Читать книгу Der Gartenpavillon - Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 15
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ОглавлениеEs tat fast zu weh. Genau wie es die Gesichter der Kinder mit ihrem stummen Betteln getan hatten. Selbst die Wände schienen sie mit fordernden hungrigen Blicken anzustarren. Als forderten alle einen Teil von ihr.
Vielleicht lag es mehr an dem Haus als an der Familie. Vielleicht daran, dass ihre Mutter natürlich ihr altes Zimmer aufgeräumt hatte, in dem alles so stand wie damals. Sodass sie plötzlich, erwachsen wie sie war, eine Zeitreise antrat, um wieder einmal im Alter von acht, zehn, zwölf und sechzehn Jahren die älteste Tochter der Familie zu sein. Egal wie weit sie zurückdachte, es war immer so gewesen. Die große Schwester Karen-Lis, die alles aushielt. Die sich hart machen und zum Wohle der Familie Geheimnisse für sich behalten konnte. Die nicht Kits künstlerische Sensibilität und Verletzlichkeit hatte, sondern die Beharrlichkeit und Ausdauer eines Terriers.
Sie packte aus. Versuchte, sich mit Hilfe des Kofferinhalts in der Gegenwart festzukrallen. Kramte die afrikanischen Buschshorts und das khakifarbene Hemd heraus, das sie in Bulawayo gekauft hatte; den Sarong in den Farben des Ndebele-Stammes, die kleine Basaltfigur des Schakalgottes Anubis aus der Zeit, als die Zeitung sie nach Ägypten geschickt hatte, um über das Massaker an den Touristen am Hatshepsut Tempel zu berichten. In dem Hotel in Luxor hatte sie eine Affäre mit einem holländischen Kollegen gehabt, der ihr die Figur geschenkt hatte. Sie versuchte ihn heraufzubeschwören, sich an das Gefühl seines Körpers zu erinnern, an seinen Duft und seinen Blick.
Aber es funktionierte nicht. Die Vergangenheit schien sie durch die Geschichte des Zimmers, in dem noch immer alte Rockplakate und politische Ikonen an ihren Heftzwecken an den Wänden hingen, unablässig anzusaugen. Pink Floyd und Black Sabbath gegenüber von Vaclav Havel und einem jungen Lech Walesa, der von seinen Kameraden auf Händen getragen wurde und mit zwei ausgestreckten Fingern das V-Zeichen machte. Rahmen hatte sie nie gemocht.
Sie legte eine flache Hand in das Fach, in dem einmal ihre Jeans gelegen hatten – mit kunstvollen Flicken und Rissen über den Oberschenkeln, wie es die Mode der Zeit vorschrieb. In dem sie damals ihre erste Pillenpackung unter all den Sachen versteckt hatte; aus Angst vor der Entdeckung von etwas so Privatem. Und aus noch mehr Angst vor dem Tag, an dem sie in der Praxis ausprobiert werden sollten.
Mit diesem in ihren Schlaf verwobenen Tag war sie aufgewacht. Merkwürdig, dass sie nicht von ihrem Vater geträumt hatte, dachte sie. Nicht von Kit oder ihrer Mutter. Sondern von ihrer ersten Liebe. Von Jesper, mit dem krausen Haar und den tunesischen Perlen, die er an einem Lederriemen um das Handgelenk trug. Jesper, den sie eines Abends, als ihre Eltern nicht zu Hause waren, in ihr Zimmer mit den Wänden mit der Blumentapete eingeladen hatte, nachdem sie Kit zum Schweigen verpflichtet hatte. Jesper, der schon eine Freundin gehabt hatte.
Es war das Haus, stellte sie wieder fest, während sie systematisch den Koffer leerte und ihre Sachen aufhing. Es schien all das in ihr hervorzurufen, was sie einmal gewesen war und was sie so lange ignoriert hatte. Wie eine Zeitfalle, die die letzten zwanzig Jahre auswischte, sodass sie wieder die Sechzehnjährige war, hungrig und unsicher dem Leben gegenüber. Eine Unsicherheit, für die sie sich schämte und die sie vor allen verbarg. Weil sie nicht erlaubt war.
