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Die Türklingel riss Tanja aus ihren Gedanken. Sabine stand wie erstarrt am Fenster. Tanja wartete, ob sie reagierte, doch das tat sie nicht. Also erhob sie sich und öffnete die alte, massive Eichentür.

Vor ihr stand ein Hüne von einem Mann. Schwarze Haare kräuselten sich über seiner breiten Stirn, ein Dreitagebart betonte ein starkes Kinn. Stahlgraue Augen blitzten unter dunklen Augenbrauen hervor. In der einen Hand hielt er lässig seine Anzugjacke, in der anderen seinen Dienstausweis. Sein Hemd war bis zur Hälfte geöffnet und gab die Sicht auf eine behaarte Brust frei.

So sieht also ein Hauptkommissar in Frankreich aus, überlegte Tanja. Dabei überlegte sie zu lang. Das merkte sie, als er sie mit einem leichten, französischen Akzent fragte: „Sind Sie Madame Sabine Radek?“

„Oh. Äh… Nein.“ Verdammt, warum stammelte sie? „Sabine Radek ist im Haus.“

Um die Tür ohne peinliches Kopf Anstoßen zu passieren, musste er sich bücken. Tanja schaute ihm dabei interessiert zu. Er ging ihr voraus in die geräumige Küche, die durch sein Eintreten plötzlich klein wirkte.

Sabine stand an einen der Schränke gelehnt, bleich und zitternd.

„Commandant Jean-Yves Vallaux. Ich bin von der Direction Interregional de Police Judiciaire Strasbourg hierher beordert worden“, stellte er sich vor. „Und wer sind Sie?“

„Das ist Sabine Radek“, erklärte Tanja, „die Mutter des vermissten Mädchens.“

„Das habe ich mir gedacht“, erwiderte der große Mann mit einem amüsierten Grinsen. Bevor er noch etwas anfügen konnte, sprach Tanja hastig weiter: „Es stört Sie doch hoffentlich nicht, wenn ich an Frau Radecks Stelle Ihre Fragen beantworte?“ Auf das Schweigen des Commandants fügte sie erklärend an: „Sie fühlt sich nicht gut.“

„Sind Sie, wie sagt man bei Ihnen, l’infirmière?“

„Nein, das bin ich nicht“, stellte Tanja klar und warf trotzig ihre langen, dunklen Haare zurück. „Ich bin nicht Sabines Pflegerin, ich bin Tanja Gestier, Kriminalkommissarin der Landespolizeidirektion Saarbrücken.“ Sie trug extra dick auf, in der Hoffnung, dass es gut klang. Aber schon der nächste Satz machte ihr klar, dass der Commandant durch diese Äußerung nicht zu beeindrucken war.

„Von meiner Dienststelle in Strasbourg ist mir nichts über eine Verbindungsbeamtin aus Saarbrücken mitgeteilt worden.“

„Verbindungsbeamtin?“ Tanja ahnte, dass sie mit dieser Frage ihre Unwissenheit verraten hatte. Aber jetzt war sie heraus.

„Die Stimme aus Deutschland?“

„Die Stimme aus Deutschland“, wiederholte Tanja begriffsstutzig.

„Wir haben es hier mit einem Verbrechen in Frankreich zu tun, dessen Opfer aus Deutschland stammt“, erklärte er endlich genauer.

Jetzt verstand Tanja. Wenn sie sich weiter so anstellte, konnte sie ihren Einsatz in Frankreich schnell wieder vergessen.

„Ihre Kollegen haben wohl noch nichts über meine Rolle in diesen Ermittlungen erfahren“, bluffte Tanja in ihrer Not.

„Oh. Le Juge d’Instruction hat sich bereits über den Fall informiert. Ich werde ihn wohl über sein Versäumnis aufklären müssen.“

„Wer ist der Juge d’Instruction?“ Tanja ahnte Schlimmes.

„Der Untersuchungsrichter, der das Verfahren überwacht.“

Der große Mann grinste immer noch. Dabei zogen sich seine vollen Lippen auf der linken Seite nach oben, was anzüglich wirkte. Tanja bemühte sich, diesen Ausdruck zu übersehen. Besser war es, sich jetzt darum zu kümmern, dass ihr der Fall nicht aus den Händen glitt. Und das konnte ihr nur gelingen, indem sie umgehend nach Saarbrücken fuhr. Dort musste sie alle Hebel in Bewegung setzen, um als Verbindungsbeamtin eingesetzt zu werden. Nur welche Hebel waren dafür nötig? Sie fühlte sich so hilflos, kannte sich mit den Regelungen der deutsch-französischen Zusammenarbeit der Polizei nicht aus.

„Ich muss zuerst nach Hause fahren, bevor ich hier mit meiner Arbeit beginnen kann“, erklärte sie so lässig, wie es ihr gerade möglich war.

„Wirklich?“ Wieder dieses Grinsen.

„Ja. Warum?“

„Als Verbindungsbeamtin sind Sie hier unentbehrlich.“

Jetzt nahm er sie auch noch auf die Schippe. Tanja kochte innerlich. „Keine Sorge. Ich werde zurückkommen.“

„Lassen Sie mich nicht zu lange warten.“

„Was wird hier gespielt?“, fragte Sabine dazwischen. „Ich kann es nicht fassen. Annabels Leben ist in Gefahr und Sie haben nichts Besseres zu tun, als meine Freundin anzubaggern.“

Erschrocken wich Jean-Yves Vallaux zurück. Das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. Er hob beide Hände als Entschuldigung, doch diese Geste sah Sabine nicht mehr. Sie brach in Tränen aus, ging zu Boden und schüttelte sich vor Weinkrämpfen.

„Am besten fahre ich sofort los und kümmere mich um alles.“ Tanja beugte sich erschrocken zu ihrer Freundin herunter und meinte: „Du musst zu einem Arzt gehen. Du brauchst etwas zur Beruhigung.“ An den Commandant gewandt fragte sie: „Gibt es in Potterchen einen Arzt?“

„Nein. Der Nächste ist in Sarre-Union. Und ich bezweifle, dass der noch erreichbar ist.“

„Dann komm mit mir nach Saarbrücken“, schlug Tanja vor.

„Nein. Ich bleibe hier“, stellte Sabine klar.

Mord ohne Grenzen - Elsass-Krimi

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