verhangene Himmel zeigte ein bedrohliches Schiefergrau. Bisher hatte es noch keinen nennenswerten Schneefall gegeben, weder im November noch im Dezember. Jetzt sah es unheilvoll danach aus. Nora wusste nicht warum, aber sie verabscheute Schnee soweit ihre Erinnerungen zurückreichten.

Die beängstigenden weißen Flächen …

Schon im Kindergarten, wenn die anderen Jungen und Mädchen ihrer Gruppe die Nase am Fenster platt drückten und jauchzend den ersten Schneeflöckchen zuschauten, floh Nora unglücklich in die hinterste Ecke. Ihre Freundin Emily, die am Nebentisch eifrig auf die Tastatur hämmerte, hatte von Kindesbeinen an miterlebt, wie sehr Nora die kalte Jahreszeit hasste. Damals wie heute. Das war gleich geblieben. Sie zog ihre blaue Strickjacke enger über der Brust zusammen und seufzte laut.

Emily reagierte prompt. „Nora, Schatz, um was wetten wir, dass es heute nicht schneit?“

„Wenn ich die Wahl habe: um gar nichts. Du gewinnst sowieso immer.“

„Tja, Glück im Spiel …“

Pech in der Liebe, ergänzte Nora unwillkürlich.

„Aber du brauchst dir wegen des Schnees wirklich keine Sorgen zu machen. Vertrau meinem Riecher oder wenigstens dem Wetterbericht. Außerdem, selbst wenn es schneit, kannst du auf mich zählen. Also Kopf hoch!“

„Ich werde mich bemühen, Emi.“ Vor dem ersten Schnee des Jahres wuchs Noras Panik weit über das normale Maß hinaus, das wusste ihre Freundin.

Ablenkung half. Nora griff nach ihrem Eingabestift und überlegte, welche Datei sie anklicken sollte. Die Baba Jaga, ihre Hexe, oder den Skorpion, an dem sie seit ein paar Tagen arbeitete. Spontan wählte sie das Spinnentier. Nur das leise Schaben des Stifts auf Noras Grafiktablet und das Klappern von Emilys Computertastatur unterbrachen die Ruhe um sie herum. Der Raum war hervorragend ausgeleuchtet.

Paul Gaspary, ihr Chef, sorgte nicht nur für Lampen mit Tageslichtspektrum, sondern auch für ein gutes Betriebsklima. Sie waren ein junges Team, alle duzten einander. Dass es in der Firma so familiär und lässig zuging, hatte Nora besonders gefreut, als sie zum Team gestoßen war. Nun ja, eine Spieleschmiede konnte man wohl nicht mit einem traditionellen Unternehmen vergleichen.

Ob es in den Zimmern der alten Dorfschule jemals so leise gewesen war? Wie viele Schüler hier wohl auf Schiefertafeln gekritzelt hatten? An Mathematikaufgaben und Deutschdiktaten verzweifelt waren? Genügend vermutlich. Das Haus hatte über hundert Jahre auf dem Buckel. Nora kniff die Lider ein wenig zusammen.

Kritisch musterte sie die Umrisse des Skorpions. Er stellte eine lebende Waffe dar, deshalb ragte der Stachel unrealistisch groß und bedrohlich spitz in die Höhe. Sie dirigierte den Stift zur Farbauswahl. Sollte sie Sandbraun für den Panzer wählen? In allen Nuancen eine optimale Tarnfarbe, aber ihr Skorpion durfte auffallen. Schließlich gehörte er in ein Spiel. Nora rollte den Schreibtischstuhl zurück und begutachtete ihr Werk aus einem etwas größeren Abstand.

„Emi, schau mal, ich glaube, so ist er perfekt.“

„Als ob was Männliches perfekt sein könnte“, antwortete Emily belustigt.