Sie war nur das eine Mal mit Jesper zusammen gewesen. Und dann hatte sie ein paar Wochen später auf einer Fete neben ihm gesessen, überzeugt von ihrer Zusammengehörigkeit nach den gemeinsam verbrachten Stunden, wo sie dagelegen und zu der geblümten Tapete hinaufgeschaut und gewusst hatte, dass das das vollkommene Glück war. Hier und nur hier, in ihn verschlungen, so nah, dass sie die Luft einatmete, die er ausatmete, konnte sie alles vergessen.
Ganz selbstverständlich hatte sie ihre Hand auf seine gelegt, die dort auf der Lehne des Stuhls lag, mit dem Lederriemen und den tunesischen Perlen in aufgemaltem Blau. Einen langen Augenblick lag ihre Hand auf seiner, und sie spürte die Wärme und die Erinnerung an den Abend in ihrem Zimmer, die durch ihren Körper flössen, spürte die Blicke der anderen, die sahen und wussten, was das zu bedeuten hatte. Dass sie nun zusammen waren – ein Paar.
Dann zog er seine Hand ohne ein Wort weg.
Als sie mit Auspacken fertig war, ging sie zum Fenster und sah in den Garten hinunter, in dem Kit und sie als Kinder gespielt hatten. Jetzt lag dort eine Lage von pappigem, schmelzendem Schnee, festgeleimt an den nackten stacheligen Ästen und entblößten Büschen. Und sie verstand nicht, dass sie plötzlich hier stehen konnte, wo sie doch noch immer Henriettes Arm um ihre Schultern spüren und vor sich die toten Bäume des Kariba-Sees und die funkelnden Blicke der Kinder sehen konnte, als der Weihnachtsmann endlich kam.
Einen Moment fragte sie sich, wie Kit reagiert haben würde, wenn sie dort gewesen wäre. Wenn sie die Kinder gesehen hätte, gespürt hätte, wie sie sich festkrallten und einem die Arme um den Hals schlangen, wenn sie in ihre Augen gesehen und das Leben gespürt hätte, das auf geliehener Zeit basierte. Kit, deren Herzenstür immer weit offen stand wie eine Einladung.
Aber das war unrealistisch. Sie hätte das nicht zugelassen. Denn Kit hätte so einen Sturmangriff auf eine offene Tür nicht überlebt. Bei ihr war das etwas anderes. Sie war hart geworden, schon früh. Bei ihr gab es keine Türen, die einen Spalt breit offen standen.
Sie ging in die Küche hinunter, wo ihre Mutter Kaffee gekocht und selbst gebackenes Brot und Käse und Marmelade auf den Tisch gestellt hatte. Sie selbst saß mit einer leeren Tasse Kaffee am Tischende, noch mit der Schürze. Wie immer mit der Schürze.
»Ich dachte, wir sollten dich ausschlafen lassen.«
»Gut gedacht, Mutter«, sagte Karen-Lis und schmierte sich ein Brot. »Was für eine Reise.«
Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht verstehen, wie du so schnell kommen konntest. Aus Afrika.«
»Das Telegramm ist von einem Mann gebracht worden. Zuerst haben wir ihn für den Weihnachtsmann gehalten. Ich bin nur noch ein paar Stunden geblieben, bis der richtige Weihnachtsmann da war. Du hättest sie sehen sollen, Mutter ... ihre Freude.«
Sie hielt inne. Spürte eine Verlegenheit, die sich zwischen sie schlich. Fuhr schnell fort. »Also, wir haben vier Stunden bis Bulawayo gebraucht. Henriette hat mich mit dem Landrover gefahren. Von da aus habe ich ein Flugzeug nach Joburg bekommen. Dann über Frankfurt nach Kopenhagen und nach Odense. Hast du im Krankenhaus angerufen? Was ist mit Kit?«
Ihre Mutter nickte. »Sie ist schon da. Bis wir kommen, dann hat sie etwas anderes vor.«
»Sie ist sauer auf mich.«
Ihre Mutter musterte eingehend die Kaffeekanne. Es war, als wäre sie in Trance gefallen. »Ihr seid so verschieden«, sagte sie nur.
