Читать книгу Der Gartenpavillon - Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 10

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Da war eine Staubwolke, die sich von weither näherte. In der flimmernden Hitze glich sie einer kleinen Windhose, die sich entschlossen hatte, dem Kiesweg von Binga zu folgen.

Karen-Lis hob den Blick von dem Weg und sah hinüber zum Lake Kariba, wo der versteinerte Wald aus Gespensterbäumen aus dem Wasser herausragte. Einst hatte hier ein echter Wald gestanden, und in der Mitte des Sees lagen unterseeische Dörfer, die einst bewohnt gewesen waren. Bis man das Wasser des Sambesiflusses gestaut hatte, um die Grundlage für Strom und somit fürs Überleben zu schaffen. Das war jetzt viele Jahre her, aber die Bäume standen noch immer wie stumme Zeugen in Gruppen am Ufer und bis zu den Knien mit ihren nackten, toten Wurzeln im Wasser.

Weit draußen konnte sie ein Hausboot sehen, das sich in Richtung Sengwa River bewegte. Ansonsten war der See blank und ruhig. Sie schloss die Augen, als sie dort auf der Treppe der Veranda saß, und zog die Beine zu sich heran in den Schatten des Daches. Es würde ein brütend heißer Tag werden. Bereits am Vormittag lag die Temperatur bei vierzig Grad. Und das kurz vor Heilig Abend. An einem Tag, an dem sie nicht einmal zu Hause anrufen oder eine E-Mail schicken konnte, weil das Telefonnetz wieder einmal aus unbekannten Gründen zusammengebrochen war.

Sie hörte Stimmen aus dem Haus. Das Gemurmel von Kindern, die in der Wärme nicht schlafen konnten; beruhigende Laute von Kollegen, die sie zu überreden versuchten, nicht zu schwatzen und die Ruhestunde einzuhalten. Sie waren aufgeregt. Der Weihnachtsmann sollte kommen, das wussten sie, aber sie wussten nicht, dass er in Gestalt eines freiwilligen Helfers unten aus Binga kommen würde. Sie sollten Geschenke bekommen, wussten sie. Genau wie einige von ihnen, die Ältesten, auch wussten, dass das ihr letztes Weihnachtsfest sein würde.

Sie griff nach dem Glas mit Saft, das neben ihr auf der Treppe stand, und trank von dem süßen Zeug. Es schmeckte nicht nach Weihnachten. Jedenfalls nicht nach ihrem Weihnachten. Aber es war ihre eigene Entscheidung gewesen, auch wenn sie sich nicht einbildete, sie aus dem edlen Motiv, etwas Gutes zu tun, getroffen zu haben. Natürlich spielte das mit hinein und war während ihres wochenlangen Aufenthalts in dem von Dänemark unterstützten Kinderheim immer stärker geworden. Am Anfang stand einfach nur die gute Geschichte. Die, die sie wie eine Art Tagebuch für die Zeitung für die saure Saure-Gurken-Zeit nach Neumahr schreiben sollte. Und dann war da die Familie. Die Distanz, die gut- und gleichzeitig wehtat. Die Familie, die wie eine überalterte Nachrichtengeschichte, aussortiert und nie gedruckt, dalag und auf sie wartete. Denn mit jedem Tag, der verging, wurde sie unwahrscheinlicher. Jeden Tag wurde es schwerer und schwerer, damit fertig zu werden und sie der Umwelt zu erklären.

Sie dachte kurz über das Bild mit der Geschichte nach. Es passte besser, als sie es sich hätte wünschen können. Sie wusste nicht, wann es passiert war, dass die Familie zu Hause in Dänemark sich plötzlich von ihr entfernt hatte oder umgekehrt sie sich von ihr. Es war nicht unmittelbar, nachdem sie ins Ausland gegangen war, passiert. Während ihrer Zeit als Korrespondentin für die Zeitung in Paris war sie oft zu Hause in Nyborg gewesen, und sie hatte sich selbst davon überzeugen können, dass alles war, wie es sein sollte. Aber irgendwann, vielleicht als sie sich in Jacques verliebt hatte und ein ganzes Jahr nicht nach Dänemark gekommen war, schien sie plötzlich eine Fremde geworden zu sein. Nicht länger eine von ihnen. Als sie nach dem Bruch mit Jacques endlich wieder Weihnachten zu Hause verbrachte, war alles anders. Kit und Henrik beschäftigten sich nur mit sich selbst, ihre und Kits Interessen waren unterschiedlicher denn je und ihre Eltern plötzlich älter und zerbrechlicher. Der unausgesprochene Vorwurf hatte klammheimlich Einzug gehalten; sie bemerkte es an Kleinigkeiten. Ein Blick, wenn sie begeistert von ihrer nächsten Aufgabe sprach; ein Seufzer, wenn sie nicht versprechen konnte, zu Geburtstagen und Gedenktagen da zu sein; Kits gequältes Gesicht, wenn sie das Gefühl hatte, eine Schwester zu haben, die nichts begriff.

