Читать книгу Der Gartenpavillon - Skandinavien-Krimi - Elsebeth Egholm - Страница 8

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Der Teufel musste Lego erfunden haben!

Henrik beobachtete seine großen Pranken, die vergebens versuchten, die Ritterlanze in der Hand der Figur festzuklemmen. Diese Hände waren nicht für eine solche Kleinarbeit geschaffen, konnte er gerade noch denken, bevor sein Neffe die Geduld verlor.

»Ich kann das selbst.«

Mit einem irritierten Seufzer gab er nach, und Victors fünfjährige Kinderfinger hatten die Situation schnell unter Kontrolle. Mit einem Ausdruck des Triumphs richtete er Helm und Visier des Ritters, klemmte ihn auf dem weißen Pferd fest und stellte die Equipage auf den Tisch neben die Schachtel mit dem Vorweihnachtsgeschenk, das sein Onkel ihm gerade mitgebracht hatte.

»So!«

»So!«, wiederholte Henrik wie ein Echo. Er wusste ja genau, dass es wie auf dem Bild aussehen musste, sonst war es nicht richtig. Viktor richtet leicht, fast symbolisch die Lanze, wie ein Frisör das Haar eines Kunden richtet, das sich wieder in die alte Form gelegt hat. Perfekt. Da standen sie Seite an Seite wie zwei Spiegelbilder. Zwei Ritter auf weißen Pferden, mit zwei Lanzen und zwei Schwertern und zwei Helmen mit Visier und wehenden Federn. In genau der gleichen Stellung, mit erhobener Lanze und dem Schwert dicht am Körper. »Der Ritter auf dem weißen Pferd«, murmelte Henrik und wusste, dass etwas an dem Ausdruck falsch war. Aber er konnte sich nicht erinnern was. Einen Augenblick ertappte er sich bei dem Wunsch, in der Zeit geboren zu sein, wo Muskelkraft, Schwerter und Lanzen über Streitigkeiten und Liebe entschieden. Dort hätte er bestimmt besser hineingepasst. Zumindest hätte er seinen Körper für etwas Seriöses einsetzen können wie zum Beispiel bedrohte Frauen retten und ihre Unschuld verteidigen, anstatt Fußball in der Old-Boys-Liga des Nyborg IF zu spielen und als Statist bei den jährlichen Stadtwallspielen mitzuwirken. Letzteres jedoch mehr um der Kameradschaft willen.

Das Telefon schellte, während er in seiner Fantasie noch immer mit Rüstung und Waffen auf seinem Pferd saß und sich wie der Turm in einem Schachspiel fühlte. Einen Moment dachte er an Kits Vater und das Zimmermann-Schachspiel mit seinen als Ritter und Könige und Knechte gestalteten Figuren. Das letzte Spiel hatten sie nie beendet. Vielleicht standen die Figuren noch immer da, fest gefroren wie auf einem toten Schirmbild.

Victor stürmte davon, bevor Henrik auch nur die Rüstung abwerfen und sich aus der Tiefe des Sofas erheben konnte. Kaum vorstellbar, dass man selbst einmal so ein kleiner Quirl war. Victor sollte nur wissen, wie schnell man plötzlich einen Meter neunundachtzig groß und neunzig Kilo schwer werden konnte, ohne deshalb sehr viel klüger zu werden.

»Kit, Kit«, jubelte der Neffe in den Telefonhörer. »Ich habe einen Ritter bekommen.«

Zu seiner eigenen Überraschung kam er dennoch so schnell auf die Beine, als würde der Sitz plötzlich unter ihm brennen.

»Willst du mit ihm sprechen?«, fragte der Neffe, jetzt geschäftsmäßiger. Kit hatte offenbar nicht das große Interesse für seinen Ritter bekundet.

Henrik nahm den Hörer. »Ja?«

»Henrik. Entschuldige, dass ich störe ...

Es war drei Monate her, seit er ihre Stimme gehört hatte, und sie hatte sich bereits verändert. Früher war sie eine lustige Mischung aus melodischem Fünisch in Moll und immer mit einer seltsamen Heiserkeit, die von zu vielen Zigaretten kam und von mehr Halsinfektionen als bei irgendjemand sonst, den er kannte. Plus einem Teil eingebildeter.

Jetzt klang die Stimme schrill, an der Grenze zur Panik. »Deine Mutter sagte, du wärst bei Janne.«

»Als Babysitter«, erklärte er und verfluchte die hilfsbereiten Mütter der Welt.