Sie hatte ihre Mutter fragen wollen, was schief gelaufen war. Warum sie plötzlich ihren Vater dort im Krankenhaus liegen sehen musste, umgeben von Krankenschwestern mit raschelnden Kitteln und dem Geruch von Desinfektionsmitteln. Was ihm die Kräfte geraubt hatte wie im alten Ägypten, wenn Anubis mit dem Schakalkopf die Toten vor ihrem Treffen mit Osiris, und bevor ihre Herzen auf der Waage gegen die Feder der Wahrheit gewogen wurden, ihres Inhalts entleerte.
Aber sie konnte nicht fragen. Denn sie wusste genau, dass ihre Mutter ihr nicht helfen konnte. Dass sie nichts wusste, weil sie nichts wissen wollte. So war die Ehe ihrer Eltern vielleicht immer gewesen. Auch bevor sie und Kit Augen und Ohren bekamen. Eng verbunden, aber mit der stillschweigenden Übereinkunft, nicht zu viele Fragen zu stellen. Oder war es einmal anders gewesen? Gab es vielleicht eine Vertrautheit, von der niemand wusste, wie es in so vielen Ehen der Fall war?
Karen-Lis’ Blick wanderte zur Kühlschranktür, die, so lange sie zurückdenken konnte, mit Fotos aus dem Alltagsleben der Familie geschmückt war. Sie suchte nach neuen Bildern, die während ihrer Abwesenheit aufgenommen worden waren. Aber es gab keine. Die Zeit schien in den letzten Jahren aufgehört haben zu existieren. Als könnte man das gesamte Familienleben in die Jahre in Hongkong und die ersten Jahre in Nyborg pressen.
Sie stand auf und sah sich die Fotos näher an. Sie selbst und Kit, wie sie sich im Garten in Hongkong umarmten; ihre Eltern in Festkleidung vor dem Eintreffen der Gäste; Nachbarn und Freunde, die Silvester an einem schön gedeckten Tisch saßen. 1972 stand auf dem Kranzkuchen in der Mitte des Tisches. Sie erinnerte sich an die meisten: Mary Wong, die rechte Hand ihres Vaters in der Firma, sein früherer Chef, Abel Zimmerman, mit der großen Nase; dänische Freunde aus der Kronkolonie; ihr Nachbar Billy Ling und seine dänische Frau Susanne; ein äußerst ungleiches Paar. Billy Lings Blick hing an ihrem Vater, der das mit Cognac gefüllte Glas zum Anstoßen erhoben hatte. Alle anderen lächelten und hießen das neue Jahr willkommen, obwohl es ein dänisches und kein chinesisches Neujahrsfest war. Aber Billy nicht. Nicht die Andeutung eines Lächelns war auf seinem Gesicht zu sehen. Es war, als würde er in einem unbeobachteten Augenblick ein stilles Gebet quer über den Tisch zu ihrem Vater schicken.
Ihr Vater.
Sie spürte, wie sich die Kehle zu einem Weinen zusammenzog, das sie nicht zulassen wollte. Könnte er sie sehen, wie sie jetzt mit den Tränen kämpfte, er würde sie mit Sicherheit ausschimpfen. »Tränen sind verlorene Zeit«, hatte er immer zu ihr gesagt. »Werde sauer. Schmeiß mit Tellern um dich und schrei. Man muss etwas tun. Das ist das Einzige, das hilft.«
Und das hatte sie gemacht. Etwas getan. Ihr ganzes Leben lang hatte sie etwas getan, war rastlos von Land zu Land gereist und hatte nicht mit Tellern, sondern mit Worten um sich geworfen. Aber jetzt, wo er dort in dem Krankenhaus in seinem weißen Bett lag, wusste sie, dass es nicht geholfen und dass er Unrecht hatte. Doch das war nicht das Schlimmste. Das Schlimmste waren die Zweifel, ob es ihm selbst geholfen hatte. Denn was immer man im Leben tat, am Ende stand immer die Waage. Und was konnte ein schweres Herz schon gegen die Feder der Wahrheit ausrichten?