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ОглавлениеElke Schwab
Mord ohne Grenzen
Elsass-Krimi
Anmerkungen der Autorin:
Der Krimi spielt im Elsass. Diese Region in Frankreich ist zum Teil deutschsprachig geblieben, wobei sich ein interessanter Dialekt gebildet hat, nämlich Elsässisch oder Elsässerdeutsch.
Um die Menschen und die Region authentisch darzustellen, habe ich einige kurze Passagen in der wörtlichen Rede im Dialekt geschrieben. Zum besseren Verständnis habe ich am Schluss des Buches ein Wörterbuch angefügt, das Ihnen die Begriffe erklärt.
Mord
ohne
Grenzen
Elsass-Krimi
Elke Schwab
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.
© Elke Schwab, 2016
Covergestaltung: Elke Schwab
Lektorat Sriptmanufaktur
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugs-weisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. Dies ist eine fiktive Geschichte. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Sie wartete. Reglos. Ob er ihre Nähe spürte?
Ihre Atmung beschleunigte sich. Sie schlug ihre Hand vor den Mund. Verzweifelt versuchte sie, leiser zu sein. Dabei überkam sie große Angst zu ersticken. Hastig zog sie ihre Hand wieder weg und atmete tief und gierig ein. Die Luft war kalt und schmerzte in ihren Lungen. Außerdem roch sie eklig.
Sie drückte sich tiefer in die nasse, kalte Nische. Wieder verhielt sie sich ganz still und lauschte. Nichts. War er noch da? Sie stieß den angehaltenen Atem aus.
Sollte sie sich ein Stückchen nach vorn beugen, um zu sehen, ob er noch dort war? Was, wenn er nur darauf wartete? Sie zitterte.
Sie schaute sich um, sah nur Dunkelheit. Das einzige Licht kam von oben. Dort musste er sein. Todesmutig wagte sie sich einige Zentimeter vor.
Da erblickte sie ihn. Er trug eine schwarze Kapuze, die Gestalt breit, die Hände bereit, zuzupacken.
Hastig zog sie sich zurück. Ein Schluchzen entfuhr ihr.
Ganz fest schloss sie ihre Augen. Wenn sie ihn nicht sah, konnte er sie auch nicht sehen. Das Gefühl gab ihr Trost.
Lange verharrte sie so, bis die Neugier sie antrieb, die Augen wieder zu öffnen. Zitternd beugte sie sich nach vorn, um zu sehen, ob er immer noch dort stand.
Aber sie sah nur noch ein helles Rund hoch über ihrem Kopf.
Der Kapuzenmann war verschwunden.
Sabine Radek wähnte sich am Ende der Welt. Ihre Tochter saß im Fond des Wagens und nörgelte, was Sabines Nervosität noch steigerte. Was erwartete sie? Ihre Aufregung wuchs mit jedem Kilometer. Sie hatte eine Erbschaft gemacht, mit der sie niemals gerechnet hätte. Ein Onkel im Elsass, das klang wie der Titel einer Komödie aus dem Ohnsorg-Theater. Nach Lachen war ihr seitdem tatsächlich zumute.
Sabine Radek, die Erbin.
Wollen Sie das Erbe annehmen?
Wie sollte sie diese Frage beantworten, ohne ihr Erbe jemals gesehen zu haben?
Also fuhr sie ins Elsass – zusammen mit ihrer Tochter Annabel, die unbedingt hatte dabei sein wollen.
Die Entfernung betrug von Saarbrücken aus vierzig Kilometer. Dichte schwarze Wolken türmten sich am Himmel. Eine Windböe kam auf und rüttelte heftig an Sabines Kleinwagen. Krampfhaft umklammerte sie das Lenkrad, ihren Blick immer auf die Route National gerichtet. Sie verließ Lothringen und überquerte die unsichtbare Grenze zum Krummen Elsass.
Nur noch zwei Orte. Die würde sie auch noch schaffen.
Endlich das Ortsschild: Potterchen.
Sabine bestaunte die schmale Straße, eingerahmt von dicken Stämmen der Kastanien, deren Blätter sich teilweise wie ein bunter Baldachin über der Allee ausbreiteten. Der andere Teil des Laubs klebte auf der Straße. Vereinzelte Sonnenstrahlen kämpften sich durch die dichten Wolken und blitzten zwischen kleinen Lücken auf. Alles verschwamm in Licht und Schatten. Am Ende der Allee lag das Dorf, in dem ihr Onkel gelebt hatte, ohne jemals mit ihr in Kontakt getreten zu sein.
Wer wusste schon, warum es gut war, erst nach seinem Tod von ihm zu erfahren? Sabine grinste. So hatte sie wenigstens keine negativen Erinnerungen an ihn.
Bis jetzt. Es sei denn, das Haus war die reinste Bruchbude … Dieser Gedanke kam Sabine, als sie das erste Gebäude erblickte. Es war ein Trümmerhaufen, dessen endgültiger Zerfall jede Sekunde bevorstand. Das nächste, ein leer stehendes Bauernhaus, war von einer Größe, die sie umgeworfen hätte, säße sie nicht in ihrem Auto.