»Es geht um Vater ...«

Er konnte hören, dass sie den Tränen nahe war. Spürte, wie sein eigener Puls zu hämmern begann. »Ist es das Herz?«

»Wir haben ihn heute Morgen im Büro gefunden. Er liegt auf der Intensivstation in Odense ... Wir sind bei ihm ...«

Sie brachte es nicht über sich zu fragen, merkte er.

»Ich muss warten, bis sie nach Hause kommen. Sie machen Weihnachtseinkäufe«, sagte er. »Ich komme, sobald sie hier sind.«

Es entstand eine Pause. Dann redete diese fremde Kit-Stimme, die jetzt etwas zur Ruhe gekommen war, weiter.

»Du musst entschuldigen. Aber ich dachte ...« Sie zögerte.

»Ja?«

»Du kennst das doch. Von deinem Vater«, fuhr die Stimme nachdenklich fort und klang einen Augenblick völlig normal. »Du weißt, wie das ist. Wie es ist, dazustehen und nicht zu wissen, was man machen soll und ...«

Jetzt riss der Faden, merkte er und er wollte etwas Beruhigendes sagen. Aber sie war schneller und erzählte ihm die Wahrheit, die er bereits kannte.

»Es gibt sonst niemanden, den ich hätte anrufen können.«

Wenigstens war sie ehrlich. »Ist schon okay. Keine Panik.«

»Keine Panik«, wiederholte Kit panisch. Er konnte sie vor sich sehen, wie sie klein und dunkel dort in dem weißen Krankenhaus stand, ihre nervös flatternden Hände und ihre Augen, die überall Tod und Krankheit sahen. Eine kleine Gestalt in einer allzu großen Welt.

»Du hörst nicht zu. Das hier ist Darth Vader, der Böse. Der hier heißt Obi-Wan Kenobi, und er ist der Gute.«

Viktor war über seinen Mangel an Konzentration deutlich verärgert. Aber Henriks Gedanken gingen auf Wanderschaft, während er mit einem Rest von Aufmerksamkeit versuchte, seinen Onkelpflichten nachzukommen. Sonst hatte er damit keine Probleme, aber es passierte auch nicht jeden Tag, dass einen seine Exfreundin anrief. Er konnte noch immer ihre Stimme in seinem Ohr hören. Er hatte diese Stimme geliebt und sie beinahe gehasst. Diese Stimme, die in Tonlage und Ausdruck schwingen konnte wie Kit selbst. Ganz tief im Keller oder oben in den Wolken, je nachdem wer oder was das Gleichgewicht ihres Gemüts beeinflusst hatte. Sie war etwas für Fortgeschrittene, daran bestand kein Zweifel. Die ganze Familie war etwas für Fortgeschrittene.

Er versuchte erfolglos, interessiert auszusehen, während Victor ihn in Star Wars einführte. Stellte zu seiner Irritation fest, wie seine gesamte sorgfältig aufgebaute Erik-Bennett-Verteidigung in sich zusammenzubrechen begann.

Nach drei Monaten war die Familie Bennett ganz langsam aus seinem System verschwunden, und er hatte die Erleichterung zu fühlen begonnen, die er als Tausch für den Bruch bekommen hatte. Mit Kit, wie auch mit der ganzen Familie, denn sie traten als Paket auf, hatte er herausgefunden. »Nehmen Sie vier für Neunfünfzig«, hätte genauso gut auf der gesammelten Familienpackung stehen können.

»wenn ich auf den Knopf drücke, kämpfen sie. Hörst du das nicht?«, fragte Victor und ließ die beiden Star-Wars-Puppen Kampflaute ausstoßen und ihre Schwerter gegeneinander schwingen.

»Und wer gewinnt?«

Der Neffe sah ihn ärgerlich an. »Natürlich Obi-Wan Kenobi. Er ist doch der Gute.«

»Und die Guten gewinnen immer?«

Einen Moment sah Victor verwirrt aus. Henrik vermutete, dass er überlegte, was passieren würde, falls der Böse gewinnen würde. Aber das konnte er sich offenbar nicht vorstellen, denn er sagte voller Überzeugung: »Das weißt du doch genau.«

Henrik nickte. Natürlich wusste er das. Genauso wie er wusste, dass man gut und böse leicht ausmachen konnte, wenn man fünf Jahre alt war. Die ganze Welt war einfach in gut und böse unterteilt, dachte er und wünschte sich, dass es mit Vierunddreißig noch genauso leicht wäre.

