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Der Vormittag verstrich ohne eine Spur von Annabel. Der Himmel zeigte sich in einem schönen Blau, die strahlende Herbstsonne vermittelte den Eindruck von heiler Welt. Tanja seufzte.

Sabine hatte aus dem Krankenhaus angerufen und wissen wollen, wie erfolgreich sie mit der Suche nach ihrem Kind waren. Es war Tanja noch nie in ihrem Leben so schwergefallen, bei der Wahrheit zu bleiben. Sabine zu trösten, wollte ihr auch nicht gelingen. Die Hysterie ihrer Freundin hatte dazu geführt, dass eine Krankenschwester das Telefonat beenden musste.

Nun begleitete Tanja den Commandant mit gemischten Gefühlen. Sie fuhren zu den Dienststellen, die die Gendarmerie den Kollegen der Police Nationale zur Verfügung gestellt hatte. Sarreguemines ließen sie gerade hinter sich. Ihr nächster Weg führte zum Büro in Drulingen. Ergebnisse gab es keine.

Auf dem Rückweg nach Sarre-Union ließ Tanja ihren Blick über die vielen Bauernhäuser schweifen, die dicht an der Hauptstraße standen und dem Dorf einen lebendigen Eindruck verliehen. Immer wieder traf sie im Elsass auf Gebäude aus längst vergangenen Zeiten.

„Wüsste ich Annabel in Sicherheit, könnte mir das Elsass gut gefallen.“

„Wir sind hier im Krummen Elsass“, klärte Jean-Yves sie auf.

„Wo ist da der Unterschied?“

„Das Krumme Elsass ist eine Landzunge, die sich über die Vogesen auf das Plateau Loraine erstreckt“, drang Jean-Yves’ Bassstimme an ihr Ohr. „Historisch ist nirgends belegt, warum das Gebiet zwischen dem nördlichen Bitcherland und den südlichen Pays de Sarrebourg zum Elsass gehört. Es wird vermutet, dass es aus religiösen Gründen ans Elsass angeschlossen wurde, obwohl es von der Geografie mehr Lothringen als Elsass entspricht.“

Diese ausführliche Auskunft mutete schon fast wie Geschichtsunterricht an. Tanja staunte. Aber Jean-Yves war noch nicht fertig. Er vollführte eine Handbewegung, die sämtliche Häuser einschloss, die sie gerade passierten und sagte: „Schau dir die Häuser an. Nicht nur die Bauweise, auch die Aufteilung der Häuser entspricht der lothringischen Bauweise. Wir nennen das ‚Village de rue‘. Es bedeutet, dass alle Häuser direkt an der Straße stehen.“

Tanja sah das bestätigt. Viele Häuser lagen so dicht an der Straße, dass kaum noch Platz für Bordsteine blieb.

„Und trotzdem befinden wir uns hier im Krummen Elsass.“

„Warum ‚Krummes‘ Elsass?“

„Man sagt, dass nach der Reformation im 16. Jahrhundert um die Dörfer herum in kurioser Weise die Grenze je nach Religion gezogen wurde. Wir sind ein Grenzland zwischen dem Protestantismus und dem Katholizismus.“

„Und welcher Konfession gehört das Krumme Elsass an?“

„Im Krummen Elsass ist jedes Dorf protestantisch“, antwortete Jean-Yves. „Sobald wir die Departementgrenze verlassen, wird alles katholisch. Dadurch hat sich unter den Menschen im Krummen Elsass die Psychologie von Inselbewohnern entwickelt.“

„Von Inselbewohnern?“

„Ja. Diese Menschen blieben viele Jahre nur unter sich.“

„Das hat sich aber im Laufe der Jahre wieder geändert“, stellte Tanja bissig fest. „Ich denke da an Pascal Battiston.“

„Stimmt. Der ist aus Lothringen“, brummte Jean-Yves. Seine Kiefer mahlten. Tanja sah ihm an, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte, wollte ihn aber nicht darauf ansprechen. Soweit ging ihre Vertrautheit nicht.