Ihre anfängliche Begeisterung bekam erste Dämpfer. Sie fuhr langsam weiter. Doch was sie dann zu sehen bekam, entschädigte sie für alles. Der Kern des Dorfes war traumhaft – als sei die Zeit stehengeblieben. Alte, gut gepflegte Bauernhäuser, teils aus Sandstein, teils aus Fachwerk. Manche waren in Pastellfarben gestrichen, andere prangten in Naturstein. Scheunen, Ställe und Blumenkübel in allen Formen und Größen zierten die schmale Straße. Dorfbewohner saßen auf Bänken vor ihren Häusern. Die Blicke, die Sabine trafen, waren argwöhnisch bis freundlich – es war alles dabei.
„Welches davon wohl unser Haus ist?“, fragte sie nach hinten, in Richtung ihrer Tochter.
Annabels Antwort fiel allerdings anders aus als erwartet. Laut schrie sie: „Pferde.“
Sabine schaute in die Richtung, in die der kleine Kinderfinger zeigte. Pferde grasten auf einer Koppel nahe an Bahngleisen, die das Dorf abgrenzten. Auf der anderen Seite der Schienen lagen Felder, soweit das Auge reichte. Direkt vor ihr auf der rechten Seite verunzierten hässliche breite Rohre die Natur, als sollte dort Kanalisation verlegt werden. Neben diesen Rohren sah der Boden felsig aus. Ein gelbes Schild fiel ihr ins Auge. Sabine beherrschte kein Französisch, weshalb sich ihr der Wortlaut nicht erschloss. Aber anhand der dazu abgebildeten Symbole glaubte sie zu erkennen, dass eine Baustelle angezeigt wurde.
„Ich vermute, wir sind zu weit gefahren.“ Sie ließ ihren Blick nach links wandern. Dort wies ein Schild darauf hin, dass die Rue de la Gare weiterging. „Oder doch nicht.“ Sie bog ab.
Weiter reihte sich ein Bauernhaus an das nächste. Bis sie auf eines traf, dessen Schönheit sie den Wagen abbremsen ließ. Leicht gebogene Fenster mit angepassten Klappläden in einem kräftigen Rotbraun stachen von der pfirsichfarbenen Fassade des Hauses ab. Daneben befand sich ein geschwungenes Scheunentor, ebenfalls in rotbraunen Tönen, flankiert von einem Garagentor in den gleichen Farben. Sabine suchte die Hausnummer. Einundzwanzig. So ein Mist. Ihr Erbe hatte die Nummer zwölf. Oder hatte sich vielleicht jemand einen Scherz erlaubt und die Ziffern vertauscht? Leider musste Sabine diese Hoffnung schnell begraben, denn die Tür ging auf und ein kräftiger Mann trat heraus. Auf seinen fragenden Blick begann sie zögerlich auf Deutsch zu sprechen: „Ich heiße Sabine Radek …“
„Aah.“ Der Mann nickte. „Wen suchen Sie?“
„Die Hausnummer zwölf.“
Er grinste verschmitzt, nickte wissend und fragte: „Sin Ihr der neue Propriétaire von dem Hüs?“
„Das weiß ich noch nicht so genau“, gab Sabine zu, wobei sie annahm, dass Propriétaire Besitzer hieß. Die Neugier des Mannes amüsierte sie.
Da sie nichts weiter sagte, erklärte er ihr den Weg: „Einfach weiter die Chaussee entlang, an der Kreuzung à gauche, dann stoßet Ihr druff.“
Sabines Augen folgten seinen schwieligen Händen, die in die entsprechende Richtung deuteten. Sie bedankte sich und fuhr weiter.
Die Nostalgie, die dieses Dorf umgab, lullte Sabine ein. Sie fuhr extra langsam, weil sie jedes Haus bewundern wollte. Manche wirkten alt, zerfallen und geheimnisumwittert, andere waren mit Liebe restauriert worden.
Plötzlich stach ihr ein schweinchenrosa Monolith ins Auge. Erst bei genauerem Hinsehen begriff Sabine, dass dieses hässliche Gebilde die Dorfkirche war. Dort bog sie links ab. Die Mairie lag unmittelbar neben der Kirche. Wie Sabine wusste, waren in diesen kommunalen Gebäuden auch Schulen und Kindergärten untergebracht. Im Schritttempo fuhr sie daran vorbei.
Dann sah sie es - Hausnummer zwölf.
Sie wusste nicht, ob sie sich freuen sollte oder nicht. Der Anblick ihres Erbes entfachte keine Liebe auf den ersten Blick. Vor ihr befand sich ein Bauernhaus mit Wohnung und Stall unter einem gemeinsamen Dach mit durchlaufendem First. Die Scheune war erkennbar durch ein großes Scheunentor zur Straße hin. Diese Bauweise war in der Grenzregion häufig zu beobachten. Da das Haus zweigeschossig war, gehörte es der lothringischen Bauweise an - mit den Unterschieden, dass die Scheunenhälfte nachträglich angebaut sowie zerfallen wirkte und die Fenster überproportional groß waren. Braune Klappläden bildeten den einzigen Farbtupfer auf der schmutziggrau verputzten Front.
Annabel drängelte: „Darf ich zu den Pferden gehen?“
„Nein. Wir wissen doch gar nicht, wo die sind.“
„Doch. Ich habe den Stall gesehen.“
„Du wirst zuerst mit mir ins Haus gehen.“
Schmollen war die Antwort.