„Warte erst einmal, bis du den umwerfenden Kerl hier siehst.“ Ihre Freundin saß am Nebentisch und Nora drehte den Monitor so, dass Emily den Skorpion in Augenschein nehmen konnte.

Endlich ließ ihre Freundin die Hände sinken und betrachtete das Werk eingehend. „Du hast recht, der Kerl da ist echt super, abgesehen von seinem Sixpack.“

Verwirrt drehte Nora den Monitor zurück und starrte von der Grafik zu ihrer Freundin. „Wie bitte?“

„Na, er hat keins.“ Emily prustete los und Nora lachte mit.

„Da hast du mich ganz schön drangekriegt.“

„Was tut man nicht alles, um dich von deinem Kummer abzulenken.“

Die Tastatur klapperte unter Emilys Fingern munter weiter. Das Geräusch nahm Nora bald nicht mehr wahr, während sie leere Flächen ihres Skorpions mit grellem Gelb füllte, Schattierungen anbrachte und weiße Highlights setzte, um den Glanz zu markieren. Ein Räuspern ließ sie auffahren. Ihr Chef, Paul Gaspary, stand im Türrahmen und grinste.

„Ich muss schon sagen, der Anblick gefällt mir: Ihr zwei so tief in eure Arbeit versunken, dass ihr mein Kommen nicht bemerkt.“

Im ersten Moment stockte Nora der Atem. Pauls Lächeln bezauberte sie. Und nicht nur sein Lächeln. Der Mann besaß eine geradezu unanständige Vorliebe für eng geschnittene Sakkos, die seine perfekte Figur betonten. Lange Beine, schmale Hüften, breite Schultern. Dazu besaß er ein Übermaß an Charme, das ihm aus jeder Pore drang. Seine Art zu reden, seine Art, sie anzusehen. Sie begriff ehrlich gesagt nicht, dass es Frauen gab, die kein Interesse an ihm hatten. Emily etwa, die in Pauls Nähe vollkommen unbefangen und gelassen blieb. Umso besser für Nora.

„Was führt dich zu uns, Paul?“, hörte sie ihre Freundin neugierig fragen, während Nora noch gegen die Verlegenheit ankämpfte, die sie jedes Mal überfiel, wenn sie ihrem Chef begegnete.

So unvermittelt tauchte er zum Glück nur selten in den Zimmern seiner Mitarbeiter im Erdgeschoss auf. Was es zu erledigen gab, besprachen sie bei Team-Sitzungen. Ansonsten stand ihnen sein Büro im ersten Stock offen. Zu Noras Erleichterung schlenderte Paul geradewegs zu Emily, die ihm lächelnd entgegensah.

„Darf ich mir anschauen, was du machst?“, fragte er höflich.

Nora beobachtete die beiden. Und sie hätte etwas darum gegeben, genauso locker mit Paul umgehen zu können wie ihre Freundin.

Emily saß mit ausgestreckten Beinen vollkommen entspannt da. „Sieh her, ich arbeite an der Outline für den Charakter, der diese Waffe tragen soll. Einen Moment bitte, hier ist sie.“

Sie drehte den Monitor so, dass Nora die Bilder gleich mit ansehen konnte. Emily minimierte das Fenster mit dem Text, den sie tippte, und rief ihren aktuellen Entwurf auf. Paul betrachtete das futuristische Gewehr, neigte den Kopf vor und fragte nach der Belegung der Knöpfe im Spiel.

Nora kannte die Grafik und sie gefiel ihr. Nicht, weil sie von der Materie viel verstand. Davon hatte sie im Gegensatz zu Emily keine Ahnung. Aber die Zeichnung war technisch brillant und detailreich umgesetzt.

„Kein Wunder, dass du nichts von der Welt mitkriegst, wenn du an so etwas sitzt, Emi“, meinte Paul voll ehrlicher Bewunderung.

„Unrettbar verloren in den Klauen von Evillive.“ Emily lachte.