Sie verließen Drulingen.

Die Gendarmerie Sarre-Union lag in einer Straße, die nach einem französischen Komponisten um die Jahrhundertwende benannt worden war. Das Haus mutete viel mehr nach einem gemütlichen Wohnhaus in ruhiger Lage denn nach einer Gendarmerie-Brigade an. Die Innenräume wirkten beengend und erdrückend. Gendarm Legrand empfing die beiden.

„Bonjour, Mademoiselle Gestier. Ça va?“, rief er.

„Ich bin Lieutenant Gestier und nicht Mademoiselle“, stellte Tanja sofort klar.

„Excusez moi, Lieutenent Gestier.“ Der kleine Mann verbeugte sich.

Tanja nickte zufrieden.

„Gibt es Ergebnisse?“, fragte Jean-Yves.

„Pardon. Mais non. Wir haben eine Ottleine eingerichtet“, antwortete der kleine quirlige Mann.

„Eine was?“ Tanja verstand ihr Gegenüber nicht.

„Hotline“, klärte Jean-Yves auf.

„Wir haben viele Polizeibeamte, die die Telefone besetzen. Uns entgeht kein Anruf.“

Damit waren sie auch schon am Ende ihrer guten Nachrichten angekommen und verließen das Gebäude. Tanja folgte Jean-Yves zu seinem Peugeot 607, der einsam auf dem großen Parkplatz stand. Sie durchquerten Sarre-Union, ließen die Stadt hinter sich und schlugen die schmale Landstraße ein, die nach Potterchen führte. Schon von weitem sahen sie schemenhaft das Dorf mit seinem charakteristischen rosa Kirchturm.

Am Rand eines Buchenwäldchens zu ihrer Linken erblickten sie einen großen Wagen. Der schwarze Lack glänzte in der Sonne. Abrupt bremste Jean-Yves ab. Er nahm ein Fernglas aus seinem Handschuhfach und schaute in die Richtung des verdächtigen Fahrzeugs.

„Da sitzt jemand drin“, teilte er mit und reichte Tanja das Glas.

Sie stellte dasselbe fest.

„Genau dort ist Annabel Radek das letzte Mal gesehen worden“, flüsterte Jean-Yves. Tanja bekam eine Gänsehaut

Gleichzeitig zogen sie ihre Waffen aus den Holstern, entsicherten sie, stiegen aus und näherten sich geduckt dem verdächtigen Auto. Es war ein Porsche Cayenne Geländewagen.

Tanja auf der Fahrerseite und Jean-Yves auf der Beifahrerseite rissen auf sein Kommando gleichzeitig die Türen auf. Ein spitzer Schrei und ein dumpfes Brummen ertönten.

Tanja richtete ihre Waffe auf einen nackten Po.

Der dazugehörige Mann drehte sich um, verlor das Gleichgewicht, fiel aus dem Auto und landete mit heruntergelassener Hose vor ihren Füßen. Lange Haare rahmten ein braungebranntes Gesicht ein. Blaue, weit aufgerissene Augen starrten sie entgeistert an.

„Polizei! Wer sind Sie?“, fragte Tanja den hilflos am Boden Liegenden. Er zitterte vor Kälte, seine Gesichtszüge wirkten gequält, während er versuchte, Tanjas Blicken auszuweichen. Von der anderen Seite konnte Tanja beobachten, dass Jean-Yves vor einem ähnlichen Problem stand. Vor ihm stand eine nackte Frau. Sie hauchte gerade den Namen Constance Pinolaire.

„Ich bin Lucien Laval“, stammelte der hilflose Mann auf dem Boden vor ihr. Tanja gab ihm ein Zeichen, dass er seine Hose hochziehen durfte. Erleichtert kam Lucien Laval dieser Aufforderung nach. Er richtete sich auf und überragte Tanja um einen halben Kopf. Ihr Blick haftete an seinen blauen Augen, die frech aufblitzten, kaum dass er komplett angezogen vor ihr stand.