„Annabel“, versuchte Sabine es in einem freundlicheren Tonfall. „In Saarbrücken kannst du jeden Tag auf deinem Pony reiten. Deshalb bitte ich dich, zuerst mit mir unser neues Haus anzusehen.“
Annabel nickte, wie Sabine im Rückspiegel erkannte.
„Gut.“ Sie fühlte sich erleichtert. „Später gehen wir zu den Pferden, die du gesehen hast. Ist das ein guter Vorschlag?“
Annabels Augen leuchteten.
Sabine stellte ihren Daihatsu Cuore ab und stieg zusammen mit ihrer Tochter aus. Aus ihrer Tasche kramte sie den Haustürschlüssel hervor, dessen Form sie immer wieder in Staunen versetzte. So ein antikes Teil hatte sie noch nie in ihren Händen gehalten – groß, lang, von plumper Form, aus rostigem Eisen. Zum Glück sah die Haustür dazu besser aus. Massives Eichenholz mit Schnitzereien und einem Glaseinsatz mit eingeschliffenem Fischmuster. Unter Scharren und Schaben ließ sich die schwere Tür öffnen.
Kaum hatte Sabine sie hinter ihnen geschlossen, schien es ihr, als betrete sie eine andere Welt. Alles war geräumig, die Bauweise rustikal, die Decke hoch und aus massivem Eichenholz, der Boden mit Steinplatten belegt. Annabel schien es zu gefallen, denn sie stürmte neugierig durch die Räume, um alles zu erkunden.
Zu ihrer Rechten lag ein großes Wohnzimmer. Alte Möbel ließen den Raum dunkler wirken. Ein Kamin zog Sabine magisch an. Mit Holz heizen, das stellte sie sich romantisch vor. Sie öffnete sämtliche Schranktüren und sah hinein. Die Schränke quollen über: Bücher, Ordner, Porzellan, alles sammelte sich ohne die geringste Ordnung darin. Niemand hatte sich um diese Sachen gekümmert, nachdem der Onkel gestorben war.
Sie hörte Annabel im Nebenraum rumoren. Langsam folgte Sabine ihrer Tochter durch einen Rundbogen. Der Raum dahinter war lang und schmal, er beherbergte eine geräumige Küche und das Esszimmer und nahm die gesamte Rückfront des Hauses ein. Nicht nur eine gläserne Balkontür, sondern gleich zwei nebeneinander ließen viel Licht herein und gaben den Blick auf einen großen, ungepflegten Garten frei. Annabel war nicht zu sehen.
Eine der gläsernen Türen schlug gegen den Rahmen. Wieso stand sie offen? Sofort bekam Sabine eine Gänsehaut. Sollte das unbewohnte Haus die ganze Zeit über nicht abgeschlossen gewesen sein? Sie schaute sich um, als könnte jeden Augenblick ein Schatten auftauchen.
Ein Knarren ertönte. Sabine zuckte zusammen. Nachdem sie sich von ihrem Schrecken erholt hatte, fiel ihr Blick auf die Decke aus schweren Eichenbohlen. Sie erinnerte sich, dass Holz arbeitete. Die Geräusche waren ihr nicht vertraut. Würden sie es jemals werden?
Sie schaute sich um. Von ihrem Kind war nichts zu sehen oder zu hören. Sie durchquerte alle Räume im Erdgeschoss, die offen miteinander verbunden waren, konnte Annabel aber nirgends finden. Ein schmaler Flur ging vom Wohnzimmer ab und endete an einer alten Holztür. Sabine rüttelte daran. Sie war verschlossen. Erst jetzt sah sie zu ihrer Rechten eine steinerne Treppe, die im Rechtsbogen in den ersten Stock führte. Sabine folgte den Stufen und fand eine geräumige obere Etage vor. Sie stand in einem quadratischen Flur, von dem aus sich in allen vier Himmelsrichtungen jeweils ein Zimmer befand. Die Türen standen offen. Alle Räume waren möbliert. Die ganze Etage lag in Dunkelheit. Das Licht, das durch die kleinen Fenster hereinfiel, reichte nicht aus, um alles deutlich erkennen zu können.
„Annabel, wo steckst du?“, rief Sabine. Sie rannte in jedes Zimmer, schaute sich überall genau um, aber sie fand ihre Tochter nicht. Stattdessen entdeckte sie viele antike Möbel, die ihr Herz höherschlagen und sie an jedem Stück etwas verweilen ließen. Ihr Onkel hatte zu leben verstanden; solche Antiquitäten konnte sich Sabine nicht leisten.
Wieder rief sie Annabels Namen. Wieder erhielt sie keine Antwort.
„Annabel, das ist kein lustiges Spiel mehr. Wo bist du?“
Nichts.
Sie entdeckte eine Dachluke, die nach oben zum Speicher führte. Neugier packte sie. Sie wusste, dass die Kleine nicht dort oben sein konnte. Aber sie kannte Annabel. Mit Sicherheit war sie auf den Speicher eines fremden Hauses genauso neugierig wie sie.
„Schau mal hier, Annabel“, rief sie. „Hier ist ein uralter Speicher. Hier finden wir bestimmt was ganz Aufregendes.“
Ein Rumpeln ertönte. Also war sie auf dem Weg nach oben, dachte Sabine schmunzelnd.