Sobald Janne und Christian kamen, fuhr er nach Odense. Der weiße Volvo Amazon schnurrte gleichmäßig und beruhigend vor sich hin. Er genoss die Einfachheit des Autos, das wie ein unkomplizierter alter Freund für ihn war. Keine verborgenen Tagesordnungen und keine böswilligen Unterstellungen; keine Intrigen, immer direkt, keine Computertechnik, keine Tücken und kein übersensibler neumodischer Motor, der es nicht mochte, wenn sich eine Fliege auf ihn setzte. Immer und immer wieder hatte er sich – mit Kits Stimme – gesagt, dass man für ein Auto keine Gefühle hegen konnte. Und immer und immer wieder war seine Vernunft vom Gegenteil überzeugt worden. Der Volvo gab ihm eine Freude, die er ohne weiteres mit gutem und unkompliziertem Sex vergleichen konnte. Ein ketzerischer Gedanke, den er natürlich für sich behielt.

Während der Fahrt drängten sich ihm Erinnerungen auf. Ohne es wirklich zu wollen, fiel ihm ihr erstes Treffen auf einer Silvesterparty bei seinem Freund Carsten ein. Sie waren zusammen zur Schule gegangen, Carsten und er. Carsten hatte den gleichen Weg eingeschlagen, Handelsschule und anschließend eine Anstellung bei Kaliki bei Kits Vater, der Textilien herstellte und in alle möglichen Länder exportierte. Er selbst war zu diesem Zeitpunkt unentschlossen, was das Leben anging. Wie er es immer gewesen war, seit sein Vater die Familie verlassen hatte, als er zwölf war. Clever, aber unentschlossen, wie seine Mutter es ausdrückte. Das Einzige, wofür er sich im Alter von neunundzwanzig interessierte, waren Autos und Schach. In der genannten Reihenfolge. Sein Geld verdiente er als Springer, nachdem er drei Viertel eines Lehrerstudiums absolviert hatte. Keine besonders feine Personalakte. Aber ihm war das gleichgültig.

Er hatte bereits von Erik Bennett gehört. Hatte auch von der Tochter gehört. Und als er sie Silvester traf, war es mit seinem erstrebten Status als Junggeselle vorbei.

Der Weihnachtsverkehr war entnervend. Während er sich zwischen Autos hindurchschlängelte, die voll gepackt waren mit unleidlichen Jugendlichen und riskant im Rückfenster gestapelten Paketen, erinnerte er sich an das Ziehen im Bauch, als er an jenem Abend mit ihr getanzt hatte.

Sie war eigentlich nicht sein Typ. So klein und dunkel und zierlich, dass man sie beinahe in die Tasche stecken konnte. Mit dieser verdammten Verletzlichkeit, die sich für ihn als lebensgefährlich erweisen sollte.

Und das ihm, der geglaubt hatte, er stünde auf Blondinen, die gut aussahen und ansonsten für sich selbst sorgten wie der Kaktus, der ihn seit seinen Studententagen begleitete.

Dankbar für das kleinste bisschen Aufmerksamkeit. Aber so war Kit natürlich nicht. Sie war eine sensible Mimose, wie seine Mutter es freundlich ausgedrückt hatte. Er selbst hatte keine Ahnung, wie eine Mimose aussah, aber er stellte sich vor, dass sie genauso unberechenbar war wie der Motor eines Alfa Romeo. So war Kit. Sie gehörte zu der Sorte, auf die man Acht geben musste.

Die Manöver durch den heillosen Weihnachtsverkehr brachten ihn ins Schwitzen.

Kit selbst hielt sich für durchschnittlich, aber alles war ja relativ. Dafür hatte sie keine Zweifel daran, dass ihr Vater das achte Weltwunder war. Die hatte er auch nicht, als er Erik Bennett traf, dessen erste Frage zu seiner Freude war: »Spielen Sie Schach?«

Denn das tat er. Fast ebenso passioniert wie Kits Vater.

Nach zwei weiteren Monaten war der Springer nur noch Geschichte und das Fahrrad gegen ein Firmenauto ausgewechselt. Seine Karriere als unorthodoxer Verkäufer bei Kaliki hatte begonnen.

Die Leute glotzten dem Amazon hinterher. Einige lachten. Andere beobachteten ihn mit Bewunderung, während er davontuckerte.

Er musste versuchen, seine Gedanken zu ordnen. Sich auf das Treffen vorbereiten. Das war natürlich schwer, und einen Moment überlegte er, ob sie bei ihrem Anruf vielleicht noch einen Hintergedanken gehabt und nicht nur außer sich gewesen war und seine Unterstützung gebraucht hatte. Aber eigentlich glaubte er das nicht, denn Kit handelte meistens impulsiv. Und es stimmte, dass er durch seinen eigenen Vater Erfahrung mit so einer Situation hatte.

