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Kriminalkommissarin Tanja Gestier hielt den Blick auf das gerötete Gesicht ihrer Tochter gerichtet. Dabei versuchte sie, sich das Handy zu schnappen, ohne dass Lara wieder einen ihrer Wutanfälle bekam. War vier Jahre bereits ein schwieriges Alter? Tanja wusste es nicht. Sie wusste nur, dass Lara ganz schön unangenehm werden konnte, wenn etwas nicht nach ihrem Kopf ging. Sie konnte es kaum fassen, wie schnell die Zeit vergangen war, seit sie wusste, dass sie Mutter werden würde. Die Unsicherheit und die Angst, als klar war, dass dieses Kind niemals seinen Vater kennenlernen würde, hatten sie damals überwältigt. Ihre Befürchtungen, es niemals zu schaffen, hatten sie ihrer Vorfreude auf dieses Kind beraubt. Aber, wenn man musste, konnte man über sich hinauswachsen. Laras Vater Sebastian war im Einsatz von einer Kugel getroffen worden, die für Tanja bestimmt gewesen war. Sie waren nicht nur ein Ehepaar gewesen, sondern auch beruflich ein Team. Und dann hatte alles mit einem einzigen Knall geendet. Kaum hatte Tanja begriffen, dass Sebastian getötet worden war, erfuhr sie, dass sie ein Kind erwartete. Von der ersten Sekunde an hatte sie gewusst, dass sie das Kind behalten und über alles lieben würde. Es war ein Teil von Sebastian. Auch war ihr klar gewesen, dass es nicht leicht würde, beide Elternrollen zu übernehmen. Doch wie schwierig es schließlich wirklich war, darauf hätte sie sich nicht vorbereiten können.

Gerade jetzt spürte sie, dass sie dieser Doppelrolle nicht immer gewachsen war.

Noch war Laras Lachen unbekümmert. Wer wusste, wie lange …

Das Handy dudelte unaufhaltsam „Riders on the Storm“ von den Doors. Tanjas Beruf als Kriminalkommissarin ließ sich nicht so einfach mit ihrer Rolle als alleinerziehende Mutter unter einen Hut bringen. Trotzdem übte sie ihren Beruf weiterhin mit Leidenschaft aus, wobei sie sich selbst einredete, dass Sebastian es so gewollt hätte. Aber sie konnte nichts anderes. Sie liebte den Job, obwohl er sie schon viel gekostet hatte. Und immer noch kostete, denn im letzten Jahr war die leidige Tatsache hinzugekommen, dass ihr Stiefvater die Leitung der Abteilung übernommen hatte, in der sie arbeitete. Der Mann, der ihre Doppelrolle als Mutter und Polizistin nicht guthieß. Seine ständigen Seitenhiebe nervten gewaltig. Aber das spornte Tanja nur noch mehr an.

Doch in Augenblicken wie diesem wurden die Schattenseiten ihres Lebens übermächtig. Tanja ahnte, dass ihre Dienststelle auf dem Handy anrief. Die Kollegen wussten, dass sie es ständig mit sich herumtrug. Endlich gelang es ihr, danach zu greifen. Kaum hatte sie es in der Hand, stieß Lara einen lauten Schrei aus, sodass Tanja nicht verstand, wer am anderen Ende der Leitung war. „Moment bitte“, rief sie und wandte sich zu ihrer Tochter mit der Bitte, sie möge leiser sein. Doch das half nichts. Im Gegenteil: Es wurde noch schlimmer.

„Gestier“, startete sie einen neuen Versuch, das Telefonat entgegenzunehmen.

„Ich bin‘s“, verstand Tanja endlich, nachdem Lara das Wohnzimmer verlassen hatte.

„Sabine?“ Tanja war nicht wenig überrascht. Sie kannten sich schon seit vielen Jahren. Durch ihre gleichaltrigen Töchter war aus ihrer Bekanntschaft eine tiefe Freundschaft entstanden, weshalb dieser Anruf in Tanja sämtliche Alarmglocken schrillen ließ. Sabines hysterische Stimme brachte Tanjas Trommelfell fast zum Platzen. Sie wiederholte immer wieder: „Sie ist weg. Sie ist weg.“ Dann sprudelte eine Salve an Worten durch den Hörer an Tanjas Ohr, wie sie sie von ihrer Freundin noch nie gehört hatte. Nur mit Mühe konnte sie alles verstehen, was Sabine teils heulend teils schreiend ausstieß. Was sie verstand und was ihr die Nackenhaare aufstellte, war die Tatsache, dass Sabine sich im Krummen Elsass befand und dort auf unerklärliche Art und Weise ihre Tochter verschwunden war. Sie berichtete von ihrer Suche nach Annabel, von den Menschen vor Ort, die sie nicht verstand, und von einem davon stürmenden Pony. Tanja musste sich selbst zusammenreimen, welches grauenhafte Szenario sich in diesem kleinen Ort abgespielt haben musste.

Im Hintergrund hörte sie Lara rumoren. Den Geräuschen nach war sie noch immer wütend. Doch in diesem Augenblick empfand Tanja ihr Toben als wohltuend. Sie ahnte, dass dieser Anruf etwas Schlimmes einleitete. Sie wagte nicht nachzufragen, was passiert war. Aber das war auch nicht nötig, denn alles sprudelte aus Sabine von allein heraus.

Zum Abschluss ihres Berichts bat die Freundin: „Tanja. Ich bitte dich, du musst kommen. Du bist Polizistin. Nur du kannst mir helfen.“

„Ich kann in Frankreich nichts ausrichten. Meine Befugnisse enden an der Grenze.“

„Natürlich kannst du. Mehr als diese bornierten Gendarmen, die nicht mal ein Wort Deutsch reden. Du kannst perfekt Französisch.“

„Die Gendarmerie ist aber in Frankreich zuständig. Nicht die Kriminalpolizei von Saarbrücken. Wenn ich dort auftauche, schicken die mich sofort wieder nach Hause.“

„Bitte komm“, flehte Sabine, als hätte sie Tanjas Erklärungen gar nicht gehört. Und wurde mit dem nächsten Satz ihrer Freundin endgültig in die Defensive gedrängt: „Stell dir mal vor, deine Lara verschwindet spurlos?“

„Nein. Lieber nicht.“

„Also. Ich bitte dich.“

Damit hatte sie gewonnen. Obwohl Tanja wusste, dass sie nicht einfach ins Elsass spazieren und dort eigenmächtig ermitteln konnte, sagte sie ihrer Freundin zu.

Mord ohne Grenzen - Elsass-Krimi

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