Читать книгу Mord ohne Grenzen - Elsass-Krimi - Elke Schwab - Страница 12
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ОглавлениеDer Stamm des Kastanienbaums maß einen Durchmesser von einem Meter. Es war nur ein Baum unter vielen, die die Straße säumten. Doch Jean-Yves fühlte sich wie magisch angezogen. Er ging darauf zu, umrundete den Stamm und sah nichts, keine Einkerbung, keine Risse in der Rinde, nichts.
Ihr Tod hatte keine sichtbaren Spuren hinterlassen.
Er spürte den Schmerz unerwartet heftig. Vielleicht war es doch ein Fehler gewesen, in dieses Dorf zurückzukehren.
Damals hatte er endlich Hoffnung gefasst, gemeinsam einen Weg gefunden zu haben, um miteinander glücklich zu sein. Seine Frau wollte ihr Leben verändern, hatte sie ihm mitgeteilt. Anstatt Verdacht zu schöpfen, hatte er sich gefreut. Was war er nur für ein Idiot gewesen? Wie hatte er nur so blind vertrauen können?
Er schüttelte seinen Kopf.
Über Vertrauen hatte er damals keine Sekunde nachgedacht. Nur an ihre wiederkehrende Lebensfreude. Irrtümlicherweise hatte er sie auf sich selbst bezogen.
Und was war dabei herausgekommen? Ihre Leiche in den Blechteilen eines fremden Autos, das sie so fest umschlossen hatte, dass die Feuerwehr ihre Überreste heraus schweißen musste.
Innerlich aufgewühlt wandte er sich ab. Er sah in bedauernde Gesichter. Das fehlte noch. Mitleid war das Letzte, was er jetzt brauchte. Alle Kollegen hatten um den Zustand seiner Ehe gewusst, aber niemand hätte sich je gewagt, ihn darauf anzusprechen. Und das war auch besser so. Sogar jetzt noch – Jahre später – spürte er wieder das gleiche kollektive Mitleid. Brummig wies er sie an, weiter nach Annabel zu suchen.
Emsig drehte sich jeder in eine andere Richtung und ging seiner Arbeit nach. Die Felder wurden systematisch in breiten Reihen abgegangen. Sie durchstreiften Wälder, durchsuchten Ruinen, leerstehende Häuser, Wassergräben, Hundehütten und sogar den Kindergarten, der abends menschenleer war.
Hundestaffeln rückten an.
Winseln und Bellen der deutschen und belgischen Schäferhunde erfüllten die Felder. Von Annabel keine Spur.
Die Sonne ging unter. In der Dunkelheit mussten sie ihre Arbeit abbrechen. Ein Blick zum Himmel gab Jean-Yves das ungute Gefühl, dass sich ein Unwetter zusammenbraute. Das fehlte noch. Wie lange konnte es ein vierjähriges Mädchen bei stürmischem Herbstwetter draußen aushalten?