„Böses Leben“ bedeutete der englische Titel übersetzt, und vorwärts wie rückwärts gelesen lautete er gleich. Und er traf es. Mit dem Spiel hatte Paul den Durchbruch geschafft. Nora missfiel allerdings das blutige Schlachtfest, das Emily begeisterte. Dabei gönnte sie jedem die Lust am Horror. Nur für sie war das nichts. Außer ihrer Freundin arbeiteten inzwischen Heerscharen von Designern und Programmierern sozusagen rund um die Uhr an dem Online-Spiel, dessen virtuelle Welt permanent erweitert wurde.

„Wann lädst du das Bild auf die Cloud?“, wollte Paul von Emily wissen.

„In zwei, drei Stunden, es fehlen nur noch ein paar Kleinigkeiten, und die Skizze ist bereit für Kritik.“

„Skizze? Was willst du daran noch verbessern, Emi?“

„Darüber reden wir, wenn die anderen ihren Senf dazugegeben haben“, wehrte die Freundin jedes Lob im Vorfeld ab.

Paul trat hinter Noras Stuhl und stützte seine Hände lässig auf die Lehne. Seine Finger streiften den Stoff ihrer Bluse. Er zog sie sofort zurück, aber sie hatte die Berührung gespürt. Allein die Vorstellung, dass er ihre nackte Haut berühren könnte, jagte kleine Schauer von ihrem Rücken über den Nacken bis zu ihrer Kopfhaut hoch. Er neigte den Oberkörper weiter vor und sah über ihre Schulter. Nora spürte Pauls Wärme und seine Nähe löste immer neue, wohlige Schauer aus.

„Eindrucksvoll, besonders der Stachel. Ich habe eine Bitte: Würdest du mir die neuesten Versionen deiner Baba Jaga zeigen?“, fragte er schließlich.

Nora schob die Maus auf den entsprechenden Ordner und klickte Dateien an, die Paul eingehend betrachtete, ohne etwas zu sagen. Unruhig suchte Nora Emilys Blick. Aufmunternd lächelte die Freundin ihr zu.

„Hier, für die Dateien brauchst du eine 3-D-Brille.“ Nora drehte den Stuhl zu ihrem Chef herum und reichte ihm ihre eigene, die er ohne Weiteres aufsetzte.

„Deine Hexe hat Klasse.“ Paul zog das futuristische Teil vom Kopf, fuhr mit den Händen durch seine verstrubbelten Haare und trat ein paar Schritte zurück.

Er kannte die Bilder zum größten Teil. Bis auf ein paar Details gab es bei der Baba Jaga nichts Neues zu entdecken. Nervös nestelte sie mit den Fingern an einem Knopf ihrer Strickjacke. Als sie es bemerkte, hielt Nora sie ruhig im Schoß und sah abwartend zu ihm auf.

„Mir gefällt die Art, wie deine Hexe in den 3-D-Bildern ihre Hände bewegt. So grazil. Das hat sie von dir.“

„Unbedingt!“, warf Emily lachend ein. „Ein echter ‚Nora Brandt‘. Eigenhändig, jeder Strich.“

„Ja, das stimmt. Ich muss noch mit dir sprechen, Nora“, erklärte Paul.

„Was haben wir denn bisher getan?“

Er lachte. „Höflich Konversation getrieben.“

Was um alles in der Welt wollte er von ihr? Verblüfft beobachtete sie Paul, der zum nächsten freien Stuhl griff und ihn heranrollte. Zurzeit fehlten etliche Leute. Ein paar Kollegen machten Urlaub, und soweit Nora wusste, ging auch eine üble Grippewelle um. Er nahm ihr gegenüber Platz und beugte den Oberkörper vor, bis er ihrem Gesicht ziemlich nahe kam.