Mit Mühe zog sie die Leiter herunter und arretierte sie. Sie schaute sich um, konnte Annabel aber nirgends sehen.
„Annabel. Hast du gehört? Willst du, dass ich den Schatz vor dir finde?“
Vorsichtig stieg sie nach oben. Der Speicher war überwältigend groß und mit allem möglichen Krempel voll gestellt. Sie ließ ihren Blick über das Chaos wandern. In Gedanken sah sie sich und Annabel schon geheimnisvolle Entdeckungen machen, die verborgene Geheimnisse aus grauer Vorzeit über ihre eigene Familie preisgaben. Das Haus gefiel ihr immer besser.
„Annabel. Du glaubst nicht, was ich hier entdeckt habe.“
Aber Annabel reagierte immer noch nicht.
Nun hörte sie nichts mehr, kein Rumpeln, keine Schritte, nichts.
Verunsichert kletterte Sabine die Leiter wieder hinunter. Ein sich wiederholenden Poltern ertönte. Erschrocken rief sie: „Annabel. Was machst du?“
Statt einer Antwort hörte sie wieder dieses Geräusch. Es drang aus dem Erdgeschoss zu ihr. Die geöffnete Terrassentür fiel Sabine wieder ein. Sollte das Mädchen nach draußen gelaufen sein?
Warum kam ihr der Gedanke jetzt erst?
Hastig eilte sie die Steinstufen hinunter ins Erdgeschoss, durchquerte den Flur und die Küche. Von Annabel keine Spur. Sie lief ins Freie. Vor ihren Augen bot sich eine großzügig geschnittene Terrasse, die direkt an den nicht enden wollenden Garten angrenzte. Alte, baufällige Mauern bildeten zu ihrer Linken eine schmale Gasse, an deren Ende Sabine auf ein Plumpsklo stieß. Sie öffnete die hölzerne Tür mit der obligatorischen Herzöffnung, konnte dort aber nur Teile von Sperrmüll entdecken. Ihre Tochter war nicht dort. Sie ging weiter an dem baufälligen Schuppen vorbei und stellte mit Schrecken fest, dass man von dort ungehindert auf die Dorfstraße gelangte.
Starker Wind schlug ihr entgegen. Ein Blick nach links, ein Blick nach rechts. Keine Annabel. Sie stellte sich mitten auf die Dorfstraße, suchte mit den Augen alle Richtungen ab, aber alles war menschenleer. Wo waren die vielen Menschen, die noch vor wenigen Minuten vor ihren Häusern gesessen hatten? Angst kroch in ihr hoch. Sie schrie den Namen ihrer Tochter. Nichts geschah. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie spürte ihren Puls rasen. Wie konnte die kleine Annabel mit ihren vier Jahren so schnell spurlos verschwinden? Sie hatte ihr Kind unterschätzt – hatte einen Fehler gemacht. Sie musste sofort nach Annabel suchen, musste zusehen, ihr Kind so schnell wie möglich wieder in ihrer Nähe zu wissen.
Ein älterer weißhaariger Herr stand in der offenen Scheune des Nachbarhauses. Neugierig schaute er zu ihr herüber. Dieser Mann musste Annabel gesehen haben. Sofort steuerte sie ihn an und fragte: „Haben Sie ein kleines Mädchen gesehen?“
„Sind Sie die neue Besitzerin?“, kam es statt einer Antwort.
Sabine stöhnte innerlich. Sie wollte sich jetzt nicht mit Höflichkeiten aufhalten.
„Ja. Ich heiße Sabine Radek.“
„Bernard Meyer.“ Sie gaben sich die Hände.
„Ich bin vorhin mit meiner Tochter hier angekommen“, setzte Sabine von neuem an. „Sie ist weggelaufen. Erst dachte ich, sie hätte sich versteckt. Aber ich kann sie nirgendwo finden. Sie heißt Annabel, ist vier Jahre alt, hat blonde Haare, trägt einen Jeansoverall und einen Anorak mit rosa Elefanten darauf. Haben Sie sie gesehen?“
„Ey joo“, sagte der Nachbar, was in Sabine sofort Hoffnung aufkeimen ließ. Doch dann fügte er hinzu: „Wenn Sie erst angekommen sind, kann sie noch nicht weit sein.“
„Sie stehen doch bestimmt schon länger hier“, fasste Sabine nach. „Ist Ihnen nichts aufgefallen?“
„Hier sind so viele Kinder“, meinte der Alte mit einem entschuldigenden Lachen. „Wie soll ich da erkennen, welches Kind darunter fremd ist?“
Sabine ahnte, dass ihr dieses Gespräch nicht weiterhalf. Sie warf einen Blick auf die Straße, auf der zum Glück kein Verkehr herrschte.
„Gibt es hier einen Reitstall?“, fragte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend.
„Ja. Der befindet sich ein Stück weiter auf der rechten Seite.“
Sabine folgte dem Hinweis des Alten, passierte mehrere Bauernhäuser und eine kleine Kirche, die ihr bei ihrer Rund-fahrt durch das Dorf nicht aufgefallen war. Schön sah die Kapelle aus. Wie eine Entschädigung für das hässliche Pendant in Rosa. Ein schmaler Weg bog an der Kirche rechts ab. Ein Schild wies darauf hin, dass sie vor dem „Chemin de Hohenau“ stand.