Sie war ein Gast in ihrer eigenen Stadt geworden. Doch das war nicht alles. Da war auch noch das andere. Der Fluch, der wie eine Schlange zwischen sie gekrochen war und sich zusammengerollt hatte, bereit zuzuschlagen. Der die ganzen Jahre gelauert hatte und dem sie, solange sie sich erinnern konnte, verstanden hatte auszuweichen.

Sie folgte der Staubwolke mit den Augen. Jetzt konnte sie ein Motorrad erkennen und sie fragte sich, ob es der Weihnachtsmann mit seiner roten Kappe und dem in der Satteltasche versteckten Bart war.

»Vermisst du auch Tannenbäume und Marzipanschweine?« Henriette kam heraus und setzte sich neben sie. Unter den Armen hatten sich Schweißränder auf ihrem weißen T-Shirt gebildet, und das Haar wurde von einem Stirnband zurückgehalten, um nicht nass in sich zusammenzufallen.

Karen-Lis zuckte die Schultern. »Es ist so weit weg. Fast unwirklich.«

Henriette nickte. »Das ist das Gefährliche. Wenn man es sich nicht mehr vorstellen kann. Wenn unser kleines Gehirn und unsere abgestumpfte Seele nur noch eins nach dem anderen fassen können.«

»Was ist mit deiner Familie?«, fragte Karen-Lis und spürte die Unruhe. »Wie nehmen sie es auf? Ich meine, dass du so lange weg bist?«

Henriette war Krankenschwester und hatte auch Eltern und Geschwister in Dänemark. »Sie versuchen mir beharrlich weiszumachen, dass sie es verstehen. Aber sie sind es, die den Preis bezahlen.«

»Den bezahlen wir selbst doch auch«, sagte Karen-Lis und dachte an den Verlust, der wie ein schwarzes Loch im Magen arbeitete.

»Aber wir haben die Wahl«, meinte Henriette. »Wir sind es, die sie mit unserem Kommen und Gehen beherrschen.«

Karen-Lis verscheuchte eine Fliege. »Ich glaube nicht, dass ich irgendjemanden beherrsche. Jedenfalls will ich das nicht. Ich lebe nur mein Leben.«

Henriette beobachtete sie sanft. »Warum bist du eigentlich hier?«

Es war keine inquisitorische Frage, kein Misstrauen. Nur Freundlichkeit, wie eine ausgestreckte Hand.

Vielleicht machte es das so schwer. »Weil ich ein Feigling bin«, sagte Karen-Lis zu dem See mit den toten Bäumen.

Henriette widersprach nicht. Ein Außenstehender hätte vielleicht protestiert. Hätte eingewandt, dass man Feiglinge nicht mit HIV-infizierten und AIDS-kranken Kindern arbeiten lassen würde. Aber Henriette hatte acht Jahre als Krankenschwester in Afrika gelebt. Sie wusste, dass Wohltätigkeit viele Gesichter haben und viele Formen annehmen konnte. Und dass Flucht die verbreiteteste war.

»Man kann auch zu hart gegen sich selbst sein«, sagte sie nur.

Das Geräusch des Motorrads kam näher. Henriette stand auf. »Ob das unser Weihnachtsmann ist oder nicht, der Lärm muss aufhören. Er weckt sie alle auf.«

Karen-Lis beobachtete, wie sie schräg über den verstaubten Platz dem Mann entgegenging. Einen Augenblick später winkte ihr Henriette herüberzukommen.

»Für dich. Ein Telegramm. Du musst nur unterschreiben und bei Kasse eins bezahlen.«

Verwundert unterschrieb sie und gab dem Mann ein paar Münzen aus der Tiefe ihrer Shortstasche. Er nickte zum Dank, wünschte ihnen schöne Weihnachten und fuhr lautlos im Leerlauf den Hügel hinunter.

Sie riss das Telegramm auf, während Henriette diskret zurück zum Haus ging. Las die paar Zeilen und merkte, wie ihr ganzer mühsam aufgebauter Panzer plötzlich mit einem Knall in sich zusammenfiel. Die Worte flimmerten vor ihren Augen.

»Ich muss nach Hause!« Ihre Stimme brach, sie hatte noch nie so geklungen. »Mein Vater ... er ist krank.«

Henriette drehte sich um und wartete auf sie. Und als Karen-Lis sie erreichte, legte die Krankenschwester den Arm um sie, als würden sie sich schon jahrelang kennen und nicht erst eine Woche.

Später, als sie Seite an Seite standen und über den See und die toten Bäume blickten und sie sich wie einer von ihnen fühlte mit den Wurzeln im Dunkeln und den Armen im Licht und als sie still flüsternd betete, herausgezogen zu werden, fasste Henriette sie um die Schultern und zog sie an sich.

»Du bist kein Feigling«, sagte sie so sanft, dass Karen-Lis geweint hätte, wenn sie nur gewusst hätte, wie das ging. Aber das war nicht ihre Art. Hatte sie nicht schon früh gelernt, dass es galt, all die Hindernisse zu überwinden, die das Leben aufzuwarten hatte? Sie konnte nahezu die Stimme ihres Vaters in ihrem Ohr hören. »Nimm es wie ein Mann, Mädchen.«

Einen Augenblick später befreite sie sich aus der Umarmung und ging hoch Richtung Haus.

Der Gartenpavillon - Skandinavien-Krimi

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