Noras Wangen glühten auf einmal so heiß, dass sie ihre flauschige, dunkelgrüne Strickjacke keine Sekunde länger ertrug. Sie zerrte das Kleidungsstück hinunter und kämpfte mit den widerspenstigen Ärmeln. Dass Paul sie bei dieser alltäglichen Bewegung beobachtete, machte ihren Versuch nicht besser. Endlich geschafft. Hastig hängte sie die Jacke über die Lehne, von der sie prompt herunterrutschte. Er sprang auf, griff danach und drapierte sie so über ihren Stuhl, dass sie oben blieb.

Worüber wollte er mit ihr reden? Mit einer geschmeidigen Bewegung nahm er Platz. Die Probezeit geht noch bis Ende Dezember, schoss es ihr durch den Kopf. Bevor Paul eine Dauerstelle vergab, wollte er sicher sein, dass der Neuzugang in das Team passte, daher reizte er die Sechsmonatsbestimmung voll aus.

„Ich lass euch dann mal allein.“ Emily wollte den Raum verlassen.

„Kann sie dableiben, Paul? Oder geht es um etwas, das sie nicht wissen soll?“

„Nein, wenn du es erlaubst, spricht von meiner Seite nichts dagegen, dass sie zuhört. Sagt dir Irving & Bellardi etwas?“

Emily sank zurück auf ihren Stuhl.

„Sicher. Das sind deine amerikanischen Geschäftspartner. Sie produzieren Crystal of Artica …“

„Sie produzieren es mit, richtig. Die beiden kommen nächste Woche nach Deutschland und schlagen ihre Zelte in Garmisch-Partenkirchen auf. Sie planen ein Treffen mit mir und der Schöpferin der Baba Jaga, also dir. Sie bestehen quasi darauf, dich persönlich kennenzulernen. Und ich wäre dir überaus dankbar, wenn du mich für die drei Tage begleiten könntest.“

„Ich? Soll mit dir …?“, murmelte Nora.

„Für alle Kosten kommt selbstverständlich die Firma auf. Die beiden haben uns vorgegriffen und Zimmer reserviert. Der Termin wurde kurzfristig angesetzt, ich weiß. Trotzdem hoffe ich auf deine Unterstützung … Falls du absagen musst, weil du etwas Dringendes vorhast, teilst du es mir wegen der Stornierung bitte so schnell wie möglich mit.“

Noras Herz klopfte vor Aufregung. Was gab es da groß zu überlegen? Sobald sie an seinen Vorschlag dachte, stieg ein unglaublich warmes Gefühl in ihr hoch. Und kribbelnde Aufregung. Klar wollte sie.

„Natürlich begleite ich dich.“

„Danke!“ Er griff ihre Hand, drückte sie kurz und verließ den Raum.

„Habe ich das richtig mitbekommen?“ Emilys Stimme klang ehrlich amüsiert. „Du willst mit ihm in den Winter fahren? Eis und Schnee, wo du hinguckst. Stundenlang mit ihm zusammen sein, obwohl du vor Verlegenheit den Mund kaum aufkriegst, wenn er in deiner Nähe ist? Na dann viel Spaß.“

Nora war schon bei den ersten Worten ihrer Freundin wieder zur Besinnung gekommen. Was war nur los mit ihr? Hatte sie den Verstand verloren? Unangenehm spürte sie einen kühlen Luftzug im Nacken. Hastig schlüpfte sie in ihre Jacke und versuchte, weiterzuarbeiten.

Du fährst mit ihm zusammen weg! Nora schielte zu Emily, die offensichtlich nicht unter den Temperaturschwankungen litt, und streifte das flauschige Kleidungsstück ab. Dieses Mal brauchte sie nicht an den verflixten Ärmeln zu zerren. Nora hängte die Jacke grimmig über die Lehne. Weiterarbeiten? Jetzt? Die Wippfunktion ihres Stuhls fand sie viel zu verführerisch. Das Vor und Zurück mochte rastlos wirken, aber es beruhigte sie. Wie auch das Hin und Her beim Drehen.

Schneekristallküsse

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