Der Weg führte Sabine an einigen Häusern vorbei, bis sich vor ihren Augen Koppeln erstreckten. Das sah immer besser aus. Sabine beschleunigte ihre Schritte. Doch schon bald bemerkte sie, dass sie sich immer weiter vom Dorf entfernte. Auch sah sie den Reitstall nirgends, von dem sie annahm, ihre Tochter sei dorthin gelaufen. Wie sollte es der Vierjährigen gelungen sein, diesen Stall zu finden, wenn sie es selbst nicht schaffte?
Der Chemin de Hohenau war stellenweise von riesigen Pfützen durchzogen. Aber Sabine lief unbeirrt weiter und ignorierte ihre nassen Füße. Es dauerte nicht lange, da endete der Weg im Nichts.
Eisern entschlossen stapfte sie über die regennasse Wiese, bis sie nach einigen Metern vor einem reißenden Fluss stand. Frustriert kehrte sie um. Sie musste zurück ins Dorf laufen und dort jemanden suchen, den sie nach dem Weg zum Reitstall fragen konnte.
Die Stille und Einsamkeit lasteten schwer auf ihr. Keine Menschenseele war zu sehen, kein Zeichen von Zivilisation – nur unendliche grüne Weite. Von Potterchen erkannte sie lediglich vereinzelte Hausdächer, die sich über die Bäume und Sträucher erhoben. Und den auffallend rosafarbenen Kirchturm. Ihre Angst wuchs mit jedem Schritt. Ihr Gefühl ließ sie befürchten, dass Annabel eine große Dummheit begehen könnte. Die Liebe der Kleinen zu Pferden grenzte schon an Besessenheit.
Das Geräusch eines Zuges donnerte durch die Stille.
Im gleichen Augenblick fielen ihr wieder die Gleise ein. In deren Nähe hatte Annabel ihren Schrei „Pferde“ ausgestoßen. Warum hatte sie nicht gleich daran gedacht? Sie schaute sich um, sah den Zug und schlug die Richtung dorthin ein.
An den Gleisen angelangt, sah sie die Pferde, die Annabel auch bemerkt hatte. Endlich war sie auf dem richtigen Weg. Zu ihrer Rechten erstreckte sich ein Schotterweg. Die Pferdeäpfel wiesen zu ihrer Erleichterung darauf hin, dass dieser Weg zum Reitstall führte. Hinter einer Kurve wurde der Blick auf eine große Reithalle mit Stallungen und einem übergroßen, grellbunten Pferdetransporter frei. Zielstrebig steuerte sie den Hof an. Hinter der Halle konnte sie eine kleine Gruppe von Reitern auf Ponys zwischen zwei Koppeln ausmachen. Der einzige Steinbau inmitten der vielen Blechhallen und Schuppen beherbergte Pferdeboxen. Dort lag alles in Dunkelheit. Vorsichtig trat sie hinein.
Innen herrschte Totenstille, niemand zu sehen, weder Mensch noch Tier. Sie rief Annabels Namen. Als sie ein Geräusch vernahm, glaubte sie, sie sei erhört worden, wurde aber aufs Neue enttäuscht. Vor ihr tauchte ein Mann auf, der ihr gerade bis ans Kinn reichte. Seine dunklen Augen blitzten anzüglich, sein Mund kräuselte sich amüsiert, als er sie ansprach: „Was sucht eine schöne Frau wie Sie in einem verlassenen Stall?“
„Mein Kind.“ Sabine hatte Mühe, ihre Abscheu zu unterdrücken. Seine süffisante Bemerkung empfand sie als unpassend, besonders einer völlig Fremden gegenüber.
Die dunklen Haare des Mannes waren mit einigen grauen Strähnen durchzogen. Seinen Schnurrbart pflegte er offensichtlich; es schien, als sei ihm dieser Teil seines Äußeren besonders wichtig. Seine Augen hafteten unverhohlen auf ihren Brüsten, als er weitersprach:
„Es kommen immer sehr viele Kinder zum Stall. Mein Schwiegersohn lässt sie kostenlos auf seinen Ponys reiten.“
Sabine traute ihren Ohren nicht. „Aber doch nicht meine Tochter. Sie ist hier völlig fremd.“
„Ob Ihre Tochter dabei ist, weiß ich nicht. Ich kenne ja nicht jedes Kind. Dafür sind es zu viele.“
Aufgeregt rief sie: „Hier sehe ich kein einziges Kind. Wo sind denn alle?“
„Mein Schwiegersohn ist vor wenigen Minuten mit ihnen ausgeritten. Er reitet immer eine kleine Runde über die Felder.“ Das Lächeln des Mannes wirkte aufgesetzt.
Sabine schrie fast vor Entsetzen. „Das einzige Pony, das meine Tochter reiten kann, ist unser eigenes.“
„Dann kann ja gar nichts passieren.“ Der Mann strahlte sie zufrieden an. „Ponys sind alle gleich.“
„Wie können Sie nur so verantwortungslos sein?“.