Er erinnerte sich nicht gerne, weder an die Wochen im Krankenhaus noch an seine Kindheit. Er hatte seinen Vater nicht so geliebt wie Kit ihren. Aber er war zur Stelle gewesen, wie es von einem Sohn erwartet wurde. Und er hatte alles mitbekommen.

Er seufzte. Sicher konnte er helfen und ihr zur Seite stehen, was mehr als nötig sein würde. Aber er musste vorsichtig sein, denn er lebte jetzt sein eigenes Leben. Es gab Mette, mit der alles so neu war und gerade anfing, richtig gut zu werden. Mette mit den runden Formen und dem blonden Haar. Sie glich einer Fee und war letztendlich vielleicht der Kaktus, nach dem er gesucht hatte.

Kit stand draußen und rauchte. Er erkannte sie von weitem. Die ruckartigen Bewegungen, das heftige Ziehen an der Zigarette und das unablässige Schwingen des Haars von einer Seite zur anderen, als wäre sie eine entlaufene Verbrecherin, die darauf wartete, aufgegriffen zu werden. Als er parkte, sah er im Spiegel, dass sie die Zigarette schnell an der Mauer ausdrückte und sich nach einem Papierkorb umsah.

»Mutter ist drinnen«, begrüßte sie ihn, bevor er sie auch nur umarmen konnte, was vielleicht auch eine schlechte Idee war. »Alles ist so chaotisch ...«

Ihr Blick begegnete seinem. Sie hatte die Augen ihres Vaters, tief schürfend und beunruhigend in bodenlosem Blau. Aber mit einer Verletzlichkeit, die Erik Bennett bestimmt nie gekannt hatte.

Er spürte bereits die innere Unruhe, und da klammerte sie sich auch schon an ihn, wie immer.

»Er ist bewusstlos. Aber sie rechnen damit ...« Ihre Stimme brach mitten im Satz ab. Sie schluckte etwas Luft und begann noch einmal. »Sie rechnen damit, dass er irgendwann aufwacht.«

Er war nicht gut in so was. Überlegte nur, ob er den Arm um sie legen sollte. Aber bei Kit musste man vorsichtig sein und außerdem musste er auf sich selbst Acht geben. »Was ist mit Karen-Lis«, fragte er. »Kommt sie?«

Kit schüttelte den Kopf. »Wir erreichen sie nicht. Weder per Telefon noch per Fax oder E-Mail.« Sie sah ihn wütend an. »Sehr nützlich die Technik, wenn sie nicht funktioniert.«

Er lächelte. Eigentlich nur, weil das gewöhnlich eine gute Wirkung hatte. Sie lächelte zurück.

»Ich weiß, dass das Scheiße war. Einfach so anzurufen.« Sie suchte seinen Blick. Saugte sich in ihm fest. »Aber wir haben beide eine Verantwortung«, fügte sie hinzu, und er wusste, was kommen würde. »Nach all dem, was passiert ist. Mit uns beiden. Mit Karen-Lis.«

Ihr Blick sah sich interessiert suchend auf dem Parkplatz um. »Das alles hat bestimmt eine Rolle gespielt«, sagte sie vage.

Er hätte so viel sagen können. Hätte sie fragen können, warum sie ihn angerufen hatte, wenn sie doch der Meinung war, dass alles seine Schuld war. Er hätte, was das anging, auch einfach beleidigt kehrtmachen können. Aber sie konnte nichts dafür. Und vielleicht hatte sie ja auch ein klein bisschen Recht, meldete sich irgendwo in ihm eine schwache Stimme.

Vielleicht hatte er seinen Teil dazu beigetragen. Er hatte schließlich nicht nur eine Freundin, sondern eine ganze Familie verlassen. Und seine Stellung als Kronprinz aufgekündigt.

Er seufzte in der Winterluft, die feucht und klamm war. Merkte, wie er gegen seinen Willen wieder in den Topf hineingezogen wurde, hinein in den schwer verdaulichen Familientopf aus Heimlichkeiten und Liebe und seltsam widerstreitenden, in verschiedene Richtungen strebenden Gefühlen. Insgesamt etwas, das über seinen Verstand hinausging, den er ansonsten als gut funktionierend bezeichnet hätte.

»Ihr müsst Karen-Lis erreichen«, versuchte er die Dinge praktisch anzugehen. »Habt ihr es mit einem altmodischen Telegramm versucht?«

Der Gartenpavillon - Skandinavien-Krimi

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