„Was ist los? Seit wann ist ein bisschen Amour im Auto verboten?“

„Machen Sie den Kofferraum auf!“, befahl Tanja, ohne auf seine Anspielung einzugehen.

Verzweifelt drehte sich Lucien Laval um. Sein Blick fiel auf den Commandant. Mit Hoffnung in seiner Stimme rief er: „Jean-Yves, altes Haus! Seit wann darf eine deutsche Polizistin in Frankreich mit einer Waffe herumfuchteln?“

„Sie arbeitet mit mir zusammen als Verbindungsbeamtin.“

„Dann sag deiner Verbindungsbeamtin doch bitte, wer ich bin.“

Jean-Yves trat neben Tanja und erklärte: „Tanja, das ist Lucien Laval. Lucien, das ist Polizeikommissarin Tanja Gestier. Und jetzt öffne einfach den Kofferraum und beantworte unsere Fragen.“

Lucien Laval folgte seiner Anweisung. Im Kofferraum seines Wagens befand sich ein Koffer. Ein großer Koffer.

Alle Blicke hafteten darauf.

Jean-Yves zog sich Latexhandschuhe an, öffnete die Verschlüsse, ließ sie aufspringen. Mühsam gelang es ihm, den schweren Deckel anzuheben.

Unter lautem Knarren fuhr die schwere Klappe Millimeter für Millimeter nach oben. Vor ihnen offenbarten sich Kleidungstücke in allen Farben.

„Was soll das?“, fragte Lucien.

„Wir suchen ein vierjähriges Mädchen, das vermisst wird“, erklärte Jean-Yves.

„Und das suchst du in meinem Kofferraum – zwischen meinen Klamotten?“

„Tut mir leid, aber dein Auftauchen mit einem fremden Wagen an einer Stelle, wo das Kind zuletzt gesehen wurde, hat dich verdächtig gemacht.“ Jean-Yves zuckte mit den Schultern. „Und dazu noch deine Begleitung…“ Alle Blicke fielen auf Constance Pinolaire, die sich in den Wagen zurückgezogen und die Beifahrertür geschlossen hatte. „Wo hast du die wieder aufgetrieben, Lucien? Kannst du nicht einmal deinen Lümmel in der Hose behalten?“, fügte er flüsternd an.

Tanja wunderte sich darüber, wie Jean-Yves mit diesem Mann sprach. Es fiel ihr nicht zum ersten Mal auf, dass der Umgangston der Polizei in Frankreich rauer ausfiel als in Deutschland. Aber jetzt wollte sie ihn nicht darauf ansprechen. Denn trotz allem war das Gespräch hochinteressant.

Lucien ordnete seine langen Haare, band sie zu einem Zopf. „Ein vierjähriges Mädchen – du lieber Himmel. Ich komme gerade aus Paris. Also kannst du mich nicht für etwas verantwortlich machen, was in dieser Zeit in Potterchen passiert ist.“

„Hoffentlich hast du an Kondome gedacht“, wandte Jean-Yves sauertöpfisch ein.

„Nur nicht neidisch werden. Irgendwann kommst du auch noch auf deine Kosten.“

„Danke für deine Fürsorge. Ich will einfach nur verhindern, dass einer wie du sich vermehrt“, konterte Jean-Yves. „Und was ist das überhaupt für ein Wagen?“

„Funkelnagelneu.“ Stolz brüstete sich Lucien Laval. „Hat mir meine Firma als Dienstwagen zur Verfügung gestellt. Cool, oder?“

„Wissen die auch, was du in dem Dienstwagen so treibst?“

Lucien stieg in den Geländewagen ein, ließ die Scheibe herunterfahren und rief, während er Gas gab: „Mach eine Meldung. Spätestens dann wissen sie’s.“

Mord ohne Grenzen - Elsass-Krimi

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