„Jetzt machen Sie sich mal keine Sorgen. Mein Schwiegersohn reitet mit den Kindern immer ganz vorsichtig.“
„Aber …“ Sabine verschlug es die Sprache. „Er kann doch nicht einfach ein fremdes Kind auf ein Pony setzen.“
„Wie soll er sich jedes Gesicht merken? Es kommen immer viele Kinder, die ausreiten wollen. Die Eltern sind einverstanden, weil bisher noch nie etwas passiert ist. Außerdem wissen Sie doch gar nicht, ob Ihre Tochter wirklich dabei ist.“
Sabine rang nach Luft.
„Ich überlege gerade“, meinte der Mann, der nun doch leicht nachdenklich aussah. „Fünf Ponys sind gesattelt worden und fünf Kinder sind zu dem Ausritt gekommen.“
In Sabine machte sich die Hoffnung breit. Doch der nächste Satz machte die sofort wieder zunichte: „Jetzt erinnere ich mich wieder ganz genau. Sechs Mädchen waren gekommen. Eines musste nach Hause gehen, weil es Bauchschmerzen hatte. Mein Schwiegersohn war bereits abgestiegen und wollte ein weiteres Pony satteln, aber das musste er dann doch nicht tun.“
„Annabel trägt einen Jeansoverall. Sie hat lange blonde Haare. Ist dieses Kind dabei?“
Der Mann nickte und meinte: „Dem Kind habe ich noch gesagt, dass die Nähte der Jeans ihr an den Beinen wehtun könnten. Aber das war ihm egal.“
Sabine rannte aus der dunklen Stallgasse. Das Wissen, dass ihre Tochter sich unter fremden Menschen befand und auf einem fremden Pony saß, trieb sie fast in den Wahnsinn.
Die Außenboxen im Hof waren vereinzelt mit Pferden besetzt, daneben befanden sich eine gähnend leere Reithalle und ein großer Heuschober. Sie suchte die dahinterliegenden Felder akribisch ab, bis sie tatsächlich eine Gruppe von Reitern sah.
Der Anblick versetzte ihr den nächsten Schock: von wegen langsam reiten. Die Truppe jagte in wildem Galopp über die Felder.
„Das nennen Sie langsam?“
Der Mann schaute in die gleiche Richtung. Nun war es an ihm, zu staunen. „Das verstehe ich nicht. Pascal, mein Schwiegersohn, reitet sonst immer nur im Schritt.“
„Wer sind Sie überhaupt?“
„Mein Name ist Ernest Leibfried. Ich bin der Bürgermeister von Potterchen.“
„Dann helfen Sie mir bitte, dass meine Tochter heil zurückkommt.“
Ernest Leibfried lief zum Feldweg, der an den Bahngleisen entlang verlief, und ließ einen lauten Pfiff ertönen. Besorgt beobachtete Sabine, was nun geschah.
Es dauerte eine Weile, bis die Gruppe von Reitern ihre Ponys zügeln konnte, um sie zum Rückweg zu wenden. Kurzfristig herrschte dort heilloses Durcheinander. Die Tiere liefen in alle Richtungen, bis es dem Anführer der Gruppe gelang, sie alle auf den Weg zu lenken, der zum Stall zurückführte.
Bis auf eine Ausnahme.
Ein Pony setzte sich von der Gruppe ab, sprang über die Schienen und galoppierte auf der anderen Seite weiter. Der Anführer der Gruppe riss sein Pferd herum und jagte hinter dem ausbrechenden Tier her, während der Rest der Gruppe im ruhigen Schritt zum Stall zurück trottete.
Sabine suchte unter den Kindern Annabels Gesicht, doch ihre Tochter war nicht dabei. Ihr Albtraum wurde wahr: Ausgerechnet Annabels Pony hatte sich von der Gruppe getrennt und war über die Schienen davon galoppiert.
Endlich schüttelte sie die Lähmung ab, die sie vor Schreck erfasst hatte, und lief los. Gerade noch konnte sie verhindern, an den Gleisen zu stolpern und auf den Schotter zu fallen. Sie erreichte das Feld auf der gegenüberliegenden Seite und rannte noch schneller. Aber gegen die Vierbeiner hatte sie keine Chance. Der Abstand war schon viel zu groß. Sie konnte nicht einmal mehr sehen, ob eine Reiterin auf dem wild galoppierenden Pony saß. Es war zu weit weg und viel zu schnell. Schon hatte sie das Pony völlig aus den Augen verloren.
Kalter Wind schlug ihr entgegen. Sie bekam keine Luft mehr. Schwindelattacken zwangen sie, langsamer zu werden. Sie stolperte weiter und weiter. Alles um sie herum war grün, grün und wieder grün. Soviel Natur hatte sie noch nie in ihrem Leben auf einmal gesehen. Sie verlor die Orientierung.
Eine Reiterin kam ihr entgegen. In ihrer freien Hand hielt sie die Zügel eines reiterlosen Ponys. Das Tier war nassgeschwitzt, zerzaust und schnaufte.
„Was ist mit meinem Kind passiert?“, fragte Sabine atemlos.
„Das Pony ist ausgebrochen. Das Mädchen, das darauf saß, ist runtergefallen“, antwortete die junge Frau.
„Und wer sind Sie? Warum reiten Sie seelenruhig zum Stall zurück?“
„Ich habe lediglich das Pony eingefangen, damit Pascal weiter nach dem Kind suchen kann. Sobald das Pony im Stall ist, helfe ich bei der Suche.“
Sabine ging weiter, begann erneut zu rennen, in der Hoffnung, Annabel so schneller zu finden. Das Einzige, was sie damit bewirkte, war ein schmerzhaftes Seitenstechen. Sie verlangsamte ihre Schritte und suchte alles ab, was nach einem Reitweg aussah, warf einen Blick in jeden Graben. Ohne Ergebnis. Ständig rief sie Annabels Namen. Keine Reaktion. Sie stolperte ziellos herum. Sie bemerkte nicht, wie die Zeit verging, fühlte nur eine große Hilflosigkeit und Sorge. Ihre Schuhe waren durchnässt, Kälte kroch durch ihren Körper. Sie durfte nicht schlappmachen. Hier irgendwo lag ihre Tochter und brauchte ihre Hilfe. Sie fiel auf den nassen Boden, erhob sich und stolperte weiter. Ihr Kopf dröhnte, sie konnte nur noch Schemen erkennen. Aus dem Nebel schälte sich eine Gestalt. Hoffnungsvoll riss sie die Augen auf, schrie den Namen ihrer Tochter und rannte darauf zu.
Doch es kam keine Antwort und niemand war mehr zu sehen. Ihre Sinne hatten sie getäuscht.
Sie blieb stehen, bückte sich und schloss die Augen, um ihre Atmung zu beruhigen. Dann setzte sie ihre Suche fort. Hastig sprintete sie los. Doch schon nach wenigen Metern stürzte sie erneut auf den nassen Boden. Gleichzeitig hörte sie etwas. Ein Platschen. Ganz in ihrer Nähe. Das musste ihre Tochter sein. Sie riss die Augen auf und krächzte „Annabel“. Suchend schaute sie sich um. Ein Schatten trat auf sie zu. Sie sprang auf vor Erwartung. Doch es war nur der Bürgermeister.
„Die Männer aus dem Dorf helfen bei der Suche nach Annabel“, sagte er in beruhigendem Tonfall. „Leider hat mein Schwiegersohn nicht gesehen, wo Ihre Tochter heruntergefallen ist. Deshalb müssen wir den ganzen Weg abgehen. Pascal reitet sicherheitshalber das gesamte Feld ab. Keine Sorge. Wir sind so viele. Wir werden Ihr Kind finden.“
Sabine nickte schwach. Sie rieb über ihre schmerzenden Augen, blickte hoch und fand bestätigt, was der Bürgermeister gesagt hatte. Bewaffnet mit Stöcken gingen Fremde über die Felder, schoben Gras zur Seite, klopften den Boden ab, riefen dabei immer wieder Annabels Namen.
Konnte sie dieser Anblick wirklich beruhigen? Wer waren diese Leute? Wollten sie wirklich das Beste für ihr Kind? Wie sollte Sabine diesen Menschen vertrauen, wo sie hier doch nur eine Fremde war?
Mit zitternden Knien erhob sie sich und setzte ihre eigene Suche fort.
Dämmerung brach herein und noch immer keine Spur von Annabel. Plötzlich ergriff ein naheliegender Gedanke von ihr Besitz: Was wäre, wenn Annabel zum Stall zurückgekehrt wäre und dort nach ihr suchte? Diese Vorstellung ließ einen Funken Hoffnung aufblitzen. Sofort wendete Sabine und stolperte den langen Weg zurück. Sie überquerte die Schienen und steuerte den Stall an. Aber ihre Hoffnung, dass Annabel dort auf sie wartete, löste sich schnell in Nichts auf. Keine Menschenseele hielt sich dort auf. Nur die Pferde, deren Kaugeräusche den Stall erfüllten.
Blieb noch die Hoffnung, dass sie in das Haus Nummer zwölf in der Rue de la Gare zurückgekehrt war. Sie passierte eine große Ruine. Der Anblick dieses baufälligen Gemäuers ließ sie innehalten. Die morsche Holztür war nur angelehnt, also kein Hindernis, um dort hineinzugelangen. Sie zog sie einen Spaltbreit auf und quetschte sich hindurch. Vor ihren Augen war nur ein brüchiger Boden übersät mit Unrat zu sehen. Links von ihr lehnte eine Leiter an der Wand, die auf eine Zwischenetage führte. Sabine stieg hoch und rief mehrmals Annabels Namen. Aber dort war sie nicht.
Sie verließ die Ruine und schlug den Weg zur Rue de la Gare ein, die zu ihrem Haus Nummer zwölf führte. Ein gut gepflegtes Eckhaus war direkt an die Ruine angebaut. Ein seltsamer Anblick. Darin befand sich das Restaurant mit dem Namen „Chez Ernest“.
Ernest? Hieß so nicht der Bürgermeister dieses Dorfes?
Die halb zerfallene Mauer, die das Restaurant mit dem benachbarten Haus auf der anderen Seite verband, brachte sie zum Staunen. Die Unregelmäßigkeiten zwischen gepflegten und vernachlässigten Gemäuern irritierten sie. Diese Mauer endete mit einem Stacheldraht am oberen Rand, womit verhindert wurde, dass jemand drüber kletterte. Ein verrostetes Tor bezeugte, wo früher mal der Eingang gewesen war. Sabine rüttelte daran, aber es ließ sich keinen Millimeter verschieben.
Was verbarg sich dort? Das musste sie unbedingt wissen.
Durch die Gitter des Tores blickte sie auf die Äste einer Eiche, die bis auf wenige rostbraune Blätter vom Herbstwind kahlgefegt worden war. Mit ihrem dicken Stamm und den knorrigen Ästen hob sie sich bedrohlich vom dunklen, regenschweren Himmel ab. Runensteine ragten verstreut aus hohem, wild gewachsenem Gras und Efeu empor. Jahrhunderte von Wind und Regen hatten auf ihnen Spuren hinterlassen. Die Beschriftungen waren verwittert und kaum lesbar. Eingefasst wurden sie von niedrigen Steinmauern der Umfriedung.
Ein alter, vernachlässigter Friedhof lag dort vor ihr. Ein Schaudern überlief sie. Dort würde sich Annabel bestimmt nicht aufhalten. Die linke Seite des verwahrlosten Areals grenzte an den baufälligen Schuppen, den sie ergebnislos nach ihrer Tochter abgesucht hatte. Sie wollte sich wegdrehen, als ihr ein Mann in gebückter Haltung auffiel. Er legte Blumen auf eines der alten Gräber. Er bemerkte sie, erhob sich und drehte sich um. Dicke Brillengläser ließen seine Augen übergroß aussehen. Sabine erschrak. Seinen Mund verzog er abwechselnd zu einem Lachen und zu einer Kaubewegung. Kleine, vorstehende Zähne und dunkelrotes Zahnfleisch am Oberkiefer entblößten sich, Speichel lief ihm aus den Mundwinkeln.
Sabine wollte weitergehen. Doch sie hielt inne. Warum sollte sein Aussehen ein Grund sein, diesen möglichen Augenzeugen nicht zu befragen?
„Haben Sie ein kleines Mädchen gesehen? Es ist vier Jahre alt, hat lange blonde Haare, blaue Augen und trägt einen Jeansoverall.“
„Pauvre fille.“ Das Gesicht verzog sich augenblicklich zu einer traurigen Fratze. „Fille riche.“ Er zog eine lachende Grimasse und wandte sich ab.
Sabine war völlig außer sich. Mit diesem Kerl hatte sie nur Zeit verschwendet. Wie eine Irre rannte sie los, steuerte die Mitte der Dorfstraße an. Dort hatte sie den besten Überblick. Alles, was sich ihr auf der Suche nach ihrem Kind in den Weg stellen wollte, beachtete sie nicht. Autofahrer mussten zusehen, wie sie Sabine passierten, ohne sie umzufahren. Dabei schleuderte sie jedem die Frage nach ihrem Kind entgegen. Kaum begegnete ihr ein Mensch vor einem der Häuser oder an geöffneten Fenstern, keuchte sie: „Haben Sie ein kleines Mädchen gesehen?“ Doch immer nur erntete sie Kopfschütteln oder bedauernde Mienen. Also rannte sie weiter und weiter und weiter. Irgendwo musste ihr Kind doch sein. „Annabel.“, schrie sie immer wieder den Namen ihrer Tochter. Doch es kam keine Antwort.
Dunkelheit brach herein. Und mit ihr der Schrecken, der in Sabine immer größer wurde. Wie fühlte sich ihr kleines Mädchen jetzt? Annabel hatte Angst im Dunkeln. Sie hatte Albträume. Sie kroch immer zu ihrer Mutter ins Bett, weil sie ihren Schutz suchte. Und jetzt? Jetzt lag sie irgendwo allein und ungeschützt da und hatte niemanden.
Sabine brach in Tränen aus, rannte aber unbeirrt weiter.
Jemand steuerte direkt auf sie zu. Erschrocken bremste sie ab, riss die Augen weit auf und schaute in das zerfurchte Gesicht eines alten Mannes. Seine Haltung war leicht gebückt. Er grinste. Sollte er etwas wissen?
„François kann Ihnen nicht helfen“, sprach er hastig mit halb verschluckten Vokalen.
„Ich will nichts von François, ich will meine Tochter finden“, knurrte Sabine und wollte ihren Weg fortsetzen. Aber der Alte war noch nicht fertig. Die eine Hand stützte er auf seinen Stock, als sei er zu schwach, ohne diese Hilfe stehen zu können, doch seine andere Hand hinderte sie mit erstaunlicher Kraft daran, weiterzugehen. Sein Gesicht kam ihrem immer näher. Sie erkannte, dass nur noch ein einziger Zahn seinen Mund zierte.
„Gehen Sie nach Hause. Der Bürgermeister hat die Gendarmerie aus Straßburg benachrichtigt. Von dort ist jemand auf dem Weg hierher.“
„Nur ein Einziger kommt hierher, um meine Tochter zu finden?“
Der Alte nickte und fügte an: „Einer, der was davon versteht.“
Er humpelte auf seinen Stock gestützt davon. Erst jetzt nahm sie den Golden Retriever wahr, den der Alte ausführte. Auch der hatte seine besten Jahre schon lange hinter sich. Struppig, mit weißer Schnauze und krummen Beinen wackelte er hinter seinem Herrchen her.